Eheromane im 21. Jahrhundert – ein Vergleich mit den klassischen Ehedramen des 19. Jahrhunderts

“Sehnsucht nach Liebe ist die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam.”
(Bodo Kirchhoff, Die Liebe in groben Zügen)

„Alle glücklichen Ehen sind einander ähnlich;
jede unglückliche Ehe ist unglücklich auf ihre Art.“
(Leo N. Tolstoi, Anna Karenina)

Große Dichter verfügen in ihren Romanen über eine besondere Ausdruckskraft, mit der sie Auskunft darüber geben können, wie Ehepaare im Verlauf der Jahre ihre Liebe erleben und was sie als Paar trennt oder zusammenhält. In Eheromanen oder Liebesgedichten kann ihre Sprache und Aussagekraft treffend und umfassend beschreiben, um was es bei Ehe, Liebe und Partnerschaft geht. Bemerkenswerterweise ist die langdauernde Ehe ein zentrales Thema zahlreicher eindrucksvoller Romane des 21. Jahrhunderts. Einer der berühmtesten Eheromane überhaupt – Anna Karenina von Leo Tolstoi – beginnt mit dem legendären ersten Satz: „„Alle glücklichen Ehen sind einander ähnlich; jede unglückliche Ehe ist unglücklich auf ihre Art.“
Seit Tolstoi ist eine gewisse Sensibilität unter Romanlesern und Literaturwissenschaftlern gewachsen, mit welchem Satz ein Roman beginnt. Der zeitgenössische, in Frankfurt lebende Schriftsteller Bodo Kirchhoff fand für seinen Roman einen ersten Satz, der durchaus ins 21. Jahrhundert passt: „Sehnsucht nach Liebe ist die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam.”
Mit diesem Satz beginnt sein Eheroman „Liebe in groben Zügen“, der im Jahr 2012 erschienen ist. In diesem Präludium seines Ehedramas schwingt Hoffnung mit, aber es folgt auch der Hinweis auf eine „schwere Krankheit“. Damit offenbart sich bereits im ersten Satz die Dialektik, die Liebes- und Paarbeziehungen so schwierig macht. Und doch ist dieser Satz schlicht genial. Bleiben wir im 21. Jahrhundert. Einer der erfolgreichsten zeitgenössischen Schriftsteller Europas – David Nicholls – hat mehrere moderne Liebes- und Eheromane geschrieben. Hohe Literaturpreise und Weltbestseller-Auflagen im Millionenhöhe spiegeln diesen Ruhm. In seinem im Jahre 2014 erschienener Roman „Drei auf Reisen“ weckt die weibliche Protagonistin Connie nachts ihren Ehemann auf und sagt: „Ich habe das Gefühl, unsere Ehe ist am Ende, Douglas. Ich glaube, ich will dich verlassen.“ So fängt der Roman an – welch ein aufsehenerregender Auftakt! Beide Eheromane haben gemeinsam, dass die beschriebenen Paare seit 20 bis 30 Jahren verheiratet sind, Kinder haben und in eine Krise geraten: ein Schwinden der Liebe in der alternden Paarbeziehung, die „in die Jahre gekommen ist“ und an der der „Zahn der Zeit nagt“. Das, was zu Zufriedenheit und Glück fehlt, das ungelebte Leben, stimuliert die Anfälligkeit für andere Liebesmöglichkeiten. Genau an diesem archimedischen Punkt der Langzeitpaare setzen die modernen Liebes- und Eheromane an. Wo ist die Liebe hingegangen, wenn sie vergangen ist? Wodurch schwindet das Begehren zwischen den Liebespartnern und welche Ausgleichsbewegungen findet das Paar für diesen Verlust? Antworten auf diese Fragen liefern uns bevorzugt jene Wissenschaften, die sich mit Liebe, Partnerschaft, Ehe und Sexualität beschäftigen. Diese könnten Erkenntnisse liefern, was sich in der Welt des Liebens seit Anna Karenina oder Effie Briest verändert hat.
Dieser Vergleich soll zeigen, wie stark sich die Beziehungswelten verändert haben, insbesondere wie stark sich die Mann-Frau-Beziehung verändert hat.Ein Vergleich der vier großen Eheromane aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Eheromanen des 21. Jahrhunderts erscheint sehr aufschlussreich. Etwa 150 Jahre liegen dazwischen. Alle hier genannten Romane beziehen sich auf Ehepaare, die schon lange zusammenleben und in eine schwierige Ehekrise geraten. Die vier wohl berühmtesten Romane zu diesem Thema stammen von Gustave Flaubert („Madam Bovary“), Leo Tolstoi („Anna Karenina“), Theodor Fontane („Effie Briest“) und Henrik Ibsen („Hedda Gabler“). Die beiden erstgenannten Romane verdienen schon fast den Begriff Epos, da sie je nach Ausgabe mehr als 1000 Seiten umfassen. Was ist das Gemeinsame dieser vier berühmten Eheromane? In allen Romanen bricht die Ehefrau aus. Sie ist unzufrieden in der Ehe und lässt sich auf eine sexuelle Affäre ein, die auffliegt. Es kommt zum Konflikt und Zerwürfnis. In allen vier Fällen bringt sich die Frau selbst um: Madame Bovary nimmt Gift. Anna Karenina wirft sich vor einen Zug und verübt damit den ersten Schienensuizid der Literaturgeschichte. Effie Briest geht vereinsamt in jungen Jahren körperlich zu Grunde und Hedda Gabler erschießt sich. Als Vergleich sollen uns Eheromane aus dem 21. Jahrhundert dienen: „Fliehkräfte“ und „Gegenspiel“ von Stephan Thome, „Alles über Sally“ von Arno Geiger, „Drei auf Reisen“ von David Nicholls und „Liebe in groben Zügen“ von Bodo Kirchhoff. In allen fünf Eheromanen werden Ehepaare beschrieben, die wohlsituiert sind, gut verdienen, in Wohlstand leben, Kinder haben und meist bereits 20 bis 30 Jahre zusammenleben. Wie in den vier Eheromanen des 19. Jahrhunderts sind auch hier alle Romanautoren männlich. Im 21. Jahrhundert erfolgen ebenfalls alle Ausbruchsversuche aus der Ehe durch die Frau. Der entscheidende Unterschied ist jedoch: kein Roman endet tragisch. Es kommt zu keiner Trennung. Die Paare bleiben zusammen und arrangieren sich neu. Glücklich wirken die Paare der Postmoderne am Ende des Eheromans nicht. Die moderne Frau muss offensichtlich nicht mehr Selbstmord begehen. Sie findet stattdessen einen Kompromiss, mit dem das Paar leben kann. Ob dies wohl auch im wirklichen Leben so laufen wird? Ein Blick in die Tageszeitungen zeigt, dass in der gelebten Wirklichkeit tragische Verläufe nicht selten sind. Die wissenschaftliche Forensik lehrt, dass heutzutage immer noch etwa ein Drittel der Fälle von Mord oder Totschlag an Frauen vom aktuellen oder Ex-Intimpartner verübt werden. Und Suizide nach Trennungen oder Scheidungen kommen ebenfalls häufig vor. Hinkt also die Wirklichkeit zwischen der Vision moderner Romanciers hinterher? Das 21. Jahrhundert hat erst begonnen und die Frage bleibt offen.

Literatur:
Geiger, Arno, Alles über Sally, Carl Hanser München 2010
Kirchhoff, Bodo, Die Liebe in groben Zügen, Frankfurter Verlagsanstalt 2012
Nicholls, David, Drei auf Reisen, Kein & Aber Zürich 2014
Thome, Stephan, Fliehkräfte, Suhrkamp Berlin 2012
Thome, Stephan, Gegenspiel, Suhrkamp Berlin 2015

Über Herbert Csef 153 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.

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