Eine der wichtigsten Figuren der brasilianischen Literatur, der große, heute für die meisten Europäer vergessene Joaquim Maria Machado de Assis, äußerte einmal: „Doch der Größere bei diesem Buch bist du, mein Leser. Du willst schnell vorwärtskommen, aber dieses Buch ist langsam. Du liebst die gradlinige, pralle Erzählung, aber dieses Buch macht Umwege, schaut nach rechts und links, überlegt, denkt nach und lacht darüber.“ Sind seine Worte, gesetzt an den Beginn des Buches von Dieter Forte, als persönliche Widmung nach der Lektüre zu verstehen? Nein, natürlich nicht. Denn der Sohn eines Portugiesen und einer Afrikanerin starb 1908. Und doch könnte seine Feststellung als Leitmotiv über dem grandiosen Text des in Düsseldorf geborenen und seit vier Jahrzehnten in Basel lebenden Autors stehen.
Dieter Fortes Buch ist alles andere als lineares Erzählen. Handlung und Ende wird der Leser gleichfalls vermissen. Wenn man so etwas wie ein Rahmenkonstrukt erkennen könnte, dann ist dies Fortes immer wieder aufblitzende, gewählte Heimatstadt. Basel dient ihm als Gerüst und Verankerungspunkt, als Mittelpunkt und Gedankeninsel, um die herum er seine Geschichten aufbaut und ansiedelt. Er lebst fungiert allenfalls als Barde oder Jongleur, als professioneller Erzähler, der die alten Geschichten aus der Mythologie mit neuen aus der Historie des Menschen verwebt. Der bereits mehrfach preisgekrönte Autor verknüpft sie „zu einem labyrinthischen Bildteppich, der nicht zu deuten war, denn keiner kannte mehr den genauen Ablauf des Geschehenen, keiner kannte mehr die Wahrheit.“
„Das Buch war ein Labyrinth aus Labyrinthen, die aus Labyrinthen erwuchsen, aus endlosen Mäandern, Spiralen, Kreisen und Linien, deren Ende ein neuer Anfang war. Ariadnefäden aus geheimnisvollen Mustern, in denen alles nah und fern zugleich war, Geburt und Tod, Licht und Finsternis, Welt und Geist. Mosaike und Ornamente, die sich im Auge des Betrachters immer neu zusammensetzten, Fragmente, die das Einzelne und das Ganze umfassten, ohne dass einer bestimmen konnte, was das Einzelne und was das Ganze war. Eine Komposition aus Bildern und Worten, die das Chaos formte in der erfindenden Ordnung des Menschen.“ Dieter Fortes „Labyrinth der Welt“ erweist sich jedoch keineswegs als unverständliches, schwer erfassbares Lesekonvolut. Im Gegenteil. Federleicht gleitet man durch seinen Text. Doch Vorsicht! Machado de Assis hatte vollkommen recht. Schnelles Vorwärtskommen ist auch hier fehl am Platz. Man muss verweilen und noch einmal lesen, muss sich ausruhen und die Worte verinnerlichen, um der allerorts verstreuten Lichtpunkte gewahr zu werden. Um Fortes Sätze, die zuweilen eine tiefe Weisheit, Erkenntnis und unglaubliche Schönheit ausstrahlen, genießen zu können. Sätze, die man sich rahmen lassen möchte.
Der Autor erzählt die Geschichte des Menschen in fünf Kapiteln in Worten, in Bildern und im Glauben (Das verlorene Paradies / Bücher und Bilder / Was ist der Mensch? / Erzählen wir / Und wie weiter?). Dem Bibliothekar, dem Kustos und dem Prediger begegnet man immer wieder. Ein Maler und ein Autor gesellen sich zuweilen hinzu. Und natürlich der stetig präsente Narr. Fragen werden gestellt: Wie interpretiert man die Welt? Welche Begriffe sind recht und welche wahr? Leuchttürme tauchen auf und verschwinden. Nur andeutungsweise erkennt man darin bekannte Personen, die Geschichte geschrieben haben: Marie die Jüdin – Begründerin der Alchemie, Michelangelo, Shakespeare, James Joyce und viele andere mehr. Und immer wieder Basel. Die Stadt fungiert als Wissensspeicher und Grundierung.
Forte beginnt im Paradies, arbeitet sich über Mittelalter und Renaissance bis in die Gegenwart vor. Doch keine fortlaufende, stringente Handlung erwartet den Leser, sondern kurze Texte über drei, vier Seiten, die beinahe für sich stehen und sich ständig verändern, aber dennoch eine Einheit bilden, „denn die Geschichten der Menschen sind das Leben der Welt, und seine Erzählungen die immer erneute Interpretation.“ Imaginiertes Bild und Wort bilden eine untrennbare Einheit. Doch Vorsicht: Das Berechenbare enthält immer etwas Unberechenbares. Denn die „Frage nach den Dingen hinter dem Schein der Welt war des Menschen Maß, die exakte Bestimmung der Wahrheit galt als schlichte Dummheit.“
Fazit: Als intellektuelles Lesevergnügen par excellence offenbart sich Dieter Fortes „Labyrinth der Welt“: eine „Verdichtung des Nacheinanders zur Zeitlosigkeit“, ein ständiges Fragen nach den Dingen hinter dem Schein der Welt, ein Mosaik selbiger, „ein labyrinthisch gemaltes Polyptychon, das in seinen sich mehrfach überlagernden Perspektiven, ineinander verschachtelten Ebenen und vielfachen Blickpunkten die Gleichzeitigkeit der Welt zeigte, die dem Menschen gesetzte Grenze von Zeit und Raum in einem einzigen wahrhaften Augenblick aufhob“. Polyphon und kontrapunktisch wie eine Fuge. Ein wunderbarer Spielplatz der unbegrenzten Fantasie.
„Das Labyrinth der Welt, Metamorphose des Seins, finde sich da heraus, wer kann. Wohl dem, der einen Gott hat und in einem festen Glauben lebt.“
Dieter Forte
Das Labyrinth der Welt
S. Fischer Verlag (März 2013)
263 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100221184
ISBN-13: 978-3100221186
Preis: 19,99 EUR
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