Zu Ihrem Gesamteindruck der nun vor Publikum aufgeführten „Via Crucis“ – gab es noch einmal Überraschungen für Sie?
Bei der Kunst läßt sich nie alles „vorausberechnen“, es gibt immer Überraschungen, vor allem bei Premieren. Hier war es zunächst das Publikumsverhalten. Im ersten Teil der Veranstaltung, dem Begehen der installativen Arbeiten der Studenten, staute sich der Besucherstrom plötzlich vor dem Eingang zur eigentlichen „Via Crucis“ in der Viehauktionshalle. Jedermann kramte nach seinen Eintrittskarten. Das verzögerte den Ablauf. In der Halle wiederum begann die Vorstellung zu spät, technische Pannen im Hintergrund waren schuld.
Das war freilich nicht weiter gravierend, da die Besucher sich ohnehin an das Ambiente gewöhnen sollten. Dann lief die Vorstellung programmgemäß. Überraschend im positiven Sinn war die Stille im Publikum nach dem Ende der Musik und der Bilder. Es rührte sich lang keine Hand, erst langsam begann der Applaus. Diese Reaktion schien mir richtig und plausibel nach dem Erleben einer ergreifenden Passionsgeschichte.
Robert Wilson hatte im Vorfeld der Premiere gesagt, dass Religion nicht auf die Bühne gehöre und sich deshalb stattdessen für das jetzige
Konzept entschieden. Inwieweit hat dieses aus Ihrer Sicht die Religiosität bzw. den spirituellen Inhalt des Stücks zum Ausdruck gebracht?
Religion gehört in die Kirche bzw. in die Innerlichkeit der Menschen. Auch wenn sich die Kunst zur Dienerin religiöser Inhalte macht, tritt auf der Bühne immer ein fremdes, die Imagination in Bilder pressendes Moment hinzu. Damit muß man umgehen. Kunst muß auf eigene Weise bewegen und die spirituelle Stimmung, die durch die Musik hervorgerufen wird, verstärken.
Das Problem besteht dann aber darin, daß die geistigen Inhalte nicht durch Bilder verdoppelt werden sollte; das wäre banal. Wilsons abstrakte Bildersprache erfüllt diese schwierige Aufgabe meiner Meinung nach wunderbar. Daß nur zum Kreuzestod Christi ein konkretes Bild gezeigt wird, das langsame Sterben eines Tieres, hebt die Situation ins Allgemein-Kreatürliche, beweist auch eine gewisse Schamhaftigkeit gegenüber der überbordenden Ikonographie von Christi Kreuzestod durch die Jahrhunderte.
Daß wir zuerst durch die medienkünstlerische Hölle unserer Tage wie durch ein „Purgatorium“ hindurch müssen, steigert die Wirkung der Stille im eigentlichen Raum und die Konzentration auf das Wesentliche des Oratoriums.
Liszt war als Komponist epochenbildend, wies u.a. mit seiner „sinfonischen Dichtung“ weit in die musikalische Zukunft. Inwieweit ist die Inszenierung der „Via Crucis“ eine Werbung für Liszt im postmodernen 21. Jahrhundert?
Liszts „Via Crucis“ wurde erst langsam als musikalisch ungewöhnliches Kunstwerk anerkannt. Man hat nicht verstanden, daß es gerade die Collage von heterogenem musikalischen Material war, die die Modernität dieses Stückes ausmacht. In welchem geistlichen Werk fände man eine solch kühne Mischung von Gregorianik, protestantischen Chorälen, Worten von Pilatus und Jesus, und einer Musik, die „das Verschwinden“ auf so sparsame, bewegende Weise darstellt? Erst die postmoderne Sensibilität weiß solche Techniken zu schätzen. Deshalb mache ich mit der „Via Crucis“ gern einmal in großem Maßstab „Werbung“ für Franz Liszt.
Dr. Nike Wagner, aufgewachsen in Bayreuth, ist Ururenkelin des Komponisten Franz Liszt, Urenkelin von Richard Wagner und Tochter Wieland Wagners.
Sie studierte Musik-, Theater- und Literaturwissenschaft in Berlin, Chicago, Paris und Wien.
Seit 1975 arbeitet Nike Wagner als freiberufliche Kulturwissenschaftlerin und wirkt an internationalen Symposien und Kolloquien mit. Als Autorin wurde sie bekannt durch ihre Arbeiten zur Kultur- und Geistesgeschichte der europäischen Jahrhundertwende, als Kritikerin und Essayistin durch ihre Auseinandersetzung mit Richard Wagner und Bayreuth. Wagners Werk im Kontext der deutschen Zeitgeschichte sowie die Verflechtung von Familien-, Werk- und Kulturgeschichte sind Thema ihrer Publikationen »Wagnertheater« (1982) und »Traumtheater« (2001).
Nike Wagner war zwischen 1985 und 1987 Mitglied des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Ab 1999 war sie Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, seit Oktober 2011 ist sie deren Vizepräsidentin. 2003 wurde sie zur Sachverständigen der Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestags gewählt.
Seit 2004 ist Nike Wagner künstlerische Leiterin von »pèlerinages« Kunstfest Weimar.
Das Interview führte Dr. Liane Bednarz für die Gesellschaft Freunde der Künste.
Quelle: http://www.freundederkuenste.de/aktuelles/exklusiv-interviews/einzelansicht/article/dr_nike_wagner_die_kuenstlerische_leiterin_des_pelerinages_kunstfests_weimar_im_interview_mit_de.html
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