„Alles, was wir von der Vergangenheit aussagen, sagen wir von uns selbst aus“
Abstract
Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit ist namentlich beinahe allen bekannt, denen europäische Geschichte am Herzen liegt. Trotzdem wird sie nur selten gelesen. Einige Extravaganzen des Urteils, der episierende Zug sind vielen suspekt. Wir meinen jedoch, Friedells überragende Leistung ist gültig geblieben. Sie setzt bis heute Standards für ‚Dichtung und Wahrheit’ der Historiographie.
Kulturgeschichte der Neuzeit
Vor achtzig Jahren, 1927, erscheint bei Beck in München die Kulturgeschichte der Neuzeit, des Wiener jüdischen Theatermanns, Dramatikers und Polyhistors Egon Friedell magnum opus, eines der glanzvollsten Beispiele literarisch ambitionierter Geschichtsschreibung bis auf den heutigen Tag. An schriftstellerischer Brillanz, überbordender Sprachmacht und suggestiver Kraft der Vergegenwärtigung (sei es die „Große Pest“, sei es Darwin), an allumfassender Bildung und ordnender Kraft der Synthese, an Sicherheit und Unbefangenheit des Urteils, an Sinn fürs Edle und wunderkammerhaft Bizarre, auf all diesen Feldern ist Egon Friedell kaum je übertroffen worden. Die epische Weite, die Farbenpracht, die Zartheit und Wucht seiner Prosa treten in jeder Zeile hervor:
„Während die Barockkultur sich anschickt, ihre ersten dunklen Blüten zu entfalten, sieht man in einem östlichen Winkel Mitteleuropas einen wilden Krieg aufflammen, der, an plötzlichen Zufällen entzündet und doch aus den tiefsten Untergründen der Zeitseele hervorbrechend, sogleich gierig weiter rast, sich unaufhaltsam in den halben Erdteil hineinfrißt und, launisch bald hier, bald dort emporlodernd, Städte, Wälder, Dörfer, Felder, Kronen, Weltanschauungen in Asche legt, schließlich aber nur noch seinem eigenen Gesetz gehocht, indem er wahllos überallhin züngelt, wo er noch Nahrung vermutet, bis er eines Tages ebenso rätselhaft verlischt, wie er entbrannt war, als einzige große Veränderung nichts hinter sich lassend als eine ungeheure gespenstische Leere: zerbrochene Menschen, beraubte Erde, tote Heimstätten und eine entgötterte Welt.“ (Friedell 1976, 411)
Das ist keineswegs der bestgefügte, dichteste Satz in der Kulturgeschichte. Doch welcher andere Prosaist vermöchte diesen Reichtum der Anschauung und des Gedankens erzählend zusammenzuraffen? (Schumanns Wort von der „himmlischen Länge“ kommt in den Sinn.) Man müsste Thomas Mann bemühen… Es nimmt nicht Wunder, dass ausgerechnet er Friedell so bewundert. Was immer man vorbringen mag, alle Bedenken nehmen sich aus wie philiströse Mäkeleien, angesichts solcher literarischen Potenz:
„Einer der Grundzüge des Geschlechts, das damals [während des Dreißigjährigen Krieges] lebte, war eine Verzwicktheit und Umständlichkeit, Direktionslosigkeit und Gedankenflucht, die ihresgleichen sucht: wir wissen bereits, daß eine derartige Chaotik und seelische Labilität in einem gewissen Grade das Merkmal aller Zeitalter bildet, in denen sich Neues vorbereitet. Trat hiezu nun noch die Desperadoroheit und hemmungslose Amoralität, die der damaligen Generation ebenfalls in seltenem Maße eigen war, so war es ganz unvermeidlich, daß das schauerlich-grotestke Monstrum dieses bestialischen, blindwütigen, endlosen und prinzipienlosen Krieges entstand, der ein Menschenalter lang fraß, um zu fressen, und nicht begreifen läßt, warum er anfing, warum er aufhörte und warum er überhaupt auf der Welt war.“ (Ebd., 413)
Ob man Friedell nun folgen mag oder nicht: Das ist Prosa, wie Gott sie (sonntags) träumt… So kernig, so lebhaft hat kein zweiter zu schreiben vermocht, vielleicht selbst Nietzsche nicht.
Nicht, dass Friedell allein als Stilist glänzt: Er ist ein Meister der großen Ideengeschichte. Doch auch die Anekdote bringt er zur Geltung. Das ist kein Widerspruch:
„Unser Werk macht den Versuch, einen geistig-sittlichen Bilderbogen, eine seelische Kostümgeschichte der letzten sechs Jahrhunderte zu entwerfen und zugleich die platonische Idee jedes Zeitalters zu zeigen, den Gedanken, der es innerlich trieb und bewegte […]“ (Ebd., 28)
Nicht, dass die Anekdote der Erbauung oder Belustigung dient. Sie ist Erkenntnismittel. Im Abseitigen und Alltäglichen bringt Friedell ein Zeitalter entlarvend zur Kenntlichkeit. Aus Quisquilien schlägt er mühelos Funken:
„Das Pudern, das zur vornehmen Toilette unerläßlich war, ob es sich um eigenes oder um falsches Haar handelte, war eine äußerst schwierige Prozedur: man schleuderte gewöhnlich den Puder zuerst gegen die Zimmerdecke und ließ ihn von da auf den Kopf herabrieseln, das Gesicht schützte man dabei durch ein Tuch. Kaunitz pflegte des Morgens durch ein Spalier von Lakaien zu schreiten, die ihn möglichst gleichmäßig bestäuben mußten. Graf Brühl besaß fünfzehnhundert Perücken, die dauernd unter Puder gehalten wurden: „viel für einen Mann ohne Kopf“ sagte Friedrich der Große.“ (Ebd., 577)
Gewiss, manches befremdet den heutigen Leser. Nicht immer kann (und will) Friedell seine Zeitgenossenschaft verleugnen. Wer wagte es heute, ganz ohne Genanz das Loblied „großer Männer“ zu singen, der „eigentliche[n] Schlüssel jedes Zeitalters“ (ebd., 28)? (Hätte Friedell es selber zehn Jahre später gewagt, im Angesicht Hitlers und Stalins?) Wer wollte Spenglers Kulturpessimismus mit Friedell noch überbieten? Auch zögern wir, „die ganze Welt […] für den Dichter geschaffen“ (ebd., 4) zu denken. Friedells emphatischer Idealismus muss uns bedenklich stimmen: Einzig Ideen treiben, so glaubt er, Geschichte voran. (NB: Bei aller Zuspitzung sind Friedells Resümees philosophischer Lehren – ob es Bruno ist oder Kant – akkurat und präzise. Sie treffen ins Schwarze.)
„Denn was sind […] Tonfolgen und Schlachtordnungen, Röcke und Reglements, Vasen und Versmaße, Dogmen und Dachformen anderes als geronnene Zeitphilosophie?“ (Ebd., 24)
Das wird nicht jeder teilen wollen. Doch darin erweist sich die Größe des schöpferischen Wurfs, dass solche Bedenken verblassen. Als Ganzes bleibt die Kulturgeschichte bestehen. Im Übrigen: So ‚unmodern’, wie er scheinen mag, ist Friedell keineswegs. Den ‚Konstruktivisten’ (und Hayden White, dem Gottseibeiuns ‚realistischer’ Geschichtswissenschaft) steht er in gar nichts nach – im Gegenteil:
„Der Unterschied zwischen dem Historiker und dem Dichter ist in der Tat nur ein gradueller. […] Alles, was wir von der Vergangenheit aussagen, sagen wir von uns selbst aus. Wir können nie von etwas anderem reden, etwas anderes erkennen als uns selbst. Aber indem wir uns in die Vergangenheit versenken, entdecken wir neue Möglichkeiten unseres Ichs, erweitern wir die Grenzen unseres Selbstbewußtseins, machen wir neue, obschon gänzlich subjektive Erlebnisse. Dies ist der Wert und Zweck alles Geschichtsstudium.“ (Ebd., 15ff)
Wer wagte es heute, so freigeistig unbefangen zu schreiben, auch nur: zu denken? Unbeleckt von des ‚Gedankens Blässe’, von methodologischen Skrupeln? Dass Geschichtsschreibung, heute wie damals, zu den erzählenden Genres zu rechnen ist, sich wenigstens am Rande der Literatur einordnet, wird gleichwohl keiner bestreiten. Dass die ‚Altvordern’ – ein Ranke, ein Burckhardt – große Dichter waren, wer wollte es leugnen? Theodor Mommsen wird der Nobelpreis für Literatur zuerkannt, für seine Römische Geschichte. Aber auch in der Gegenwart legen Historiker Wert auf die Darstellungsform (mehr als Soziologen und Juristen beispielsweise). Jacques Le Goff oder Joachim Fest wären zu nennen, Golo Mann oder Sebastian Haffner. Sie führen vor, dass Stilgefühl und Forscherernst zusammengehen. Auf Wissenschaftsjargons verzichten, heißt keineswegs simplifizieren, geistiger Plumpheit verfallen. Nicht, dass man Knittelverse schreiben soll. Doch auch der klügste Gedanke kann nur gewinnen, wenn er rhythmisch, ja lautlich exakt artikuliert wird. (Wenn wir ‚konstruktivistisch’ die Kontingenz und Fehlbarkeit aller ‚Erkenntnisse’, aller ‚Inhalte’ einsehen, dann tritt Wert der Form noch deutlicher hervor.) Friedell geht selbstverständlich noch weiter. Er steht nicht an, sämtliche Werke der Geschichtswissenschaft genial übertreibend als Werke der Dichtkunst hinzustellen:
„Die zünftigen Gelehrten pflegen allerdings alle historischen Werke, die sich nicht mit dem geistlosen und unpersönlichen Zusammenschleppen des Materials begnügen, hochnasig Romane zu nennen: Aber ihre eigenen Arbeiten entpuppen sich nach höchstens ein bis zwei Generationen ebenfalls als Romane, und der ganze Unterschied besteht darin, daß ihre Romane leer, langweilig und talentlos sind und durch einen einzigen „Fund“ umgebracht werden können, während ein wertvoller Geschichtsroman in dem, was sein tiefere Bedeutung ausmacht, niemals überholt werden kann.“ (Ebd., 16)
Nicht allein epische, auch rhetorische und theatrale Suggestion steht Friedell zu Gebote: Das retardierende Moment nicht weniger als die dramatische Raffung. Niemand anderem als Max Reinhardt ist die Kulturgeschichte gewidmet… (Ein ‚Dilettant’ ist Friedell allerdings nicht – Philosophie und Naturwissenschaften hat er studiert, in Heidelberg und Berlin.) Zuweilen kreiert er unnachahmlichen ‚Drive’. Die Bewegtheit seiner Prosa scheint dem Vorwärtsdrängen des historischen Geschehens zu entstammen. Wie nebenbei wird die Frage gelöst, wie es möglich sei, kohärente, enzyklopädische Darstellungen der menschlichen Verhältnisse zu verfertigen – bei klarem Bewusstsein der Widersprüche, die im Detail und im Ganzen enthalten sind. („…daß dies alles eben darum in einer Art wahr ist, weil es in einer Art falsch ist.“ Dieses Wort des Augustinus ist Friedells Motto.) Die Kulturgeschichte ist die Antwort jener Frage. Universalgeschichte ist möglich (wenngleich nur als Dichtung). Dass diese Hoffnung bestätigt wird, ist der schönste Gewinn der Lektüre.
Die folgenden Zeilen sind auf Francis Bacon gemünzt. Sie enthalten zugleich Friedells Selbstcharakteristik:
„Er besaß das Geheimnis, Farbigkeit mit Durchsichtigkeit und Fülle mit Klarheit zu verbinden. Was seine Feder beschrieb, das umriß sie mit unvergeßlich scharfen und leuchtenden Zügen. Schon von den Parlamentsreden des jungen Bacon sagte Ben Jonson, ihre Urteile seien so anmutig und leicht, ihre Gedanken so streng und durchgearbeitet gewesen, daß er die Aufmerksamkeit aller Zuhörer fortwährend spannte und jeder den Augenblick fürchtete, wo er aufhören werde.“ (Ebd., 397)
Egon Friedell
In den Dreißiger Jahren wird Friedell eine Kulturgeschichte des Altertums in Angriff nehmen. Sie bleibt unvollendet. Die Umstände sind nicht danach, zumal unter dem Austrofaschismus. Er sei „in jedem Sinne reisefertig“, gibt Friedell zu verstehen. Als die Gestapo vorspricht, wenige Tage nach Österreichs „Anschluss“, stürzt er sich aus dem Fenster. Dabei versäumt er nicht, die Passanten zu warnen: „Treten sie zur Seite!“ Ist es Humor? Ist es Rücksicht? Jedenfalls Größe…
Die Kulturgeschichte der Neuzeit liegt seit 1976 in zwei Bänden beim Deutschen Taschenbuch Verlag vor. Dort sind auch Kulturgeschichten Ägyptens und Griechenlands erschienen.
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