Eberhard Grisebach und Friedrich Gogarten – Anmerkungen zu einerArbeitsgemeinschaft

In seinem 1929 in der Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“ veröffentlichten Artikel „Brunners Verteidigung der Theologie“ bemerkt E. Grisebach [1] gegenüber einer von Brunner unterstellten Schülerschaft Friedrich Gogartens:

„In dieser Hinsicht muß das kritische Denken offen seinen Mißerfolg eingestehen. Denn z.B. Gogarten wurde in dieser, der einzigen von der kritischen Philosophie angebotenen Wahrheit, kein `Schüler' […] Die Voraussetzung geistesgeschichtlicher Erinnerung ist bei Gogarten ein zwar noch nicht ganz geklärtes, aber deutlich auf die Geschichtsphilosophie Schelling-Heideggers tendierendes existentielles Apriori.“2

Es mag zunächst noch offen bleiben, worin die Wahrheit besteht, die Grisebach Gogarten angeboten hatte. Offensichtlich ist jedoch, nimmt man die zitierte Passage ernst, daß diese Wahrheit des kritischen Denkens bei Gogarten einen schwachen Resonanzboden fand. Grisebach konstatiert hier den Mißerfolg eines Diskurses, der zehn Jahre zuvor, im Jahre 1919, zwischen ihm und Gogarten begann.

In den folgenden Überlegungen möchte ich diesem Diskurs etwas nachspüren, einige Linien nachzeichnen und den Punkt herausarbeiten, der Gogartens Theologie in das von Grisebach konstatierte existentielle Apriori tendieren ließ. Freilich ist es ein Grisebach, der zu der kritischen Einsicht gelangt ist, daß Wahrheit und Wirklichkeit nicht identisch sind. Wichtig scheint mir hierbei jedoch zu sein, daß es gerade auch das intensive Gespräch mit Gogarten war, welches zu dieser kritischen Einsicht Grisebachs geführt hat.

Grisebach und Gogarten kannten sich seit 1919 und führten vom 14. Mai 1921 bis zum 11. Juli 1922 einen Briefwechsel, der das Verhältnis von Theologie und Philosophie klären sollte.

An den Ausgangspunkt meiner Überlegungen möchte ich diesen Briefwechsel stellen. Es kann in einem Artikel in der TABVLA RASA freilich nicht darum gehen, diesen Briefwechsel erschöpfend zu analysieren. Ich möchte lediglich durch ein formales Modell die Grundstruktur dieses Dialoges herausarbeiten, gewissermaßen den common sense, um zu zeigen, welche Konsequenzen von Grisebach und Gogarten daraus gezogen wurden.

In einem zweiten Schritt möchte ich Gogartens theologische Position aus dem Jahre 1927 in ihren Grundzügen darlegen, freilich ohne den Anspruch, hier Erschöpfendes sagen zu wollen. Ich werde mich hier im wesentlichen auf seinen Habilitationsvortrag beziehen, der den Titel trägt `Theologische Tradition und theologische Arbeit. Geistesgeschichte oder Theologie?'. Grisebach wird Gogarten zwei Jahre später den Einwand machen, daß er tendentiell Geistesgeschichte betreibe. Da Gogarten in seinem Vortrag von 1927 gerade daran orientiert ist, eine theologische Konzeption auszuarbeiten, die keine geistesgeschichtlichen Voraussetzungen macht, scheint es gerechtfertigt, diesen Vortrag zu analysieren und auf seine Differenzen zum Denken Grisebachs hin zu befragen.

In seinen Arbeiten, die nach 1926 entstanden sind, schweigt Gogarten in bezug auf seinen damaligen Gesprächspartner. Nur 1929 nennt er ihn in einer Rezension von K. Barths `Christlicher Dogmatik im Entwurf' im Zusammenhang einer Kritik an H. M. Müller, der 1928 Barths Dogmatik rezensiert hatte. Diesem Zusammenhang, der mit der Frage verbunden ist, warum sich Gogarten von Grisebach abwendete, möchte ich in einem dritten und abschließenden Punkt nachgehen.

1. Der Briefwechsel zwischen Grisebach und Gogarten

Der von Grisebach und Gogarten geführte Briefwechsel versucht das Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie aus den Perspektiven von Philosophie und Theologie zu klären. Getragen ist dieser Diskurs von der Einsicht in die Perspektivität unseres Denkens, und d.h. von dem Sachverhalt, daß sich das Verhältnis von Philosophie und Theologie aus der Perspektive der Philosophie anders darstellt als aus der Perspektive der Theologie. Diese Perspektivität ist nun nichts anderes als der Ausdruck für die Endlichkeit des Denkens und die uns damit nicht zur Verfügung stehende Perspektive des Absoluten. Sind wir vom Absoluten ausgeschlossen, so haben wir zwar nicht die Metaperspektive des Absoluten, aber damit ist jedoch noch nichts darüber ausgesagt, welche Bedeutung das sich dem Endlichen entziehende Absolute für dieses Endliche hat. Nimmt man das Absolute in diesem Sinne in Anspruch, so ist auf Grund der genannten Perspektivität von Philosophie und Theologie klar, daß das Absolute in beiden Perspektiven unterschiedlich zur Darstellung kommen muß.

Auf die eigentümliche Perspektivität der Philosophie weist Grisebach in seinem zweiten Brief an Gogarten vom 4. Juni 1921 hin, wenn er schreibt: „Jedes philosophische System, das einen Begriff der Welt anbietet und deshalb in der Sphäre des umfassenden Gedankens bleiben muß, setzt eine unendliche Erfahrung, ein Erlebnis voraus, das sich gedanklich als Nichtwissen und Fragen nach einer transzendenten absoluten Gegebenheit darstellt.“ (10) [3]

In der zitierten Stelle spricht Grisebach von einer Differenz der Sphäre des umfassenden Gedankens und einem Erlebnis als Nichtwissen. Diese Differenz kann man verstehen als Differenz von Faktizität und Reflexion, die für jedes Denken konstitutiv ist und welche in jedem Gedanken schon in Anspruch genommen ist. Freilich ist diese Differenz dem lebensweltlichen Wissen nicht bewußt, da sie sich nur in der philosophischerseits getätigten Reflexion erschließt. Vergegenwärtigt sich nämlich in der Reflexion das Denken selbst, so stößt es auf den paradoxen Sachverhalt, daß es sich in dieser Reflexion immer schon in Anspruch nehmen muß und damit die Faktizität seiner selbst nicht wieder durch die Reflexion erschließen kann. Da die Philosophie in ihrem Vollzug diese Faktizität des Denkvollzuges immer schon beanspruchen muß, und diese nicht mit der Reflexion oder dem Begriff zur Deckung kommt, so ist dies ein Indiz dafür, daß das Absolute des Wissens dem Wissen immer entzogen ist und bleibt. Die Philosophie kann daher nur nach dem Absoluten fragen. Ihr Fragen nach dem Absoluten weiß jedoch um die Differenz von Faktizität und Reflexion und um die Nichtreduzierbarkeit beider Aspekte.

Die hier angedeutete Unergründbarkeit des Denkens für das Denken besagt nun, daß es sich immer schon als gegeben hinnehmen muß, da es sich selbst nicht begründen kann. Dies bedeutet jedoch im Verständnis Grisebachs, daß es glauben muß, wobei dieser Glaube die bleibende Verborgenheit des Denkvollzuges als Grund des Denkens namhaft macht. Damit meldet sich in der Philosophie eine Dialektik von Wissen und Glauben.

Als Strukturform der Philosophie ergibt sich somit eine Differenz von Faktizität und Reflexion, die sich durch die Reflexion erschließt.

Doch wie sieht nun die strukturelle Verfaßtheit der Theologie aus, und wie unterscheidet sie sich von der Philosophie? In dem schon zitierten Brief bemerkt Grisebach: „Der Gegensatz tritt erst hervor, wenn der Denkende an die Lösung seiner Aufgabe im System herangeht, wenn er vom Gedanken aus die Beziehung sucht, während der Gläubige vom Standpunkt der Gegebenheit und der Offenbarung ausgeht.“ (11)

Der Gläubige, so Grisebach in dem Zitat, geht nicht von der Reflexion aus, um auf die Differenz von Faktizität und Reflexion zu stoßen, sondern vielmehr geht er von der Faktizität der geschehenen Offenbarung aus. Gleichwohl meldet sich auch hier das Problem der Reflexion, denn der Gläubige beansprucht immer schon Reflexion, sofern er seine Position von der Position der Offenbarung unterscheidet. Und ebenso kann auch die Theologie sich nur qua Reflexion vom gelebten Glaubensvollzug unterscheiden, indem sie diesen als Relation von Offenbarung und Glaube thematisiert. Kommt also die binnentheologische Ausdifferenzierung nicht ohne Reflexion aus, so gilt dies ebensosehr für die faktisch immer schon mitthematisierte Außenperspektive. Denn thematisiert die Theologie die Relation Gott Mensch als Glaubensrelation, so vollzieht sie hierin schon eine Selbstunterscheidung von der Philosophie, in der diese Relation als eine Relation des Wissens zur Sprache kommt.4

Damit treten Philosophie und Theologie in die wechselseitige Bezogenheit einer realen Dialektik, die hier an Hand der Relation von Faktizität und Reflexion zu erhellen versucht wurde, wobei für diese Dialektik die Gegensätzlichkeit der Ausgangspunkte konstitutiv ist.5

Philosophie und Theologie stehen in einer gemeinsamen Dialektik, weil sie beide vom Absoluten ausgeschlossen sind und so am Orte der Endlichkeit auf unterschiedene Weise in Beziehung zu diesem Absoluten als dem absolut Entzogenen stehen. Für das Verhältnis von Philosophie und Theologie bedeutet dies, daß sie streng unterschieden sind, jedoch in dieser Unterschiedenheit aufeinander bezogen. Wird diese Differenz nicht bewahrt, dann verfällt man einer unkritischen Metaphysik. Die Philosophie wird dann zu einer heimlichen Theologie und die Theologie zu einer heimlichen Philosophie. Nur dann, wenn beachtet wird, daß sich die Differenz von Philosophie und Theologie oder von Wissen und Glauben in beiden Wissenschaften in unterschiedlicher Weise reproduziert, kann einer Isolierung, die zu Einseitigkeiten und dogmatischen Behauptungen führt, gewehrt werden.6

Auf diesen Konsens einigen sich Grisebach und Gogarten in ihrem brieflichen Dialog, und von hier aus werden Erkenntnis und Offenbarung thematisiert. Aus der Einsicht in das Ausgeschlossensein vom Absoluten und der dialektischen Struktur von Glauben und Wissen ergibt sich eine grundsätzliche Perspektivität endlichen Wissens. Das Erkennen kann nicht mehr absolut gesetzt werden, es muß auf das absolute Wissen verzichten. Und ebenso kann die Theologie nicht den Standpunkt der Offenbarung beanspruchen, da er ihr als endlichem Wissen ebenso entzogen ist, wie jedem anderen Wissen auch. Nur fragend kann der Theologe, wie Gogarten in der 1923 veröffentlichten Aufsatzsammlung `Von Glauben und Offenbarung' schreibt, auf die Offenbarung hinweisen.7

Gleichwohl weist der von Grisebach und Gogarten in ihrem Dialog erreichte Standpunkt einige Probleme auf, deren Klärung bei Grisebach zu der kritischen Philosophie führen wird und bei Gogarten zu der Position, die ich an Hand seines Habilitationsvortrages erläutern möchte.

Im Verlauf des Briefwechsels macht Gogarten mehrmals folgenden Einwand gegen Grisebachs Orientierung an der Endlichkeit als Folge des sich dem Begriff entziehenden Absoluten geltend: „Wenn das Denken die Negation des Absoluten negiert, so bedeutet das, daß es das Absolute in seinen Bereich hinüberzieht, wenn auch nur so, daß es das Absolute am äußersten Rand seines Bereiches läßt. Es macht dann aus ihm ein Unendliches. Oder anders ausgedrückt, es schiebt das Problem der Transzendenz zur Seite und konstituiert so die Immanenz.“ (33)

Inwieweit Gogarten hier der damaligen Argumentation Grisebachs gerecht wird, darüber ist nicht zu streiten. Grisebach entkräftet denn auch diesen Einwand. Gleichwohl ist hier ein Problem angesprochen, welches Grisebach zu einer entscheidenden Revision seines Gedankens veranlassen wird. Denn hier wird qua Reflexion ein Zugang zur endlichen Wirklichkeit erschlossen, den Grisebach ab 1924 ablehnen wird. In den `Grenzen des Erziehers' bemerkt Grisebach: “ Schon jener Versuch, […], mußte die Schwierigkeit aufdecken, von der Reflexion über die Kulturgegenstände und die verschiedenen Seinssphären in das dialektische Geschehen selbst einzutreten und eine `Konkretion' des Gedankens zu erreichen.“8

Grisebach bezieht sich hier zwar auf `Wahrheit und Wirklichkeiten', jedoch trifft dies auch noch das dialektische Programm im Briefwechsel mit Gogarten.

Ein anderer Aspekt, der entscheidend für Grisebachs Revision seines bisherigen Gedankens gewesen sein dürfte, besteht in Gogartens Offenbarungsverständnis. Wird mit der Einsicht Ernst gemacht, daß das Absolute dem diskursiven endlichen Denken entzogen ist und bleibt, dann ist jede positive Aussage über das Absolute eine Aussage im Modus der Verfehlung. Von Gogarten wird diese Einsicht ausdrücklich anerkannt. In seiner 3. Antwort an Grisebach schreibt Gogarten: „Damit wäre jede Möglichkeit einer Beziehung des Endlichen auf das Absolute abgeschnitten. Es bliebe also nur die Möglichkeit einer Beziehung des Absoluten auf das Endliche. Die der Überlegung sich sogleich anbietende Beziehung des Absoluten als des Ursprungs aller geschaffenen Dinge besteht also auch nicht mehr, wenn wir an den Ergebnissen unserer bisherigen Überlegungen festhalten wollen.“ (23)9

Würde nämlich von einer Beziehung des Absoluten auf das Endliche gesprochen, so wäre damit eine absolute Perspektive unterstellt, die gewissermaßen vom Absoluten aus denkt. Damit ist jedoch die Einsicht unterlaufen, daß das Absolute dem endlichen Denken entzogen bleibt.

Doch wie kann dann von Offenbarung geredet werden, wenn sie per definitionem unerkennbar ist? Gogarten löst dieses Problem durch einen Gewaltstreich, indem er eine Unterwerfung unter die Offenbarung fordert. Wird jedoch eine Unterwerfung unter die Offenbarung als einziger Zugang zur Offenbarung gefordert, so ist damit ein Wissen von der Offenbarung unterstellt, welches nach Gogarten selbst nicht möglich ist.

Grisebach lehnt diese Forderung einer Unterwerfung als dogmatisch ab, da sie eine Identität zwischen Wissen und Offenbarung unterstellt. Unermüdlich wird dann der kritische Grisebach darauf hinweisen, daß jeder Gedanke über die Offenbarung unter den Bedingungen seines Gedachtseins steht und damit in einen theoretischen Kontext gehört, in dem es keine Absolutheitsansprüche gibt.

Im weiteren Verlauf des Briefwechsels wird Gogarten die dogmatischen Voraussetzungen seines Offenbarungsverständnisses klären und der kritischen Einsicht Rechnung zu tragen versuchen. Ob und inwieweit ihm dies gelingt, soll nun an seinem Jenaer Habilitationsvortrag vom Jahre 1927 untersucht werden.

2. Gogartens Position in `Theologische Tradition und theologische Arbeit'

Gogartens grundlegende These in diesem Vortrag besteht darin, daß die Theologie ihre Aufgabe und damit sich selbst verfehlt, wenn sie an der religiösen Subjektivität orientiert ist. Baut sich nämlich die Theologie so auf, daß sie das fromme Gottesbewußtsein expliziert, dann verfehlt sie mit innerer Notwendigkeit die Wirklichkeit des von ihr Intendierten. Wirklichkeit gibt es nämlich für ein Subjekt nur als dessen Auffassung der Wirklichkeit und mithin als dessen eigenstes Produkt. „Dabei verstehen wir unter einer Auffassung den Versuch, einen Gegenstand, also in unserem Falle die Bibel, so zu erfassen, daß er in seiner Zuordnung zu dem auf sich selbst besinnenden Geist, dem vernünftigen Ich seinen Sinn erhält.“(179) [10]

Insofern begegnet der Mensch in allem von ihm Erkannten nur sich selbst, und es gibt keine Möglichkeit für das erkennende Subjekt, diesen Kreis zu verlassen. Erkenntnis der Wirklichkeit ist damit Selbsterkenntnis und Selbstdeutung. Und wie Eberhard Grisebach wird der protestantische Theologe Gogarten der Erkenntnis jede Möglichkeit eines Zugriffes auf die Wirklichkeit verwehren, da die Erkenntnis Wirklichkeit nur im Modus ihrer Verfehlung vergegenwärtigen kann.

Den Grund hierfür sieht Gogarten in der Struktur des Bewußtseins, welches durch die Differenz von Reflexion und Faktizität oder durch die Differenz von Vollzugsmoment und Bestimmtheitsmoment charakterisiert ist. Ist nämlich das Bewußtsein eine Aktualität im Vollzug, so läßt sich dieser Vollzug nur in einer Bestimmung dieses Vollzuges, aber nicht als dieser Vollzug selbst vergegenwärtigen. Auf Grund dieser Differenz verfehlt sich das Bewußtsein in seiner Selbstvergegenwärtigung permanent, da es sich nur als Bestimmung und damit im Modus seiner Verfehlung ansichtig wird.

Die hier skizzierte Grundverfassung menschlicher Bewußtseinsvollzüge macht nun ein Verständnis der Offenbarung als Offenbarung unmöglich. Denn das Subjekt erfaßt die Offenbarung nur als seine Deutung. Aber damit ist das nicht erreicht, was im Begriff der Offenbarung intendiert ist, nämlich die Offenbarung als Offenbarung Gottes. Steht Gott und seine Offenbarung für das Unbedingte, so wird er, insofern er qua religiöses Bewußtsein erschlossen wird, zu einem Bedingten, da er bedingt ist von der religiösen Subjektivität, die ihn ihrerseits als Grund ihrer selbst vorstellt.

Gogarten nennt diese Auffassung und Erschließung der Bibel als Wort Gottes durch die endliche Subjektivität geistesgeschichtlich. Hierfür steht in dem Vortrag von 1927 der formelhafte Ausdruck des Sich-selbst-Sagens (179 u.ö.) Sich-selbst-Sagen ist somit ein Vollzug der endlichen Subjektivität und verweist auf die Spontaneität der Reflexion, die alles in die Aneignungslogik des sich-selbst-setzenden Geistes hineinzieht.

Dieser Vollzug ist insofern ruinös, als er nicht über die Binnenperspektive der endlichen Subjektivität hinausgelangt, gleichwohl er die Außenperspektive intendiert. Er verbleibt im Binnenraum des endlichen Bewußtseins, und wie Kierkegaard und Grisebach macht Gogarten diesen Vollzug als Erinnerung namhaft, da sich hier die endliche Subjektivität nur im Modus der Selbstverfehlung wiederholt.

Aktivität, Reflexion, Erinnerung und Sich-selbst-Sagen sind so Synonyme für einen defizitären Vollzug von Subjektivität, der als Strukturform der Theologie für diese ruinös wäre. Theologie verkommt auf dieser Basis zur Geistesgeschichte.

Wie ist dann Theologie möglich, und vor allem, wenn die Einsicht nicht unterlaufen werden soll, daß Theologie als menschliche Wissenschaft immer unter der Position endlicher Subjektivität steht?

Gogarten beschreibt seinen Lösungsvorschlag so: „Oder man sieht im Gegensatz hierzu in der Bibel das Wort Gottes, das niemals ein Selbstzeugnis des menschlichen Bewußtseins sein kann, weil es immer gegen das menschliche Bewußtsein gesprochen ist.“ (178)

Nur im Widerspruch zur endlichen Subjektivität realisiert sich das Wort Gottes als Wort Gottes. Für die Theologie bedeutet dies, daß sie es nur dann mit dem Wort Gottes als dem Wort Gottes zu tun hat, wenn sie es sich sagen läßt. Und nur dann, wenn sie es sich sagen läßt, konstituiert sie sich als Theologie. Dies verweist die Theologie an die Kirche, denn wo man sich das Wort Gottes sagen läßt, da ist nach Gogarten Kirche.

Sich-Sagen-lassen steht somit für einen authentischen Modus, indem genau das zur Sprache kommt, was im Modus des Sich-selbst-Sagens nur als Verfehlung vergegenwärtigt werden kann. Das Sich-Sagen-lassen hat jedoch seinen Ort im Jenseits der Reflexion und steht insofern für die reine Transzendenz. Daher kann das Sich-Sagen-lassen für die Theologie keine Methode sein, die man handhaben könnte, wäre doch damit die Kontingenz und Nichtverfügbarkeit des Sich-Sagen-lassens sofort wieder aufgehoben.

Sofern nun die Theologie eine endliche menschliche Wissenschaft ist, stellt sich hier die Frage, wie die Theologie das Wort Gottes vergegenwärtigen können soll, wenn doch alle Vergegenwärtigung von Wirklichkeit schon ihre Verfehlung bedeutet. Es ist nur konsequent, wenn Gogarten feststellt, „daß die Theologie gar nicht reden kann, ohne die ständige Wendung gegen ihre eigenen Aussagen, d.h. gegen das direkte Verständnis und die direkte Annahme dieser Aussagen, oder ohne daß sie außerordentlich paradox redet.“ (198)

Theologie, so Gogarten, wenn sie denn Theologie bleiben will, kann sich nur dann authentisch vollziehen, sofern sie jede ihrer Aussagen sofort wieder durchstreicht. Denn alle ihre Aussagen stehen unter der Position der endlichen Subjektivität und damit unter einer Position, die die Offenbarung als Offenbarung verfehlt. Nur in der Negation ihrer eigenen Aussagen, im paradoxen Zugleich von Ja und Nein, realisiert sie indirekt einen Hinweis auf ihr Thema, nämlich das Wort Gottes als Offenbarung Gottes.

So konsequent Gogarten seine Theorie von Theologie, die hier in einer ihrer grundlegenden Argumentationsfiguren angedeutet wurde, auch durchführt, so fragwürdig ist jedoch seine Grunddifferenz von Sich-Selbst-Sagen und Sich-Sagen-lassen. Gogarten rekurriert mit dem Sich-Sagen-lassen auf die Rechtfertigung allein aus Glauben, die ihren Ort in der unmittelbaren Begegnung mit dem Anderen hat. Der Rechtfertigungsakt ist wie Gogarten betont, kein „religiöses Prinzip, mit dem die Bibel zu deuten und zu verstehen wäre, sondern man meint mit der Rechtfertigung einen realen Vorgang, der sich zwischen zwei Personen abspielt. Also auch nicht die Idee eines solchen Vorganges, sondern den einmaligen faktischen Vorgang selbst“ (182f.).

Die Faktizität dieses unmittelbaren Vollzuges, welche Gogarten als Glaubensakt namhaft macht, ist jedoch stumm und beansprucht mithin eine Differenzfolie, für die Bestimmung dieses Vollzuges, d.h. für die Auskunft, was es denn sei, was hier vollzogen wird. Wenn Gogarten darauf hinweist, das es sich hier um das Sich-Sagen-lassen und damit um die Negation des Sich-Selbst-Sagens handelt, so ist damit gerade das beansprucht, was durch das Sich-Sagen-lassen doch verlassen werden soll. Die Differenz ist damit von der Reflexion geleistet, was Gogarten selbst indirekt bestätigt, wenn er bemerkt, daß die Theologie eine „notwendige Erinnerung“ beanspruchen muß, welche „die Erinnerung daran ist, daß Gott spricht, gegen das nie aussetzende und alles in sich aufnehmende menschliche Geistesleben […]“ (196).

Kann sich die Theologie jedoch nur dann realisieren, wenn sie diese Erinnerung tätigt und d.h. die Differenz von Sich-Selbst-Sagen und Sich-Sagen-lassen durch ihre eigene Reflexionstätigkeit erschließt, dann ist damit der von Gogarten mit Vehemenz bekämpfte Standpunkt der Geistesgeschichte gerade nicht verlassen.

3. Gogartens Differenz zu Grisebach

Liest man die soeben skizzierte Position Gogartens als Resultat seiner Auseinandersetzung mit Grisebach, so zeigt sich, daß er nicht mehr, wie noch im Briefwechsel, von einer Unterwerfung unter die Offenbarung spricht. Denn diese geforderte Unterwerfung setzt ein Wissen voraus, welches nach Gogartens Theorie nicht möglich oder nur als Verfehlung der Offenbarung möglich ist. Als möglichen Zugang zur Offenbarung, bei zugestandener Unmöglichkeit eines menschlicherseits getätigten Zuganges zur Offenbarung, zeichnete sich die Begegnung mit dem Anderen ab. Im Widerspruch des Anderen begegnet der Mensch nicht mehr sich selbst, sondern dem Anderen in seiner Nichtverfügbarkeit. In dieser Begegnung realisiert sich nach Gogarten Wirklichkeit, indem das Du dem unendlichen Streben des sich-selbst-setzenden Ich widerspricht. Ja letztlich begegnet uns nach Gogarten im Widerspruch des andern Du die Wirklichkeit Gottes. Diese Wirklichkeit, wie sie sich in der Begegnung von Du und Ich realisiert, wird jedoch von Gogarten aller Abwehr von Deutungen zum Trotz als wahre Wirklichkeit apostrophiert.[11] Daß diese Wahrheit, die sich in der deutungslosen und stummen Unmittelbarkeit der Begegnung von Du und Ich ereignet, der Reflexionsleistung der Subjektivität verdankt, wird von Gogarten, wie wir gesehen haben, übergangen. Denn daß ich in der Begegnung mit dem Anderen der Wirklichkeit Gottes begegne, setzt ein Wissen um Gott voraus, welches nach Gogarten gar nicht möglich ist, insofern all unser Wissen Gott verfehlt. Nach Gogarten gibt es kein Wissen des Menschen von Gott. Der Mensch muß vielmehr faktisch für sich selbst ein Wissen von Gott beanspruchen, um die Unterscheidungen seiner Theologie durchführen zu können. Aber damit schlägt seine Konzeption um in die von ihm abgelehnten Deutungen der Offenbarung.12

Dieses von Gogarten beanspruchte Wissen markiert genau den Punkt, der seine Konzeption von der Grisebachs radikal trennt.

In seinem Hauptwerk `Gegenwart' schreibt Grisebach: „Die Zuständigkeit der Erkenntnis für die ethische Wirklichkeit wird in Zweifel gezogen, weil eine Identifizierung von Wahrheit und Wirklichkeit nur eine formale Überbewertung der Innerlichkeit bedeutet, die gar keine Realgründe zum Beweis ihrer Wahrheit beibringen kann.“13

Grisebach kann sein kritisches Anliegen, die Destruktion der Identität von Wahrheit und Wirklichkeit, nur um den Preis durchführen, daß er von der Wirklichkeit schweigt. Denn jeder Gedanke der Wirklichkeit, jedes Wissen von einem Außerhalb des Wissens, steht unter den Bedingungen seines Gedachtseins und damit im Innenraum des Bewußtseins. Die kontingente Begegnung mit dem anderen kann daher nicht gewußt werden oder als Zugang zur Wirklichkeit gefordert werden. Denn ist diese Erfahrung gewußt, dann ist die Begegnung mit dem Anderen schon durch einen Entwurf des Subjekts abgesichert und hineingenommen in die Erinnerung eines einsamen Selbst.

Eben diese Wahrheit unterschlägt Gogarten, insofern er durch seine am Widerspruch des Du orientierte Theologie einen Zugang zur wahren Wirklichkeit reklamiert. Das Problem der ethischen Wirklichkeit ist damit übersprungen und die sich jedem Gedanken entziehende unsichere Problemlage der Gegenwart aufgegeben zugunsten einer apriorischen Konstruktion, die faktisch ein Wissen von Gott beanspruchen muß und damit Erfahrung als schon gedeutete Erfahrung meint.14

Ist damit die Differenz zwischen Gogarten und Grisebach aufgezeigt, so ist noch nichts darüber ausgesagt, warum Gogarten der Meinung ist, daß Grisebachs kritische Position sich als nicht tragfähig für sein theologisches Denken eignet. Nun setzt sich Gogarten an keiner Stelle explizit mit Grisebachs kritischer Philosophie auseinander und nennt demzufolge auch keine Argumente, die Gründe offen legen. Zieht man jedoch in Betracht, daß Gogarten das kritische Anliegen Grisebachs über weite Strecken teilt, freilich so, daß er sich an den entscheidenden Stellen von ihm trennt, so liegt es nahe, hier die besonderen Intentionen Gogartens zu vermuten. Diese Nahtstellen, wo Gogarten meint, den unmittelbaren Widerspruch des Anderen in eine theoretische Konzeption einbauen zu können, markieren seine Absetzung von und zugleich seine Kritik an Grisebach. Zeigt sich doch hier eine Intention, die Grisebachs kritischem Anliegen widerspricht, indem sie einen exklusiven Zugang zur Wirklichkeit für sich reklamiert. Hält man sich zudem Gogartens radikale Kritik an der neuzeitlichen Moderne und ihrer Individualitätskultur vor Augen, so liegt die Vermutung nahe, daß er in Grisebachs Kritik an absoluten Positionen, je länger desto mehr, eine Verirrung der neuzeitlichen Autonomie erkennen mußte. Für Gogarten erschließt sich in seiner Theologie, die an der Begegnung von Du und Ich orientiert ist, eine wahre Wirklichkeit, und daher konnte er das kritische Anliegen Grisebachs nicht mehr teilen.

Insofern ist es nicht Heidegger, der Gogarten auf ein existentielles Apriori hin tendieren ließ. Auch nicht Schelling ist für diese geschichtsphilosophische Tendenz verantwortlich. Vielmehr sind es die unreflektierten Voraussetzungen seiner Theologie, die Gogarten zu diesem existentiellen Apriori tendieren lassen.

Aber mehr hatte Grisebach in der eingangs zitierten Stelle ja auch nicht behauptet, als er mit dem Stichwort `existentielles Apriori' die von Gogarten unterschlagene Deutung der Wirklichkeit namhaft machte.

Über Danz Christian 21 Artikel
Prof. Dr. Christian Danz, geboren 1962 in Thüringen, hat seit 2002 eine Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien inne. Seit 2006 ist er Vorsitzender der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft.

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