Durstig nach heißem Weh!Christian Gerhahers „Winterreise“ – ein sängerisches Gestaltungswunder

Es sind – nur – achtzig Minuten. So lange dauert die „Winterreise“. 1823/24 in zweimal zwölf Lieder gegossen von Wilhelm Müller, 1827 in Töne gesetzt von Franz Schubert. Der Dichter aus Dessau war 30, als er den Zyklus niederschrieb. Er starb drei Jahre später. Der Komponist aus Wien lebte nur noch ein Jahr nach Vollendung seines Lieder-Werkes, mit 31 Jahren. Für Joachim Kaiser ist „Winterreise“ der „inspirierteste Liederzyklus der Musikgeschichte, tiefgründig und verzweifelt. Erstaunlicherweise gleichwohl populär“. Schauerlich fand Schubert selbst seine Vertonung. Sie habe ihn, so ist überliefert, „mehr angegriffen, als dieses je bei anderen Liedern der Fall war“.

Die achtzigminütige „Winterreise“, die der unvergleichliche Bariton Christian Gerhaher, am Flügel kongenial begleitet von Gerold Huber, im Münchner Nationaltheater sang, ließ immer wieder an Schuberts historisch verbürgte Empfindungen denken. Schauer jagte der hochkonzentrierte Sänger dem Zuhörer über die Rücken, wohlige Schauer da und frösteln machende dort, dabei die Kürze der eigenen Lebenszeit bedenkend, die heißen Tränen des von der Liebsten Fernen und Verlassenen, die ihm in den Schnee fallen, auffangend. Das Kalte und Eisige, der Durst des Schnees nach heißem Weh – aus einer solchen Spannung löst es sich nicht leicht. „Von grünen Wiesen, von lustigem Vogelgeschrei“ darf man nur, dem Reisenden gleich, träumen. Die Raben schreien vom Dach, und die Krähe wird verdächtigt, sich des Wanderers Leib als Beute bemächtigen zu wollen. So still es (bis auf die gottlob an Störkraft bald nachlassenden Huster in den kurzen Pausen zwischen den einzelnen Liedern) im bis auf den letzten Platz gefüllten, ausverkauften Opernhaus während der Aktion der beiden aufeinander lange eingespielten Künstler war, so stark, so heftig, manchmal bis zur Unbarmherzigkeit gesteigert war deren Attacke auf Herz und Gemüt derer, die das Glück hatten, einem Ausnahme-Liederabend beizuwohnen.

Gerhahers Deutung des „schauerlichen“ Inhalts hat in keiner Phrase etwas Manieristisches. Alles grandios Gesungene ist wohl überlegt, bedacht jede Akzentsetzung, der Text von der Aussage her gestaltet, ohne auf Effekt aus zu sein, fern jeglicher aufgesetzter Theatralik. Verständlich jedes Wort. In dieser Hinsicht hat Gerhaher durchaus verdiente „Vorgänger“, etwa seinen Lehrer Dietrich Fischer-Dieskau, sogar „Vorgängerinnen“ wie Christa Ludwig. Ungekünstelt ist Gerhahers Vortrag und doch im höchsten Maße kunstvoll. Ein sängerisches Gestaltungswunder. Wobei stets beide Künstler, Gerhaher und Huber, als Einheit zu begreifen sind. Der eine wäre nicht ohne den andern. Ein Herz und eine Seele, dieses Freundespaar schon seit der gemeinsamen Straubinger Schülerzeit. Gerold Huber ist ein Meister des Sichzurücknehmens, des schwingenden Anschlags, der unprätentiösen Rhythmisierung, der Rundung des Tons, des Wohlklangzaubers.

„Im Dunkeln wird mir wohler sein“ – so schließt das Lied Nr. 23, auf das noch „Der Leiermann“ folgt, der am Ende der „Winterreise“ steht, „barfuß auf dem Eise“ hin und her wankend. Man friert. Man sehnt sich nach Helle und Wärme. Ob tags darauf wirklich, nicht nur auf dem Kalenderblatt, der Monat beginnt, von dem Ludwig Müller seinen Wanderer sagen lässt, dass er ihm gewogen war „mit manchem Blumenstrauß“? Einen solchen – und eine Grünpflanze im Topf – trugen Gerhaher und Huber von der Bühne, unter stehenden Ovationen. Keine Zugabe. Achtzig Minuten – die mussten genügen.

Freunde seit Straubinger Schülertagen: Bariton Christian Gerhaher und Pianist Gerold Huber (Foto: Hans Gärtner)

Über Hans Gärtner 502 Artikel
Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.

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