Die Idee der Europäischen Union als einer Interessengemeinschaft gleichwertiger europäischer Staaten ist faszinierend und steht in der Praxis seit dem Pariser Vertrag/Montanunion von 1951 für Prosperität, Erfolg und Anziehungskraft. War sie bis 1989 ein aus mittelosteuropäischer Sicht schier unerreichbarer Sehnsuchtsort der Achtung von Menschenrechten, Freiheit, Demokratie, sozialer Marktwirtschaft, so tragen seit ihren Beitritten viele mittelosteuropäische Nationen und Staaten mit ihren Erfahrungen und Kompetenzen zum weiteren Gelingen der Europäischen Union bei. Die heutige Europäische Union verfügt über einen Erfahrungsschatz, der aus unzähligen Befreiungskämpfen und sehr verschiedenen Emanzipationserfahrungen seit der Antike besteht.
Die Hauptwurzeln des modernen Demokratieverständnisses begannen im antiken Griechenland zu sprießen. Die „Herrschaft des Staatsvolkes“, also die allgemein akzeptierte Existenz eines Volkes als Voraussetzung des direkt dazu gehörenden Staates, gilt noch immer als Kern unserer modernen Demokratien. Auf die Europäische Union übertragen lässt sich somit sagen, eine demokratische Union basiert auf der gleichberechtigten Herrschaft der Staatsvölker ihrer Mitgliedsstaaten. Gemeinschaftspolitik ist nur fair unter Wahrung der Interessen der Mitgliedsstaaten möglich. Übergriffigkeit der Zentrale oder seitens anderer Mitgliedsstaaten gefährdet den Bestand der Union. In diesem Sinne ist der Streit zwischen der Union und Ungarn notwendig. Lebensfähige Gemeinschaften bedürfen der kontinuierlichen Austarierung von als gemeinsam empfundenen Zielen und von Souveränitätsinteressen. Auf die jüngere Geschichte bezogen heißt das, die Mittelosteuropäer (Anmerkung: korrekter wäre Ostmitteleuropa und a.a.o. Westmitteleuropa) bereicherten den mittelwesteuropäischen Erfahrungs- und Werteschatz mit ihren Emanzipationsgeschichten, die bezüglich der Diktaturen des 20. Jahrhunderts doppelte Erfahrungen sind. Kennen die Mittelwesteuropäer allein rechte Unrechtssysteme, so verfügen die Mittelosteuropäer zusätzlich über die Erfahrungen unter linken Unrechtssystemen, die sie im Übrigen selbst überwanden. Bekanntlich überwanden die Mittelwesteuropäer die rechten Diktaturen nur mit alliierter Hilfe. Möglichweise ist es auch das Selbstbewusstsein bspw. der Ungarn und Polen, welches in Brüssel auf heimliche Minderwertigkeitskomplexe stößt und mittels aggressiver Überheblichkeit dort überspielt wird?
Vor dem Hintergrund meiner Eingangsüberlegungen zitiere ich in der Überschrift dieser Rezension Balázs Orbán/Zoltán Szalai: „Durch den EU-Beitritt verlor Ungarn seine Souveränität allerdings nicht – auch die jeweiligen ungarischen Verfassungen verfügen über nicht mehr als eine gemeinsame Souveränitätsausübung mit den Institutionen der Union -, die Verfassungsgebung verblieb weiterhin eine nationale Angelegenheit. Der Schutz der konstitutionellen Ordnung der EU-Mitgliedstaaten oder mit anderen Worten der Schutz der konstitutionellen Identität ist im Vertrag über die Europäische Union festgeschrieben, dem ein Beschluß des deutschen Bundesverfassungsgerichts von 1974 als Vorbild galt.“ (S. 349).
Ich hätte auch statt dieser ersten Worte des Zitats die Martin Luther in den Mund gelegten Worte „Hier stehe ich und kann nicht anders!“ nehmen können. Beide Aussagen sind selbstverständlich und nicht reduzierbar. Als Ostdeutscher bin ich den Ungarn dankbar, dass sie den Strauß ausfechten. Die Europäische Union hat ein auf westlich verkümmerte Werte zurückgehendes Wissens- und Demokratiedefizit, welches notwendigerweise zivilisiert zu beheben ist. Westeuropa ist nicht die Europäische Union, so wie Mittelosteuropa ebenfalls nicht die Europäische Union allein abbildet. Die Mittelosteuropäer wissen das, die Mittelwesteuropäer müssen das lernen. Westeuropa besitzt nicht die Definitionshoheit darüber, was Europa ausmacht.
„Der ungarische Staat“ ist eine wichtige Reise durch eintausend Jahre ungarische Nation- und Kulturentwicklung, eintausend Jahre Staats- und Verfassungsbildung, eintausend Jahre Selbstbehauptung in Begleitung von neunundzwanzig ausgewiesenen Reiseführern aus dem ungarischen Geistesleben auf fünfhundertelf sehr interessanten Seiten. Ich füge noch hinzu: fünfundsechzig Jahre Freiheitslicht und Antitotalitarismus seit 1956.
I Der ungarische Staat als Person
In ihrem Vorwort gehen Balázs Orbán und Zoltán Szalai auf den deutschen Historiker Friedrich Meinecke (1862-1954) ein, der mit seinem Staatspersönlichkeitsbegriff große Wirkung auf die ungarische Geschichtsschreibung ausübte. Auch Gyula Szekfű (1883-1955) betrachtete den ungarischen Staat als Persönlichkeit. Gemeint ist damit, dass Staaten im Laufe der Zeit unterschiedliche Eigenschaften aufnehmen, dabei aber wie Menschen sich selbst identisch bleiben. Szekfű wies vor dem ersten Weltkrieg auf den interessanten Sachverhalt hin, dass über die Geschichte, die Theorie und die Funktionsweise des Ungarischen nahezu ausschließlich von österreichischen Forschern geschrieben wurde. Was zeigt, wie schwer es für den ungarischen Staat war und noch immer ist, die schwer errungene Souveränität zu bewahren (S. 2). Ich setze aus Aktualitätsgründen hinzu, die Bestrebungen der Europäischen Union angeführt von einer großdeutsch anmutenden linken politischen Führung, die Nationalstaaten als souveräne Objekte in der EU untergehen zu lassen, dürfte auf den erbitterten Widerstand der meisten Ungarn stoßen. Auch derer, die es noch nicht zu begreifen scheinen. Für Polen, die baltischen Staaten, Bulgarien, Rumänien würde ich diese Aussage sogleich mit anführen. Als Warnung an die derzeitige politische Führung der EU: Vergreift euch nicht an den stolzen Ungarn, ihr gefährdet nach dem Abgang der Briten aus ähnlichen Gründen das Einstürzen eines Kartenhauses – der Europäischen Union. Nur wer die Herkunft, die Nationen- und Staatswerdung anderer begreift und akzeptiert, baut an einem Gebäude, welches mit Fug und Recht das gemeinsame Europäische Haus genannt werden kann und für andere als Freunde kommende ebenfalls Verlockung sein kann. Die Zeiten einseitiger Meinungsführerschaft wurden bereits 1951 in Paris ad acta gelegt. Der seit der Kanzlerschaft Angela Merkels andauernde mittelwesteuropäische Rückfall in Dominanz muss aus dem Weg geräumt werden.
Rechtsstaatlichkeit geht typischerweise von Nationalstaaten aus. Deshalb lohnt sich auf die jeweiligen lokalen Verhältnisse Rücksicht zu nehmen (S. 5). Bei József Szájer in seinem Beitrag „Über die Staatsauffassung des ungarischen Grundgesetzes“ liest sich das folgendermaßen:
„Das ungarische Grundgesetz wurde im Jahre 2011 als reichlich hinausgezögertes letztes Stück der großen ungarischen verfassungsgebenden Welle des sich in den 1990er Jahren demokratisierenden Mittel- und Osteuropas geboren. Im Hinblick auf gesamte ungarische Rechtsgeschichte kann das Dokument als Ungarns erstes geschriebene Verfassung angesehen werden. Auf diese Tatsache wird – als Selbstreflexion – in der Postambel des Verfassungstextes mit der Wendung ‚das erste einheitliche Grundgesetz Ungarns‘ verwiesen.“ (S. 227). Das durch das „einheitliche Grundgesetz“ von 2011 abgelöste Dokument, der „Verfassungsbrief“ von 1949, entsprach wie in allem kommunistischen Staaten nicht den elementarsten inhaltlichen Kriterien von Verfassungsmäßigkeiten. Es war eine „historische Travestie“ … . Es entbehrte des Schutzes und der Akzeptanz der Herrschaft des Rechts“ (S. 227/228).
II Ungarn heute
Fragen der deutschen und ungarischen Identität/Gergely Gulyás
Ungarn und Deutschland sind eng verbunden. Enge Verwandte, deren Beziehungen oft gemeinsames Auf und Ab aufwiesen. Die Gemahlin des ersten ungarischen Königs Stephan war Gisela von Bayern. Sigismund von Luxemburg regierte als König von Ungarn und als römisch-deutscher Kaiser, Matthias Corvinus wurde Kurfürst im Kaiserreich. Die Reformation hatte ihre stärkste Wirkung im Kaiserreich und in Ungarn, die Bibelübersetzungen setzten in beiden Staaten eine „Kulturrevolution“ in Gang, die im „zerstückelten“ Kaiserreich ein „Zusammengehörigkeitsbewusstsein“ bewirkte, die als „die erste gedankliche Äußerung der deutschen Kulturnation verstanden werden kann“ – das schreibt den Deutschen mit Gergely Gulyás ein Ungar dankenswerterweise ins Stammbuch! (S. 11).
Was ist ein logischer Schluss aus dieser Feststellung? Eine europäische Union, die multikulturell gleichgeschliffen wird, wird ihrer Kulturen verlustig gehen! Wenn die kulturelle Vielfalt verloren geht, wird sich kulturelle Einöde breit machen. Was ist an Einöde lebenswert?
Gergely Gulyás führt viele weitere gemeinsame ungarisch/deutsche Schnittpunkte an: der „Frühling der Völker“ 1848, Verfassungsrevolution, die Bewahrung des Friedens mit „tausend Fäden“ an der deutschen nationalen Frage im Deutschen Bund, die mögliche „großdeutsche Einheit“ unter Einschluss Österreichs mit möglicher Folge der ungarischen Selbstständigkeit, die Niederlage Österreichs bei Königgrätz 1866 und der daraus folgende Ausgleich Österreichs mit Ungarns und der Entstehung der Doppelmonarchie 1867, die gemeinsame Niederlage im ersten Weltkrieg und die daraus folgenden dramatischen Ergebnisse, die „bedauerliche“ (S. 13) Entscheidung Ungarns für den Eintritt in den zweiten Weltkrieg. Besonders interessant in diesen Zusammenhängen ist der Zeitraum zwischen 1945 und 1989. Die Ungarn durchlitten wie die Ostdeutschen eine kommunistische Diktatur mit niedergeschlagenen Volksaufständen. Gleichzeitig erfuhren viele Ungarn nach 1956 große Solidarität des westdeutschen Teilstaats und der Westdeutschen. Einerseits mit Ostdeutschland im kommunistischen Kerker eingesperrt und andererseits den freien Teil Deutschlands als erstrebenswerte Variante der Demokratie schätzen – die Ambivalenz im Verhältnis der nach Freiheit strebenden Ungarn ähnelt der Sinnsuche vieler ebenfalls nach Freiheit dürstender Ostdeutscher. Viele Ostdeutsche „wanderten“ über Jahrzehnte vor dem Fernseher allabendlich 20 Uhr nach Westdeutschland „aus“. Um diese Zeit sendete die „Tagesschau“ der ARD Nachrichten aus der freien Welt. Gleichzeitig bot die „lustigste Baracke des Ostblocks“ Ungarn für viele Jahre Ost- und Westdeutschen die Gelegenheit, miteinander reale menschliche, freundschaft- und verwandtschaftliche Beziehungen auf Zeit zu pflegen. Am Balaton, in Éger, in Debrecen, in Pécs, überall trafen sich durch den „Eisernen Vorhang“ getrennte Deutsche in Ungarn. Auf diese Weise trugen die Ungarn zum Zusammenhalt der Deutschen und zum Aufrechterhalten des deutschen Wiedervereinigungswunsches bei.
Den Olymp der Dankbarkeit vieler Ostdeutscher erklomm Ungarn 1989. Mit dem am 2. Mai 1989 beginnendem Abbau der Grenzanlagen, die nur die Ostdeutschen am Flüchten in den Westen hindern sollten, die Ungarn durften schon länger selbst die Welt anschauen, der Massenbeherbergung zehntausender Ostdeutscher und der endgültigen Grenzöffnung am 10. September 1989 schrieben sich die Ungarn ganz tief in die Herzen der meisten Deutschen ein.
Gergely Gulyás nimmt sich der Auseinandersetzung zwischen Konrad Adenauer und Kurt Schumacher mit stärkerer Sympathie für Adenauer an. Obwohl ich im Februar 1990 mit Freunden die „Kurt Schumacher Gesellschaft in der DDR“ gründete und viele Jahre auch stellvertretender Vorsitzender der gesamtdeutschen Gesellschaft gleichen Namens war, kann ich Gulyás‘ Position gut nachvollziehen. Adenauers Westintegration und Ludwig Erhards‘ soziale Markwirtschaft waren die einzig richtigen Antworten jener Zeit. Westdeutschlands wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg resultierte aus Adenauers Richtungsentscheidung. Mit der Autarkie Schumachers wäre Westdeutschland stehen geblieben.
In einem lege ich allerdings Gergely Gulyás Milde bezüglich Kurt Schumacher nahe. Kurt Schumacher war ausgewiesener Anti-Totalitarist. Die Gegner der Demokratie sah er Rechts- und Linksaußen gleichermaßen. Schumacher bewahrte die SPD nach dem zweiten Weltkrieg davor, ein Vasall Moskaus zu werden. Insofern trug die SPD ähnlich gewichtig wie CDU/CSU zum Gelingen der Bundesrepublik bei. Mit dem „Godesberger Programm“ 1959 vollzogen die westdeutschen Sozialdemokraten dann auch den Bruch mit Schumachers Autarkieillusionen. Die SPD wurde zur Volkspartei und stellte infolgedessen später mit Willy Brandt und Helmut Schmidt bedeutende Bundeskanzler des westdeutschen Teilstaates.
Gergely Gulyás ist derzeit Minister des ungarischen Ministerpräsidentenamtes (S. X). Es wäre wünschenswert, in einer deutschen Regierung gäbe es einen ähnlich sachkundigen Minister im Hinblick auf die deutsch-ungarische Geschichte wie ihn auf ungarischer/ex-Ostblockseite. Unendlich viele Probleme zwischen den mittelosteuropäischen Mitgliedsstaaten und der Europäischen Union gäbe es nicht. Wo Wissen Raum hat, haben Fehler weniger Chancen. Sollte die EU scheitern, wird sie an der Unwissenheit und Ignoranz des Westens in der EU scheitern.
„Im Hinblick auf die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen sind die zwei Länder durch tausende von Fäden miteinander verbunden. Für Ungarn ist diese strategische Partnerschaft von unschätzbarem Wert und aus der langen gemeinsamen Geschichte lässt sich nur eins schlussfolgern: Die beiden Länder verbinden mehr Dinge miteinander, als sie voneinander trennen.“ (S. 23). Ich hoffe, ich trete dem ungarischen Minister Gulyás nicht zu nahe, wenn ich von einer Liebeserklärung spreche, die er mit diesen Worten an Deutschland gab. Allerdings eine Liebeserklärung auf Augenhöhe an das freie, demokratische und faire Deutschland, welches nicht nur er in guter Erinnerung hat. Was könnte Deutschland, was könnte die Europäische Union alles gewinnen, würde Ungarn eine ähnlich faire Behandlung zukommen wie es für Dänemark oder Frankreich oder oder oder … selbstverständlich ist. Im Moment schäme ich mich für „meine“ Republik, für die auch ich 1989/90 sehnlichst stritt.
Konstitutionelle Identität/László Trócsányi
„Eine offene Konfrontation steht zwar nicht im Interesse der EU-Mitgliedstaaten, sie müssen aber einen Modus Vivendi finden, der sie der Union gegenüber beschützt – hierin sieht die konstitutionelle Identität ihre Aufgabe. … verwenden die Mitgliedstaaten statt des Wortes Souveränität gerne den Ausdruck konstitutionelle Identität. … Metaphorisch könnte man Souveränität den Körper, und Identität die Seele nennen. (S. 25/26). László Trócsányi beschreibt so behutsam wie klar, woran es der deutschen und EU-Spitzenpolitik mangelt: Der technokratischen Abwicklung und Ausübung von (derzeit linker) Machtpolitik sind Selbstverständnisfragen bei zugesellen. Der linksliberale Mainstream postuliert Weltverständnis und ist in der eigenen Familie nicht dazu in der Lage. Mit „Salonkommunismus“ wurde so ein Verhalten vor kurzem noch beschrieben.
Trócsányi macht uns klar, die gleichzeitige Nebeneinander-Existenz nationaler Verfassungen ist das Fundament der EU-Familie. Die europäische Idee ist nicht die Dominanz einer Denkrichtung über alle anderen. Stark ist der, der Unterschiede aushält und über diese zu Gemeinsamkeiten kommt. „Bereits im ersten Solange-Beschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts wird die Identität der Verfassung als Gewährleistung der Grundrechte erwähnt. … Die in der Ewigkeitsklausel des deutschen Grundgesetzes erwähnten Grundrechte, die Rechtsstaatlichkeit, der Sozialstaat bzw. der Föderalismus genießen höchste Priorität.“ (S. 27).
Auf die Elemente der ungarischen konstitutionellen Identität führt uns László Trócsányi mit einem Zitat aus einem 1910 erschienenem französischen Buch (Kain) über Ungarn „Die ungarische Nation lebt und kämpft mit ihrer tausendjährigen Verfassung in Europa. Ungarn widerstand über lange Jahrhunderte dem Barbarentum aus dem Osten. Während man in Ungarn versuchte, die Invasion aufzuhalten, konnte sich, dank der Ungarn außerhalb der Landesgrenzen Zivilisation, Industrie und Handel weiterentwickeln. Äußeren und inneren Kriegen zum Trotz blieb in Ungarn eines unverändert: die Verfassung.“ (S. 29). Beschreibt das Zitat nur die Geschichte des ungarischen Verteidigungs- und Selbstbehauptungskampfes zum eigenen Nutzen und zum Nutzen seiner europäischen Nachbarn oder wirft es ein bezeichnendes Schlaglicht auf den aktuellen Schutz der EU-Grenzen durch Ungarn, Polen, baltische Staaten, Griechenland? Auch heute hüten die Ungarn unsere Sicherheit und helfen uns damit, unsere Weiterentwicklung nehmen zu können. Auch heute werden die Dienste der Ungarn angenommen bei gleichzeitiger Beschimpfung durch die Nutznießer.
Das Selbstbewusstsein der Ungarn sollten die europäischen Partner nie aus den Augen verlieren, wollen sie die Ungarn nicht verlieren. Was die europäischen Freunde ebenfalls immer im Kalkül haben sollten: Ungarn und der Schutz der Familie sind ebenso wenig zu trennen wie Ungarn und die Kirche im Rahmen der freien und geschützten Religionsausübung. Das Christentum trug stark zum Erhalt der Nation bei und genießt große Achtung. Wobei diese Achtung nicht zu einer Bevorzugung seitens des Staates führt. „Freie Kirche im freien Staat“ steht für die Trennung von Staat und Kirche und für „die goldene Mitte“ (S. 32) im Verhältnis Staat und Religion(en).
Das ungarische Grundgesetz blickt auch auf die gemeinsam gestaltete Zukunft und sieht im Engagement der jungen Generationen die Kraft und den Willen, Ungarn wieder zu seiner Größe im Einklang mit dem Schutz und der Bewahrung der natürlichen Ressourcen und der kulturellen Werte zu führen. Als Deutscher sage ich, ein starkes und selbstbewusstes Ungarn stärkt auch die Europäische Union. Stärke gepaart mit Partnerschaft trägt zum Gelingen bei. Ich wünsche mir starke und selbstbewusste EU-Mitgliedsstaaten.
Zur Rolle und der Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn/Gergely Deli, Tamás Sulyok
Die Ungarn standen ähnlich den Italienern in der Nachkriegszeit vor der Aufgabe „in der friedlichen Übergangsperiode von der Diktatur zum Rechtsstaat, die verfassungswidrigen Rechtsnormen aus dem wegen der Kontinuität grundsätzlich unverändert gebliebenem Rechtssystem auszumustern. Der einzige Unterschied zwischen dem italienischen und dem ungarischen Weg zeigte sich in der politischen Farbe der früheren Diktaturen“. (S. 40) – ein für Mittelosteuropäer selbstverständlicher Satz und für Mittelwesteuropäer wie eine Zumutung wirkend. Wobei der historische Neu-Erkenntnisdruck auf Seiten der westmitteleuropäischen Eingeborenen liegt. Man möge mir meine Überheblichkeit mit der Verwendung des Begriffs „Eingeborene“ nachsehen. Ich bin es müde, allzu freundlich gegen diese Wand aus Ignoranz und Unwissen anzuschreiben.
Die Autoren dieses Kapitels sind sicher, dass der fließende Übergang von einer diktatorischen Staats- und Rechtsauffassung zur heutigen demokratischen gelungen ist. Das Verfassungsgericht gestaltete durch seine Normenkontrolle die Umgestaltung des diktatorischen Rechtssystems rechtsstaatlich. Fehler im laufenden legislativen und exekutiven Prozeß wurden ständig korrigiert und ausgeglichen. Beinahe alle defektiven Elemente der Rechtsordnung wurden auf den Untersuchungstisch des Verfassungsgerichts gelegt. Diese Periode gilt als „Blütezeit der ungarischen Verfassungsgerichtsbarkeit“ (S. 41). Die Autoren Gergely Deli und Tamás Sulyok kommen zur Einschätzung, „dass in Ungarn eine in Europa sonst beispiellose autonome Verfassungsgerichtsbarkeit zustande kam“ (S. 42).
An dieser Stelle bleibt anzumerken, Ungarn wäre nicht in die Europäische Union aufgenommen worden, wären der Prozeß der ungarischen Rechtsentwicklung und die zugehörigen Institutionen nicht in Übereinstimmung mit den in der EU geltenden Normen gewesen. Gerade der Beitritt 2004 muss als Zertifikat der modernen Rechtsstaatlichkeit Ungarns gelten.
Die Stephanskrone und andere Symbole der ungarischen Staatlichkeit/Attila Horváth
1978 war ich das erste Mal in Ungarn im Urlaub. Zwei Wochen Zelten am Balaton und gleich am ersten Abend in einer Csárda in Balatonfüred ein so zufällig wie glückliches Zusammentreffen mit einer westdeutschen Touristengruppe. Weiter oben schrieb ich bereits zur deutsch-deutschen Chance des Nichtvergessens auf ungarischem Boden. Es war ein wunderbarer Zufall. Die Westdeutschen allesamt sehr interessiert wie ostdeutsche Jugend tickt, wie frei oder unfrei sie sich bewegt, was sie von der Zukunft erwartet. Hilfreich war dabei der damals sehr günstige Kurs der D-Mark gegenüber dem Forint. Die Gruppe merkte es finanziell nicht einmal, uns zwei Wochen spontan mit durchzuschleppen. Jeden Tag wurden wir zu den Unternehmungen der Reisegruppe eingeladen. Seien es die Fahrten in die Umgebung, zu schönen Lokalen, Balaton-Schifffahrten, Abstecher in Museen. Das waren alles Dinge aus dem Paradies. Ostdeutsche Touristen konnten sich das überhaupt nicht leisten. Wir durften für einen Monat Forint eintauschen und fuhren mit dem Geld einen halben Monat nach Ungarn. Damit hatten wir das Budget für den Zeltplatz, für die Strandbesuche, den Imbiss am Strand und für wenig mehr. Unsere westdeutschen „Gastgeber“ eröffneten uns den ungarischen Kosmos an Kultur und Geschichte. Damit bin ich jetzt beim Heiligen Stephan, seiner bayerischen Frau Gisela, der Stephanskrone und vielem mehr.
Obwohl im kommunistischen Ungarn unter den üblichen Sprachregelungen war es dennoch eine andere, scheinbar souveränere Welt, die sich uns erschloss. Der Stolz der ungarischen Reiseführerin in Veszprém über Stephan, Gisela und die Stephanskrone schwärmen zu können, ist mir noch heute gegenwärtig. Ich kannte den Film „Sterne von Eger“, hatte auch das Buch gelesen und hatte damit etwas Ahnung von Ungarns Stolz. Die Reiseführerin vertiefte meinen Eindruck. Die Ungarn und ihre Geschichte sind sehr eng miteinander verbunden. Mir gefiel das. Neidlos. Wenig später lernte ich während des Studiums in Freiberg/Sachsen junge Ungarn kennen und weiß seitdem weit mehr über Ungarn und seine Geschichte.
Attila Horváth beschreibt die Stephanskrone „als Hoheitsabzeichen, das den ungarischen Staat und dessen Rechtskontinuität symbolisiert. Sie ist der einzige rechtmäßige irdische Inhaber der obersten Macht über Ungarn, ein Rechtssubjekt, die Quelle allen ungarischen Rechts, Vermittler der von Gott stammenden irdischen Macht, die Grundlage der ungarischen historischen Verfassung, sowie der Staatlichkeit im Sinne von Stephan dem Heiligen.“ (S. 115). Ich habe diese Passage komplett zitiert, weil dieser Zusammenhang das emotionale „Volumen“ der Bedeutung der Stephanskrone für die Ungarn spüren lässt. Die Deutschen wissen um die Bedeutung ihres Grundgesetzes, in Fleisch, Blut und Gene ist es ihnen nicht übergegangen. Was vielleicht den linken deutschen Selbsthaß etwas zu erklären vermag. Die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland persönlich zerrte 2013 ihrem CDU-Generalsekretär, der einen Deutschlandwimpel jubelnd in die Kamers zeigte, das Symbol der freien und demokratischen Bundesrepublik aus den Händen und ließ es wie Schmutz an der Hose verschwinden. Ein ungarischer Ministerpräsident, egal welcher politischen Färbung, der die Stephanskrone ähnlich misshandeln würde, wäre am nächsten Tag sicher nicht mehr im Amt. Das Verständnis von Volk, Nation, Staatszugehörigkeit scheint im Falle Deutschlands und Ungarns vom Mars bzw. von der Venus zu kommen. Die heutige linksgrüne Führung der Bundesrepublik besitzt ein kriegerisches Verständnis gegen das eigene Herkommen in der eigenen Nation, die ungarische politische Klasse hingegen kommt von der Venus, wenn sie an die eigene Nation denkt. Und das alles in einem Universum – der Europäischen Union. Es muss noch viel gelernt werden.
„Die Prinzipien der ungarischen historischen Verfassung, die von der Lehre von der Stephanskrone abgeleitet wurden, sind wie folgt: Machtübertragung; eingeschränkte, geteilte und kontrollierte Machtausübung; staatliche und nationale Unabhängigkeit; Rechtausweitung; Nebenordnung der rechtlich Gleichgestellten; gleichsame konstitutionelle Freiheit; Prinzip der Selbstbestimmung der Gemeinden; nationale Souveränität inklusive Volkssouveränität; das Prinzip „aus Unrecht entsteht kein Recht“ (lat. ex iniuria ius non oritur); das Verbot der willkürlichen Machtausübung; das Widerstandsrecht gegenüber verfassungswidriger Macht (lat. ius resistendi); die Rechtskontinuität der konstitutionellen Gewalt; organische Rechtsentwicklung; sozialer Rechtsstaat; Selbstbestimmung des Volkes/der Nation und die Festhaltung der konstitutionellen Elemente der Wirtschaft.“ (S. 116).
Ungarn ist eine feste Burg, geschützt auch durch die Krönungsinsignien, den Krönungsmantel, das Zepter, das Reichsschwert, den Reichsapfel, das Wappen, die ungarische Fahne und die Nationalflagge, die Kokarde, die Nationalhymne, die zweite Nationalhymne – den Szózat -, den Rákóczi-Marsch, die Széklerhymne, die alte heidnische Macht – der Falke Turul, die staatlichen und nationalen Feiertage und das Volk der stolzen Ungarn. Die westeuropäisch linksgrün domestizierte Europäische Union kann da nicht mithalten.
Kurt Schumacher, der große deutsche Sozialdemokrat und Patriot stellte fest „Die deutsche Einheit ist nicht nur eine nationale Frage der Deutschen, die deutsche Einheit ist eine Frage der Selbstbehauptung der Völker Europas und der Weltdemokratie.“ (Quelle: 13. Juni 1950. Zitiert in: Getrennte Vergangenheit, gemeinsame Zukunft: Wandlungen der Deutschlandpolitik (Deutscher Taschenbuch Verlag, 1997), S. 184).
Die heutige politische Klasse der Bundesrepublik wird dieses Postulat nicht mehr verstehen, sehr viele Ungarn werden es dagegen auch noch heute nachvollziehen können. Patriotismus ist stolz auf die eigene Nation und das eigene Land sein und bedeutet, denselben Stolz auch bei anderen Nationen auf sich bezogen zu erwarten.
Schumacher war aber noch deutlicher. Am 17. August 1951 sagte er auf einer Kundgebung vor der Messehalle in Berlin „Dem tiefsten Grunde nach gibt es für die Deutschen ja gar keine Wahl zwischen Ost und West. Und unseren menschlichen und nationalen Notwendigkeiten nach sind wir von vornherein Bestandteil des Westens. Aber dem Westen sagen wir: Wenn wir Bestandteil des Westens sind, dann heißt das nicht, dass wir uns dem primitiven Egoismus jeder einzelnen westlichen Macht einfach unterwerfen. Wir kämpfen auch innerhalb des Westens um unsere Gleichrangigkeit und unsere Gleichwertigkeit. Wir kämpfen um das gleiche Recht, um den gleichen Grad der Menschlichkeit für jeden von uns.“ (Quelle: „Den Delegierten und Gästen des SPD-Parteitages in Leipzig 1990“ / Kurt Schumacher Gesellschaft KSG-Reihe Band 2). Den heutigen Ungarn empfehle ich in Schumachers Rede die Worte „die Deutschen“ durch die Worte „die Ungarn“ zu tauschen und dann noch einmal zu lesen….
Der Sozialdemokrat Kurt Schumacher überlebte 10 Jahre härteste Haft im Konzentrationslager Dachau. Er war als Patriot unangreifbar.
In der Europäischen Union geht historisches und demokratisches Wissen verloren.
Wissenschaft und Politik: Folgen aus der Sicht der akademischen Welt in Ungarn/Áron Máthé
„Im charakteristischerweise von der angelsächsischen Terminologie geprägten internationalen Diskurs kommt dem Attribut „academic“ bzw. dem Substantiv „academia“ ein wesentlich breiterer Bedeutungsbereich zu als im Ungarischen. In der ungarischen Sprache bezeichnet das Wort „akadémiai“ (‚die Akademie betreffend‘) nämlich vor allem eine Qualität im – begrifflichen oder reellen – Zusammenhang mit der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (ung. Magyar Tudományos Akadémia; im Folgenden auch UAW). Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist somit in erster Linie diese Institution … das eigentliche Ziel der vorliegenden Arbeit ist folglich, die Geschichte der UAW unter besonderer Berücksichtigung ihrer „Übergangsphase“ zur Zeit der Wende unter die Lupe zu nehmen.“ (S. 167).
Interessanterweise verwendet der Autor statt des in Deutschland eher üblichen Begriffs der „Friedlichen Revolution“, im tschechisch/slowakischen Raum ist es die „Samtene Revolution“, den aus meiner Sicht eher unpolitischen Begriffs der „Wende“.
Es war aber eine Revolution, weitgehend unblutig und alles andere als jakobinisch-leninistisch, doch aber eine Restitution bürgerlich-demokratischer Systemverhältnisse. Eine Erklärung wäre, in Ungarn liefen die Demokratisierungsprozesse schon weit länger, bspw. waren die Ungarn schon viele Jahre Träger der Reisefreiheitsrechte, und es bedurfte nicht erst der Demonstration von Millionen Untertanen wie in der DDR 1989/90.
Und doch gilt es mindestens eine ungarische Großdemonstration besonders herauszuheben. Am 16. Juni 1989 ehrten über 250 000 Ungarn anlässlich der Wiederbeerdigung des Widerstandsführers gegen die sowjetische Kolonialmacht Imre Nagy ihn und die anderen 1958 exekutierten Revolutionsführer. Das kommunistische Ungarn war ein und für allemal erledigt.
Im Gegensatz zum verwendeten Wende-Begriff bezogen auf die revolutionären Umwälzungen 1989/90 ist der Autor sehr akkurat, was die euphemistische Verwendung der Bezeichnung „Räterepublik“ von 1919 anbelangt. Hier nimmt es der Autor völlig zurecht sehr genau. Die sog. Räterepublik war eine Sowjetrepublik sowohl in der wörtlichen Übersetzung als auch in der praktischen und institutionellen Implementierung in den damaligen ungarischen Staat. (S. 168). Anzumerken sei, dasselbe wollten die deutschen Kommunisten unter Liebknecht und Luxemburg in Deutschland erreichen. Die Parolen hießen 1918 „Sozialistische Republik“ und meinten dasselbe wie in Ungarn und 1923 sollte in Deutschland der nächste Versuch auf dem Wege zu „Sowjetdeutschland“ mit einer deutschen kommunistischen „Oktoberrevolution“ gestartet werden – auch hier wieder die biografischen Gemeinsamkeiten Ungarns und Deutschlands.
Die Ungarische Akademie der Wissenschaften entging dem Schicksal der Inbesitznahme durch den kommunistischen Staat ebenso wenig wie alle anderen Institutionen im sowjetischen Herrschaftsbereich. Áron Máthé geht in seinem Beitrag eingehend darauf ein. Für ehemalige Ostblockeingeborene ist das alles wohl bekannt und überrascht in keinem einzigen Detail. Wichtig sind diese Abschnitte im Text für westmitteleuropäisch sozialisierte Wissenschaftler, Politiker, sog. Normalbürger. Die Europäische Union und speziell Deutschland sind auf dem Wege ideologischer Wissenschaftssteuerung mit einschneidender Diskursabwesenheit (die Thesen werden weitgehend bestätigt ohne Einbeziehung der Gegenthesen), mit dem Fallbeil der political correctness, mit der „Aufzucht“ korrumpierter Wissenschaftler. Noch existiert der Begriff des Nomenklaturkaders in Deutschland nicht. Doch die Bevorzugung Williger lässt Erinnerungen dieser Art bedenklich aufkommen. Fragenstellende, Kritiker, Nachforscher gelten als Skeptiker und Leugner, denen der Diskurs zu verweigern ist. So depotenziert sich eine Gesellschaft. Áron Máthé zieht den Schleier weg.
Auch von den Versuchen, die kommunistischen Strukturen der UAW in den demokratischen Staat hinüber zu retten bspw. 1989: „Was aber beinhaltete der Gesetzesentwurf selbst? Laut Kritik sollte die UAW einen beinahe uneingeschränkten Einfluss auf die Leitung des ungarischen wissenschaftlichen Lebens samt bedeutender Finanzierung nehmen können, ohne durch das Parlament kontrolliert zu werden.“ (S. 186). … „In dieser Periode musste die UAW einerseits um ihre eigene Legitimation kämpfen, da sie für viele eine Ansammlung von Pseudowissenschaftlern im Dienst des untergegangenen Regimes darstellte; andererseits konnte sie sich trotz ihrer Rolle als Stütze und Transmissionsmaschinerie des kommunistischen Systems ein ernsthaftes Expertenimage aufbauen. Die 1980er Jahre waren „der Weg der Intelligenz zur Klassenmacht“, zu welcher Zeit die Akademie in ihrer Eigenschaft als statuskonservative, gleichzeitig auch an Reformen interessierte Institution als eine der maßgebenden Autoritäten und als Bezugspunkt für diese Intelligenz galt und gegen die liberalen Anklagen der Periode zwischen 1989 und 1991 – im Wesentlichen mit dem Anspruch auf eine Existenz sui iuris – auch ihre eigene Selbsterneuerung in Angriff nahm“. (S. 188).
Das Hochschulgesetz von 1993 befugte die Universitäten erneut zur wissenschaftlichen Ausbildung und Qualifikation, 1994 folgte das Akademiegesetz. „Bezüglich der wichtigsten Fragen wie etwa der Bewahrung der Autonomie, der institutionellen Struktur, des wissenschaftlichen Nachwuchses sowie der Verfügung über öffentliche Mittel sei andererseits die Akademieelite begünstigt worden.“ (S. 189). Vielleicht meint der Autor auch diese Prozesse, wenn er von Wende spricht? Für den Betrachter können jedenfalls die Veränderungen im Wissenschaftsbereich Ungarns schwerlich als (friedlich) revolutionär bezeichnet werden. Eher war es ein Gleiten aus den aus den einstigen Netzwerken der Diktatur in die demokratische und freie Gesellschaft. 64 Prozent der UAW-Mitglieder wurden nach 1990 gewählt, 36 Prozent stammten nach der Jahrtausendwende (S. 189) noch aus der Ära Kádár. Am Beispiel der UAW lässt sich gut nachvollziehen, wie schwierig das zivilisierte Überführen zentralistischer Institutionen von Diktaturen in freie Gesellschaften ist. Kommunisten, Nationalsozialisten und Islamisten machen sich das blutig einfacher. Klüger, humaner, demokratischer ohnehin ist die Variante, die sich 1989 im Ostblock Bahn brach.
Áron Máthé führt den Leser am Ende seines Beitrages auf die Soros-Stiftung, die 1984 gegründet wurde, um in Ungarn demokratischen und wissenschaftlichen Nachwuchs zu versammeln und zu bilden, der in einem möglichen Reformprozess Ungarn aus der Diktatur in eine Demokratie überführen könnte. Beaufsichtigt wurde diese Stiftung durch die UAW. „Eine maßgebende Gestalt der Soros-Stiftung, der frühere Reformkommunist Miklós Vásárhelyi, drückte sich noch 1989 wie folgt aus: ‚Ich würde also sagen, dass ich die Hoffnung nicht aufgegeben habe, dass es möglich ist, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, die sich in jeder Hinsicht von dem Sozialismus der Stalin-Ära, aber auch von den höchstentwickelten westlichen demokratischen Systemen unterscheidet.‘“ (S. 191). Als Ostdeutscher, der 1990 froh war, dass die kommunistisch gesteuerte Diskussion um „Deutsche Einheit“ oder „Dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus“ in der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 vom Volk eindeutig zu Gunsten der Deutschen Einheit entschieden wurde, bin ich gespannt, was die Diskussion um die Soros-Stiftung in kommunistischer Vergangenheit und demokratischer Gegenwart noch alles zu Tage bringt. Mit den Veränderungschancen 1989 war der Stifter sicher einverstanden. Ob ihm der nichtreformkommunistische Weg danach tatsächlich behagt, bleibt eine von vielen offenen Fragen.
Das Judentum und die ungarische Staatlichkeit/Slomó Köves
Der Rabbiner der Óbudaer Synagoge, die viele Jahre zweckentfremdet/geschändet durch das ungarische Fernsehen verwendet wurde und seit 2010 wieder als Synagoge genutzt wird, und Gründer der ersten hebräisch-ungarischen zweisprachigen Schule Bet Menachem in Budapest unternimmt mit dem Leser eine bewegende Rundreise durch die Geschichte des Judentums in Ungarn.
„Aus dem oben zitierten, auch in der Halacha, der Schrift des jüdischen Rechtssystems festgelegten Grundsatz folgt, dass das Verhältnis des Judentums zur ungarischen Rechtsstaatlichkeit von Anbeginn an durch bedingungslose Loyalität und Respekt vor dem Gesetz gekennzeichnet war. Auf dem Gebiet Ungarns lebten bereits in der Antike Juden; die Existenz jüdischer Gemeinschaften auf ungarischem Boden wird auch durch schriftliche Dokumente aus dem Zeitalter der ungarischen Landnahme bestätigt.“ (S. 370). Zugleich waren die Juden immer in der Hand der Obrigkeit. War diese judenfreundlich, konnte sich jüdisches Leben entfalten. Jüdisches Leben war immer von extremen Wechselfällen abhängig. „Im Ungarn des 11.–12. Jahrhunderts standen den Juden aus tschechischen und süddeutschen Gebieten alle Türen offen. Wie aber zu jener Zeit üblich, blieb eine vollständige Assimilierung aus: Juden durften lange Zeit weder ihren Wohnort frei wählen noch Christen als Diener anstellen, des Weiteren waren für sie auch Mischehen verboten. Die erste ungarische Gesetzgebung, in der Juden erwähnt werden, ist das erste Gesetzbuch des Ladislaus I., dessen 10. Absatz sich auf die Ehe von Juden und Christen bezieht. Koloman der Buchkundige, der Nachfolger von Ladislaus I., kodifiziert die Regeln bezüglich des Handels zwischen Juden und Nichtjuden. Alleine die Existenz dieser Gesetze bzw. die Tatsache, dass aufeinanderfolgende ungarische Könige es für notwendig hielten, die Tätigkeit von Juden umfassend zu regeln, zeugt von einer bedeutenden Anzahl und einer wichtigen Stellung der Juden im Land. Während der Herrschaft der Árpádenkönige konnten sich die in Ungarn lebenden Juden in relativer Sicherheit, ziemlich frei mit Handel und Finanzen beschäftigen. Ab dem 13. Jahrhundert wurden sie jedoch mit immer mehr Einschränkungen konfrontiert: Gemäß königlicher Verordnungen mussten sie Kennzeichen tragen und durften keine staatlichen oder Verwaltungsämter bekleiden.“ (S. 270/271).
Den ungarischen Juden erging es ähnlich wie allen anderen Juden in deren Heimatländern. Wurden sie gebraucht, genossen sie Schutz. Standen sie im Wege oder waren die Zeiten unruhig, wurden sie zu Aussätzigen, deren Leben nicht viel oder gar nichts wert war. Bei allem was mit ihnen geschah, ihre mit-prägende Rolle in der Entwicklung der unterschiedlichen Gesellschaften konnte zu keinem Zeitpunkt ausgelöscht werden. Auch nicht durch die deutschen Nationalsozialisten und deren willige Helfer und Parteigänger in den von Deutschland überfallenen und vereinnahmten Staaten. Die jüdisch-christliche Identität Europas gehört zu den Werten, die es zu verteidigen gilt.
Slomó Köves gibt dem Leser einen sehr interessanten Einblick in das Leben der Juden unter osmanischer Herrschaft in Ungarn.
„Während der Osmanischen Herrschaft mussten aber die Juden in Ungarn ihre Loyalität neu definieren. Im Chaos nach dem Tod des Matthias Corvinus’ wandte sich die Öffentlichkeit gegen das Judentum – wobei dies nicht das erste und auch nicht das letzte Mal war. Diese Feindseligkeit erreichte nach der Schlacht bei Mohács eine Art Höhepunkt: Am 10. November 1526 verordnete der ungarische Landtag – auf Druck des königlichen Kanzlers, István Werbőczy (1458 – 1541), eines berüchtigten Judengegners – die Verbannung der Juden aus Ungarn. Mit der osmanischen Eroberung von Ofen (Buda) 1541 gelangte auch eine Mehrheit der in Ungarn lebenden Juden unter osmanische Herrschaft, in welcher Epoche sich ihre Situation – nach einem schwierigen Auftakt – trotz jeglicher Einschränkungen und Steuern, die die Muslime bei den „Leuten der Schrift“ (d. h. Christen und Juden) einführten, stabilisierte. Erneut betrat die jüdische Gemeinschaft den Weg des Aufschwungs. In kurzer Zeit siedelten auch viele Juden aus anderen Gebieten des Osmanischen Reiches, beispielsweise aus Istanbul, nach Ofen um. Damit wurde Ofen unter der osmanischen Herrschaft zu einem der bedeutendsten jüdischen Zentren in Europa.“ (S. 374).
Mit dem Sieg über die osmanische Fremdherrschaft und der beginnenden Aufklärung keimte für die ungarischen Juden wieder Hoffnung. Schreckliche Wechselfälle waren zu keinem Zeitpunkt ausgeschlossen, dieses Schwert der latenten Unsicherheit verschwand leider zu keiner Zeit, doch die „Emanzipation der Juden in Ungarn“ (S. 376) war dennoch nicht aufzuhalten. Selbst in der Revolution 1848-1949 dienten bis 10 000 Juden in der ungarischen Landwehr – allerdings ohne Bürgerrechte. Danach wurde es wieder viel härter bevor das Leben und die Akzeptanz der Juden erneut besser und stärker wurde. Es begann „Das goldene Zeitalter des Dualismus“ (S. 377) ab circa 1869. „Das Judentum steuerte also mit enormer Effizienz zur eigenen Wirtschaftskraft und dadurch zur Wirtschaftskraft des Landes bei. Hiermit war die Gleichberechtigung der Juden mit der Weiterentwicklung und Modernisierung Ungarns untrennbar verknüpft.“ (S. 378).
Die grausamste Zeit für die Juden Ungarns brach mit dem Einfluss der deutschen Nationalsozialisten nach dem ersten Weltkrieg auf die Stimmungen in den europäischen Staaten an. Die auch in Ungarn vorhanden Ressentiments und antisemitischen Stimmungen verstärkten sich, auch in Ungarn wurden Judengesetze beschlossen und dem Holocaust der geistige Boden bereitet.
„Nach der deutschen Besetzung wurden die Juden ab 1944 auch in Ungarn in Ghettos versammelt. Sie mussten einen gelben Stern tragen und im April desselben Jahres begann man mit der Unterstützung der ungarischen Verwaltungseinrichtungen ihre Deportation. Es dauerte kaum länger als einen Monat, bis die ganze jüdische Bevölkerung in Ghettos und Lagern unterbracht war. Anschließend wurden etwa 430 000 Menschen in Konzentrationslager verschleppt. Zwischen 1941 und 1945 starben ca. zwei Drittel des zuvor in Ungarn lebenden Judentums. Zwangsarbeit, Deportationen und Konzentrationslagern fielen insgesamt mehr als eine halbe Million Ungarn zum Opfer.“ (S. 382).
Der Volksaufstand 1956 sah auf beiden Seiten der Barrikaden Juden, in der Kádár-Ära waren die Juden zur Assimilation gezwungen. Das Religiöse wurde seitens des kommunistischen Staates in den Hintergrund gerückt. Die Zahl der Mischehen wuchs an „und die jahrhundertelang genährte Kraft jüdischer Traditionen wurde endgültig geschwächt.“ (S. 383).
Slomó Köves schließt seinen Beitrag verhalten optimistisch. „Nach der Wende brach in der Geschichte des Judentums in Ungarn ein neues Zeitalter an, obwohl zur Geburt der Republik Ungarn eine überwiegende Mehrheit der Juden ihren Bezug zum Judentum bereits verloren hatte. …Mindestens so wichtig ist es, im Rückblick auf die jahrhundertelange Geschichte des Judentums in Ungarn behaupten zu können, dass zwischen dem ungarischen Staat und den jüdischen Gemeinschaften nun wieder ein ausgeglichenes Verhältnis herrscht. Demokratische politische Kräfte setzen sich einhellig gegen den Antisemitismus ein. Das jüdische Bildungssystem, die jüdische Religion, Erinnerungskultur und die Sicherheit der Juden werden von der Regierung stark unterstützt. Ich bin zuversichtlich, dass die angefangene Entfaltung, das Sich- und Einanderfinden jüdischer Gemeinschaften weitergeführt wird. Zu einer fortwährenden Vermehrung des in Ungarn lebenden Judentums und der Ungarn bedarf es aber meiner Meinung nach auch eines ernsten Engagements seitens des ungarischen Staates.“ (S. 383/384).
In der aktuellen politischen Diskussion zwischen der Europäischen Union und Ungarn nimmt eine Auseinandersetzung einen prominenten Platz ein, die vor dem Hintergrund des Holocausts stark irritierend wirkt. George Soros, der Stifter der Open-Society-Stiftung, die sich seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts um die demokratische Bildung in Ungarn verdient machte und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán liegen im offenen Streit miteinander. Der ungarische Premierminister wirft dem einflussreichen Investor und Philanthropen Strippenzieherei und ein Übermaß an Einflussnahme auf die Politik Ungarns vor.
George Soros erlebte die Schrecken des Holocausts am eigenen Leibe und überlebte diesen knapp. Die internationale und vor allem westeuropäische Bewertung des Streits ist geneigt, Viktor Orbán die Vermischung seiner Kritik an George Soros mit dessen jüdischer Herkunft zuzutrauen. Dem steht Orbáns positive Haltung zum Judentum in Gänze und zur einzigen Demokratie im Nahen Osten – Israel – de facto entgegen.
Kritisiert Viktor Orbán den Juden George Soros oder den einflussreichen Investor George Soros, der zufällig jüdischen Glaubens ist? Diese Klärung ist überaus bedeutend.
An diesem Punkt beende ich meine Besprechung des Buches „Der ungarische Staat“ und empfehle der geneigten Leserschaft zur eigenen Meinungsbildung dringend die Lektüre desselben. Die Fülle wichtigen Stoffes ist groß und weit gefächert. Die Zusammensetzung der ungarischen Gesellschaft heute, die Rolle und Stellung des Christentums, Musik und Kultur, die nationalen Minderheiten, öffentliche Verwaltung, rhetorisches Handeln und Veränderung und vieles mehr führt der interessierten Öffentlichkeit ein wichtiges Bild Ungarns vor Augen und bereichert das allgemeine Wissen um Ungarn und Europa. Die Europäische Union ohne Ungarn wäre um vieles ärmer.
Die Chancen des innereuropäischen Verständnisses bedingen das Wissen um die Vorstellungs- und Erfahrungswelt des jeweils anderen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, der „Osten“ Europas wusste bis 1989 besser über den Westen Bescheid als umgekehrt. Die Erklärung hierfür ist einfach. Der Blick von jenseits des „Eisernen Vorhangs“ ins Diesseits von Freiheit und Demokratie war sehnsuchtsvoll und wissbegierig während der Blick vom anmaßenden „Oben“ der selbstverständlichen (und geschenkten) Freiheit zum gleichwohl anmaßenden „Unten“ mit der erzwungenen Unfreiheit und sozialen Gleichschaltung sich nicht lohnte. Überhebliches Wegschauen als Prinzip.
Für meine Rezension suchte ich in der beeindruckenden Fülle des sehr klug zusammengestallten Materials das Phänomen „Die Ungarn und ihr Staat“ – was beschreibt an welcher Stelle das grundlegende Verständnisproblem zwischen den Mittelwesteuropäern und den Ungarn (stellvertretend für den ehemaligen Ostblock)? Anhand der von mir besprochen Kapitel ist vielleicht die gesuchte (Trenn-)Linie sichtbarer geworden? Ich hoffe es.
Achtet die Ungarn und ihren Staat genauso wie ihr geachtet werden wollt! Frieden und Vertrauen bedingen viel Wissen voneinander.
Der Inhalt
Autorenverzeichnis
Empfehlung von Viktor Orbán
Vorwort Balázs Orbán/Zoltán Szalai
Ungarn heute
Politikauffassungen in Deutschland und Ungarn. Fragen der deutschen und ungarischen Identität Gergely Gulyás
Zur konstitutionellen Identität Ungarns László Trócsányi
Zur Rolle und der Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn Gergely Deli/Tamás Sulyok
Rhetorisches Handeln und Veränderung Petra Aczél
Die Rolle des Christentums in der ungarischen Staatlichkeit Balázs Mihály Mezei
Die aktuelle Zusammensetzung der ungarischen Gesellschaft Péter Pillók
Ungarn damals
Die Stephanskrone und andere Symbole der ungarischen Staatlichkeit Attila Horváth
Das Verhältnis von Staat, Nation, Sprache und kollektivem Gedächtnis im ungarischen literarischen Diskurs des 19 Jahrhunderts Pál S. Varga
Musik und der ungarische Staat: Dohnányi, Bartók und Kodály Malcolm Gillies
Wissenschaft und Politik: Folgen der politischen Wende aus der Sicht der akademischen Welt in Ungarn Áron Máthé
Stephan Széchenyis Staatsverständnis und die ungarische Reformzeit bei Adalbert Stifter Zoltán Szalai
Geschichte der ungarischen Souveränitätsauffassung Alex Pongrácz
Ungarische Denkweise
Über die Staatsauffassung des ungarischen Grundgesetzes József Szájer
Rechtsstaat als universales oder nationales Ideal András Zs. Varga
Staatstheoretisches Denken in Ungarn und das deutsche Geistesleben András Karácsony
Zwei illiberale Konzepte des Staates: Szekfű und Lukács 1920 Tamás Demeter
Gyula Kornis über den Staat Gergely Egedy
Öffentliche Verwaltung im System des ungarischen Staats András Patyi
Ungarn international
Zur ungarischen Konstitutionalität Balázs Orbán
Das Judentum und die ungarische Staatlichkeit Slomó Köves
Der ungarische Staat und seine nationalen Minderheiten Literarisches Schrifttum der deutschen und rumänischen Minderheit in Ungarn András F. Balogh
Zum Ungarnbild in der osmanischen und türkischen Kultur Péter Kövecsi-Oláh
Die Übernahme eines Vorbilds ? Ähnlichkeiten und Unterschiede des englischen und ungarischen Parlamentarismus Kálmán Pócza
Ungarische Wirtschaft und Gesellschaft
Wiederherstellung des wirtschaftspolitischen Gleichgewichts in Ungarn nach 2010 László György
Wirtschaftsaufschwung in Ungarn nach 2010 Dániel Palotai
Wirtschaftspolitischer Perspektivenwechsel in Ungarn nach der Weltwirtschaftskrise Tamás Pesuth
Sprache und Nation Ágnes Veszelszki
Das Ideal der ungarischen Staatsangehörigkeit Tamás Wetzel
Der ungarische Staat / Ein interdisziplinärer Überblick von Szalai, Zoltán Hrsg. Orbán, Balázs Hrsg., 511 Seiten, Springer VS 2021, ISBN/GTIN 978-3-658-33676-9 Euro 79,99