„Ich weiß, dass ich am Scheideweg stehe. Egal, welchen Weg ich einschlage, es wird komplizierter werden.“ Große Worte in Ketil Bjørnstads neuem Roman, die auch gern wirksam medial eingesetzt werden, um „schon immer prophezeite“ Veränderungen heraufbeschwören. Da geht es um den Klimawandel, auf anderer Ebene um innen-, aber auch außenpolitische Entscheidungen. Allerdings spricht sie hier der 19-jährige Protagonist und außerordentlich begabte und hoffnungsvolle Pianisteneleve Aksel Vinding aus.
„Vielleicht muss man Umwege gehen, um die einfachsten Dinge zu verstehen.“ Auch diese Worte stammen von Aksel, der, obwohl noch jung an Jahren, schon einige persönliche Tiefschläge einstecken musste: Die alkoholkranke Mutter ertrank beim Baden, Anja, seine Freundin, gleichfalls eine äußerst talentierte Klavierschülerin, hielt dem Erfolgsdruck nicht stand und starb an Magersucht. Die anschließende Liaison mit deren Mutter, der 17 Jahre älteren Marianne Skoog, deren Ehemann er wurde, endete ebenfalls abrupt, als diese sich – obwohl schwanger von ihm – im Keller des gemeinsamen Hauses erhängte.
Mit „Die Frau im Tal“ vollendet der norwegische Schriftsteller seine Trilogie, die 2006 mit „Vindings Spiel“ und 2009 mit „Der Fluss“ das Leben des jungen Klaviervirtuosen nachzeichnet. Offensichtlich enthält sie viel Autobiografisches und dessen Hauptfigur trägt unverkennbar die Züge des Autors. Ketil Bjørnstad, der neben seiner erfolgreichen literarischen Karriere gleichfalls Pianist und Komponist ist, hat lange Jahre gescheut, seine Erfahrungen als Musiker in seine Bücher zu integrieren und zum Thema zu machen. „Ich wollte Musik und Literatur auseinanderhalten, damit es nach außen nicht wirkt, als verzettelte ich mich!“, erläutert er in einem Interview. Doch inzwischen, mit über fünfzig, sehe er das entspannter.
Der Roman knüpft nahtlos da an, wo „Der Fluss“ endet. Sommer 1971: Aksel hat nach dem Tos seiner Frau keinen Lebenswillen mehr und stürzt sich in den Fluss. Ein Angler zieht den bereits bewusstlos im Wasser treibenden Körper an Land und rettet dem jungen Mann das Leben. Obwohl bereits für eine große Tournee durch Europa vorgesehen, auf der er als frisch gebackener Debütant mit Brahms‘ B-Dur Konzert als jüngster Interpret brillieren soll, lehnt er ab und zieht sich in den hohen Norden zurück. Er will „dieses gewaltige Land erfassen, dessen Atem (…) spüren“ und gleichzeitig Sergej Rachmaninows 2. Klavierkonzert einstudieren. Genau dieses bedeutete im Kompositionsprozess des russischen Künstlers einen Höhepunkt und nahm eine besondere Stellung in seiner Biografie ein. Es beendete eine dreijährige Schaffenskrise und markierte gleichzeitig den Durchbruch vom genialen Talent zum Komponisten von Weltgeltung. Er widmete es dem bekannten russischen Psychiater Dr. Nikolai Dahl, der dem Alkoholkranken und schwer depressiven Rachmaninow seine Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit zurückgab, seinen übermäßigen Alkoholkonsum beendete und ihm insgesamt neue Lust aufs Komponieren verschaffte.
In Ketil Bjørnstads Roman erhält dieses Klavierkonzert, mit seinem ständigen Wechsel von zwei grundsätzlichen Gestaltungsebenen – stark rhythmisierte, oft düstere Klänge sowie fließende, liedhafte Melodien – eine tragende Rolle. Der Duktus des Buches weist diese Züge gleichfalls auf. Die Bandbreite musikalischer Emotionen beim Genuss der kompositorischen Meisterleistung – von zart bis schwärmerisch-hymnisch – darf mit ruhigem Gewissen auch auf das literarische Werk übertragen werden. Die emotionalen Blitzlichter setzt Bjørnstad erneut in Gestalt einer Frau, in die sich Aksel verliebt. Keine Geringere als die vier Jahre jüngere Schwester von Marianne Skoog übernimmt diesen Part. Der junge Mann beginnt ein spannungsgeladenes Verhältnis mit der verheirateten Sigrun, vereint in ihrem jeweils ungeklärten Verhältnis zur alles andere als problemfreien Vergangenheit.
Die Erzählung zieht den Leser in einen magischen Sog, dem er sich, einmal begonnen, nicht mehr entziehen kann. Fragen werden aufgeworfen: Wie kann man mit Trauer und Verzweiflung umgehen? Wie definiert man Glück? „In der Welt der Musik ist es meistens das Leiden, das Glück hervorruft“, stellt Aksel fest. Kann Glück Kunst hervorbringen? Sehnen wir uns nach einem Sinn? Muss man von Zeit zu Zeit Grenzen überschreiten, Regeln übertreten und unerwartete Situationen riskieren? Lauert irgendwo im Grunde eines jeden Lebens vielleicht gar das Grauen? Und immer wieder der verrückte und störende Drang nach Liebe, der letztendlich in einem dramatischen Finale kumuliert.
„Um eine schreckliche Geschichte zu erzählen, ohne die Schönheit zu vergessen. Besteht darin nicht die Hauptaufgabe der Kunst?“, sinniert der Aksel Vinding. Mit kurzen klaren Sätzen erzeugt der Autor, ähnlich einem virtuos eingespielten Musikstück, eine „undefinierbare Innigkeit im Ausdruck“, Schönheit und ein unvergleichlich hohes Reflexionsniveau, ja, farbige Töne im Kopf. Lothar Schneider, der Übersetzer aus dem Norwegischen, hat diese „literarische Musik“ dem deutschsprachigen Leser ohne Verluste zugänglich gemacht.
Fazit:
Ketil Bjørnstad ist mit „Die Frau im Tal“ ein dichter und intensiver, ein faszinierender, die Sinne berauschender und fesselnder Roman gelungen. Auf der einen Seite enthält er spannungsgeladene Momente voller Tragik, auf der anderen tiefsinnige Passagen, in denen Aksel Vinding über sich und das Leben sinniert. Ein ständiger Wechsel zwischen Trauer und hoffnungsvoller Sehnsucht, der das zerrissene Seelenleben des 19-jährigen Klaviervirtuosen großartig wiedergibt und die Macht der Musik einfängt.
Auch wenn es allein gelesen werden kann, so erschließt sich die wirkliche Tiefe der Handlung allerdings erst in Einheit aller drei Bücher (1. Teil: Vindings Spiel, 2. Teil: Der Fluss, 3. Teil: Die Frau im Tal)
Ketil Bjørnstad
Die Frau im Tal
Aus dem Norwegischen von Lothar Schneider
Titel der Originalausgabe: Damen i dalen
Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig (September 2010)
335 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 345817477X
ISBN-13: 978-3458174776
Preis: 22,90 EURO
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