Das Buch ist schwer wie eine Bibel, und es verkündet auch eine „frohe Botschaft“, die da lautet: Walter Ulbricht war ein guter Mensch und ein großer Staatsmann! Wer anders denkt oder gegenteilige Erfahrungen gemacht hat, der wird von Egon Krenz auf 608 Seiten darüber belehrt, dass er sein antiquiertes Geschichtsbild schleunigst revidieren sollte.
Mit einem schrecklichen Vorwort, von dem jedes Komma widerlegt werden kann, versucht Egon Krenz, 1937 als Sohn eines Schneiders in Kolberg/Pommern geboren und heute als Rentner in Dierhagen/Ostsee lebend, die Leser auf seine Sicht der DDR-Geschichte und des segensreichen Wirkens des Genossen „Wulbricht“ (Herbert Wehner) einzustimmen. Im Auftrag des Verlags, eines florierenden Unternehmens der DDR-Nostalgie-Industrie, habe er, so erfährt man, zum 120. Geburtstag Walter Ulbrichts am 30. Juni und zum 40. Todestag am 1. August mit „Weggefährten“ gesprochen, „die ihn noch aus eigenem Erleben kennen.“
Die DDR, so liest man im ersten Absatz, war „auf jeden Fall anders“, als sie heute „von bestimmten Behörden“ im vereinigten Deutschland gezeichnet wird, die „beauftragt sind“, sie „als ein großes Gefängnis darzustellen“. Soll man diesen wirklichkeitsblinden Unsinn, den der einstige SED-Generalsekretär, der im Herbst 1989 nur knapp sieben Wochen im Amt war, hier als Geschichtsbild anbietet, überhaupt zur Kenntnis nehmen? Weiterhin wird dem ahnungslosen Leser, der die 40 DDR-Jahre nicht miterlebt hat, weisgemacht, dass Walter Ulbricht, der Hunderttausende seiner Untertanen zur Flucht nach Westberlin getrieben und in der Nacht zum 13. August 1961 die Berliner Mauer gebaut hat, „überzeugter Gegner einer Teilung Deutschlands“ gewesen wäre. Der nachfolgende Satz: „Er wollte immer das ganze Deutschland.“ ist verräterisch, übersetzt heißt das: Übertragung der DDR-Verhältnisse auf die westdeutsche Demokratie, also ein sozialistisches Gesamtdeutschland nach Stalinschem Muster. Egon Krenz drückt das feiner aus: „antifaschistisch, demokratisch und sozial gerecht“ sollte es sein!
Weiterhin wird, bar jeder Geschichtskenntnis, behauptet, die Sowjetmacht hätte es 1945 abgelehnt, „Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen“. Es war genau umgekehrt, wie man in Wolfgang Leonhards Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ (1955) nachlesen kann. Und schließlich wird noch der harte Vorwurf gegen die Berliner Republik erhoben, die 70 „Weggefährten“ Walter Ulbrichts, die hier befragt wurden, litten „bettlägerig, aber ungebrochen“ unter der staatlich verordneten „Strafrente“ und könnten nicht einmal „Pflege- und Seniorenheim“ bezahlen. Da kann man nur anmerken: Wer im „Klassenkampf“ ergraut ist, sollte nicht jammern!
Von „bettlägerigen Weggefährten“ wird man nur in beschränktem Umfang sprechen können. Zumindest der linke Schreihals Diether Dehm (1950) aus Frankfurt/Main, der, was inzwischen gerichtsnotorisch ist, 1971/78 der „Staatssicherheit“ als „inoffizieller Mitarbeiter“ gedient hat und trotzdem seit 2005 für seine Partei im Bundestag sitzt, ist keiner. Er hat Walter Ulbricht nie gesehen, wettert gegen die „Schreibsöldner des Kapitals“ und argumentiert auf unterstem Niveau. Auch die drei sowjetrussischen „Freunde“, die hier schreiben, darunter der 1926 geborene Diplomat Valentin Falin, der als Mitglied der „Sowjetischen Kontrollkommission“ 1950/51 in Ostberlin lebte, gehören nicht in die stattliche Reihe der dahinsiechenden „Weggefährten“.
Sie waren, mit Verlaub, die Befehlsgeber der SED-Führung, deren Anordnungen sich Walter Ulbricht kaum entziehen konnte. Auch westdeutsche Kommunisten, wie der 1929 geborene DKP-Vorsitzende Herbert Mies, waren keine „Weggefährten“. Sie hatten sich, auch wenn nach außen der Schein gewahrt wurde, den Befehlen des SED-Politbüros unterzuordnen, sonst wären ihnen die millionenschweren Zuwendungen aus Ostberlin gestrichen worden.
So bleiben lediglich Dutzende von Aufsteigern aus der „neuen Klasse“ (Milovan Djilas) der Berufsrevolutionäre, die neben und mit Walter Ulbricht von der Siegermacht Sowjetunion mit hohen Machtbefugnissen ausgestattet wurden. Sie waren die Nutznießer des Systems, die unerhörte Privilegien genossen, wofür sie mit bedingungsloser Unterwerfung zu zahlen hatten.
Egon Krenz hat sein umfangreiches Buch in 15 Abschnitte aufgegliedert, die je einem Sektor Ulbrichtscher Politik zugeordnet sind. Bei den Überschriften freilich weiß der Leser oft nicht, was gemeint ist. So steht „Wurzeln“ für die Biografie vor 1945, das harmlose Wort „Landschaftsgestaltung“ für die unerbittliche Landwirtschaftspolitik, mit „Kunststück“ ist die „Kulturpolitik“ gemeint, mit „Weltläufigkeit“ die Außenpolitik und mit „Kreuzgang“ das schwierige Verhältnis zur Evangelischen Kirche. Warum der Herausgeber so verfährt, ist unersichtlich. Vor allen Interviews oder selbstverfassten Beiträgen stehen die Lebensdaten der Autoren in Stichworten, wobei sämtliche Stasi-Verstrickungen getilgt und Berufsangaben oft gefälscht sind: Wer, wie Siegfried Prokop (1940), einst nur DDR-Geschichte gelehrt hat, darf sich heute „Professor für Zeitgeschichte“ nennen. Wer früher, wie Alfred Kosing (1928), den „Dialektischen Materialismus“ vertreten hat, firmiert heute als „Philosoph“. Das Buch ist durchzogen von Bildern, die Walter Ulbricht in allen Lebenslagen zeigen: im Staatsrat, in der Bauakademie, beim Tanzen, bei der Gymnastik, mit Angela Davis, mit Jungaktivisten, mit Jungpionieren, mit Mansfeld-Kumpels unter Tage, auf Dampferfahrt, auf der Leipziger Messe.
Aufschlussreich ist nicht, wer alles in diesem Buch vertreten ist (die Mehrzahl ist westdeutschen Lesern ohnehin unbekannt!), sondern wer nicht aufgenommen wurde und welche Ereignisse nicht genannt werden. So kommt, außer bei Manfred Wekwerth, dem Regisseur, der Aufstand des 17. Juni 1953, bei dem Walter Ulbricht eine klägliche Rolle spielte, nicht vor. Da wäre der selbsternannte „Arbeiterführer“ von den aufbegehrenden Arbeitern fast gestürzt worden. Und Beiträge von geflohenen Dissidenten wie Wolfgang Leonhard (1921), Gerhard Zwerenz (1925), Wolf Biermann (1936) waren wohl nicht zu erwarten gewesen. Was hätte wohl der Gegenspieler Paul Merker (1894-1969) geschrieben, den Walter Ulbricht 1952 für acht Jahre ins Zuchthaus werfen ließ?
Berühmte Namen fehlen freilich nicht: Täve Schur (1931) ist dabei, der Radrennsportler aus Magdeburg, über den Uwe Johnson (1934-1984) den Roman „Das dritte Buch über Achim“ (1961) geschrieben hat; von Elfriede Leymann (1928), Emerita für Verwaltungsrecht in Ostberlin, erfährt man, dass Walter Ulbricht einen älteren Bruder Erich hatte, der nach New York ausgewandert war, und eine Schwester Hildegard in Westdeutschland. Vater Ernst Ulbricht aus dem Leipziger „Nauendörfchen“ war Schneidermeister, also Kleinbürger, nichts da von „revolutionärer Arbeiterklasse“!
Selbstverständlich darf auch die 1927 in Halle geborene Ex-Ministerin Margot Honecker nicht fehlen, die bei der DDR-Bevölkerung verhasst war, heute aber im fernen Chile eine üppige Rente aus dem „kapitalistischen“ Deutschland bezieht und hier ihre gewohnten Plattheiten über den SED-Staat abgibt. Da ist das, was der Schriftsteller Hermann Kant (1926), auch er ein Nutznießer des Systems, zu sagen hat, weit bewegender: Er mochte Walter Ulbricht nicht und begründet das auf vier Seiten!
Obwohl Egon Krenz, wie er im Vorwort betont, keine Idealisierung Walter Ulbrichts anstrebte, so ist das Buch doch eine Huldigungsschrift des 1973 verstorbenen Parteiführers geworden. Für die DDR-Forschung wäre es deshalb auf weite Strecken wertlos und unbrauchbar, wenn es nicht immer wieder Passagen gäbe, die den Leser erschauern lassen. Beispielsweise dort, wo es um innerparteiliche Auseinandersetzungen geht, „Fraktionsbildungen“ genannt, die mit hohen Zuchthausstrafen geahndet, in diesem „sozialistischen Hausbuch“ aber verharmlost werden.
Egon Krenz (Herausgeber): „Walter Ulbricht. Zeitzeugen erinnern sich“, Verlag „Das Neue Berlin“, Berlin 2013, 608 Seiten, Euro 24.99
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