Draghis Trilemma und von der Leyens Kalkül – Der diffizile politische Weg zu neuer Wettbewerbsfähigkeit

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Die Blicke der Berliner Politik richten sich in diesen Tagen nach Brüssel bzw. nach Straßburg. Dort nämlich haben erst Mario Draghi seinen Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU und dann die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre neue Kommission – vorbehaltlich der Bestätigung durch das Europäische Parlament – vorgestellt. Und tatsächlich sind beide Ereignisse auch für Politik und Wirtschaft in Deutschland außerordentlich bedeutsam. Denn die deutsche Wettbewerbsfähigkeit, um die es schlecht steht, hängt mittlerweile nicht unwesentlich an den politischen Entscheidungen auf europäischer Ebene.

Draghis Bericht und die Suche nach dem Stein der Weisen

Der Bericht von Draghi zur Wettbewerbsfähigkeit der EU hat zurecht Aufsehen erregt. Selten ist ein Befund zur wirtschaftlichen Lage der EU schonungsloser ausgefallen als dieser. Und mit allem, was er anspricht, hat er recht – angefangen von der enttäuschenden Produktivitätsentwicklung über den zunehmenden Rückstand bei disruptiven Technologien bis hin zur überbordenden Bürokratie. Überraschend ist das alles nicht, denn die Folgen werden beinahe täglich immer sichtbarer. Aber natürlich macht es einen Unterschied, wenn es ein so erfahrener und hochrespektierter „Policy-Maker“ wie Draghi aufschreibt.

So überzeugend der Befund und die Analyse von Draghi sind, so attraktiv scheinen zunächst auch seine Vorschläge zur Überwindung der ökonomischen Stagnation und Sklerose der EU zu sein. Denn sie enthalten großangelegte Investitionsprogramme und industriepolitische Ambitionen. Das klingt erst einmal nach einem „großen Wurf“ und wer wollte abstreiten, dass es in dieser Situation, in der sich die EU befindet – geopolitische Umwälzungen, technologische Entwicklungen und industrielle Transformationen stellen gerade für das geoökonomische Modell der EU enorme Herausforderungen dar –, auf einen solchen ankäme. Zu groß ist der Rückstand, zu folgenschwer sind die Konsequenzen. Draghis Handschrift verrät indes zwei Charakteristiken, die auch schon seine Zeit als Präsident der Europäischen Zentralbank prägten: Der virtuose Gebrauch einer „Whatever it takes“-Zuspitzung und der technokratische Glaube an ein politisches „Engineering“. Das hat eine eher ausgabenfreundliche und dirigistische Politik zur Folge.

Doch bei Lichte betrachtet, bilden die Vorschläge Draghis eine Art Politik-Trilemma. Er will 1) mehr europäische öffentliche Güter finanzieren, 2) eine gemeinsame Industriepolitik koordinieren und 3) den Binnenmarkt erweitern. Das geht jedoch nur dann, wenn er mindestens zwei der drei nachfolgenden Voraussetzungen dafür schafft: i) eine Erhöhung der Eigenmittel der EU, ii) eine Lockerung des Beihilferechts und iii) eine Erweiterung der Kompetenzen (siehe Abbildung oben). Doch das hätte gravierende Auswirkungen auf die Governance der EU. Das fiskalische Stabilitäts-, das ökonomische Wettbewerbs- und das rechtliche Subsidiaritätsmodell der EU müssten angepasst werden. Nicht weniger als eine neue EU wäre das Ergebnis. Das mag man angesichts der historischen Umwälzungen der Gegenwart wollen, denn es gilt, die EU aus ihrer selbstverschuldeten geoökonomischen Existenzkrise zu retten, nur sagen muss man es dann eben auch. Die Intel-Geschichte in Deutschland zeigt, wie anfällig eine solche Politik des großen Wurfs für Irrtum und Opportunismus ist.

Von der Leyens Kommission und die Suche nach der richtigen Balance

Die alte und neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sodann mit der Vorstellung ihrer neuen Kommission und vor allem dem Zuschnitt der Verantwortlichkeiten gezeigt, dass sie entschlossen ist, den Bericht von Draghi umzusetzen. Er ist gewissermaßen ihre politische Versicherung. Die Kommission trägt unverkennbar von der Leyens Handschrift: machtpolitisch geschickt und rhetorisch nicht um große Worte verlegen.

Die Wettbewerbsfähigkeit der EU steht nun zurecht ganz oben auf der Agenda. Gleich mehrere wohlklingende, fast schillernde Begrifflichkeiten ranken sich um dieses zentrale Vorhaben. Von „Prosperity“, „Preparedness“ und „Competitive Transition“ ist die Rede. Doch „Buzzword Bingo“ ist das Letzte, was die EU jetzt gebrauchen kann. Die auffällige, matrixartige Überlappung von Zuständigkeiten ist zwei Umständen geschuldet. Zum einen musste von der Leyen ein dreidimensionales machtpolitisches Puzzle lösen: eine Balance herstellen zwischen Frauen und Männern, zwischen großen und kleineren Mitgliedstaatenden und zwischen den Lagern im Europäischen Parlament. Das ist ihr zunächst – auch mit dem „Kniff“ der Exekutiv-Vizepräsidenten – gelungen. Und zum anderen ist in der vergangenen Legislaturperiode klar geworden, dass die Politikbereiche nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern große Wechselwirkungen, zum Teil sogar Zielkonflikte aufweisen. Eine stärker integrierte Betrachtung von Klimapolitik, Transformation und Wettbewerbsfähigkeit ist unbedingt notwendig, um eine bessere Balance zwischen den vielen politischen Zielen zu erreichen. Die Klimapolitik darf eben nicht einmal vorübergehend in Widerspruch zur Wettbewerbsfähigkeit geraten.

Die zunächst richtige Idee, dass bei komplexen Wechselwirkungen und politischen Zielkonflikten tragfähige Lösungen nur durch eine Auflösung starrer Ressortgrenzen möglich werden, hat allerdings auch ein konzeptionelles Risiko im Gepäck. Wenn alles mit allem zusammenhängt, muss man den politischen Mut und die persönliche Durchsetzungsfähigkeit haben, Prioritäten zu setzen und Zielkonflikte zu entscheiden. Das politische Kapital von der Leyens scheint aber begrenzt in einer Kommission der multiplen Paritäten und Zwickmühlen. Wie erfolgreich die neue Kommission sein wird, hängt entscheidend davon ab, wie klug und wie mutig sie ihre Spielräume nutzt.

Zusammenfassend gilt: Die Schlüsse, die aus den vergangenen Jahren in Draghis Bericht und von der Leyens Kommission gezogen worden sind, sind richtig: Transformation ist ein komplexer Prozess und keine ambitionierte Politik kommt ohne wirtschaftliche Stärke als deren Fundament aus. Und gewiss müssen Investitionen, die über viele Jahre nicht getätigt worden sind, dadurch nachgeholt werden, dass sie jetzt vorgezogen werden. Aber aus einer so tiefen Strukturkrise, wie sie Deutschland und die EU gerade erleben, gibt es eben auch keinen einfachen und schnellen Weg. Die generelle Stärkung von Wettbewerb, Unternehmertum und Leistungsanreizen dürfen bei aller verständlichen Euphorie über einen neuen Aufbruch nicht vergessen werden.

Prof. Dr. Henning Vöpel
Vorstand Stiftung Ordnungspolitik
Direktor Centrum für Europäische Politik

Quelle: https://www.cep.eu/