Douglas „Ordnungsgemäße Überführung“

Der irisch-amerikanische Historiker R.M. Douglas (48), der an der Colgate University in Hamilton bei New York lehrt, hat ein einzigartiges Werk über Flucht und Vertreibung der Deutschen 1944/47 geschrieben. Einzigartig ist das 560 Seiten umfangreiche Geschichtswerk deshalb, weil der Autor, 67 Jahre nach Kriegsende 1945, dieses Jahrhundertthema noch einmal aufgegriffen hat, versehen mit neuem Material aus tschechischen, polnischen und russischen Archiven, das erst nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Staatenwelt der Forschung zugänglich gemacht werden konnte; einzigartig aber auch deshalb, weil der Autor ein solches Buch, bei dessen Abfassung er über eine weit günstigere Quellenlage verfügte als vor 1989/90, seit Jahren schmerzlich vermisst hat, um es dann, von Freunden und Kollegen gedrängt, selbst zu schreiben; und einzigartig schließlich auch deshalb, weil hier die Initiative, unter neuen Aspekten über Flucht und Vertreibung nachzudenken,, von einem ausländischen, also biografisch nicht belasteten Forscher ausging, während deutsche Historiker diesem schwierigen Thema, von Ausnahmen abgesehen, seit Jahren ausweichen. So vermerkt R. M. Douglas in der Einleitung einen „bei deutschen wie nichtdeutschen Forschern vorhandenen Widerwillen“ (S. 14) gegen eine gerechte Bewertung dieses ungeheuerlichen Vorgangs, weil im Ausland bis heute die Meinung vorherrsche, die Deutschen wären mit Landverlust und Vertreibung einer seit dem Hochmittelalter ansässigen Bevölkerung zu Recht für die Verbrechen des Nationalsozialismus bestraft worden!
Dass diese schlichte Rechnung, um den Begriff „Aufrechnung“ zu vermeiden, nicht aufgeht und auch nicht aufgehen kann, zeigt nicht zuletzt dieses Buch, dessen Titel dem Text des „Potsdamer Abkommens“ vom 2. August 1945 entnommen ist. So ist es nur folgerichtig, dass das erste der 13 Kapitel den Titel „Der Planer“ (S. 20-59) trägt und einem Mann gewidmet ist, der als tschechischer Politiker im Londoner Exil 1938/45 die Vertreibung der 3,5 Millionen Sudetendeutschen genauestens geplant, logistisch vorbereitet und in grausamster Weise durchgeführt hat: Eduard Benesch (1884-1948). Für das zehnte Kind eines verarmten Kleinbauern, der die Politik schon vor dem Untergang der Habsburger Monarchie zu seinem Beruf gemacht hatte, wurde die Eliminierung der deutschen Minderheit, die nach den Tschechen immerhin die zweitgrößte Volksgruppe vor den Slowaken und Ungarn war, zur Lebensaufgabe. Als Außenminister der noch jungen Tschechoslowakei wurde er nach dem Ersten Weltkrieg zu den Friedensverhandlungen mit dem besiegten Deutschland nach Versailles geschickt und konnte dort durchsetzen, dass im Vertrag vom 28. Juni 1919 den Sudetendeutschen kein Selbstbestimmungsrecht zugestanden wurde. Als die sudetendeutschen Gebiete am 1./2. Oktober 1938 dem „Dritten Reich“ angegliedert worden waren, was er als Zerstörung seines Lebenswerks empfand, ging er am 5. Oktober nach London ins Exil, musste aber zwei Tage später in der „Times“ lesen, dass der Anschluss „notwendig und grundsätzlich gerecht gewesen“ wäre. In seinen sieben Londoner Jahren arbeitete er ununterbrochen daran, dem englischen Außenminister Sir Anthony Eden deutlich zu machen, dass ein Verbleben der Sudetendeutschen nach 1945 in der Tschechoslowakei eine unzumutbare Forderung wäre. Schon 1940 hatte er in London eine Exilregierung gebildet und am 27. Oktober 1943 in einer Rundfunkrede verkündet: „Den Deutschen wird mitleidlos und vervielfacht all das heimgezahlt werden, was sie in unseren Ländern seit 1938 begangen haben.“ Mit dem von der tschechischen Exilregierung unter Eduard Benesch geplanten und in Auftrag gegebenen Attentat vom 27. Mai 1942 auf Reinhard Heydrich (1904-1942), den stellvertretenden „Reichsprotektor“ von Böhmen und Mähren, konnte der tschechische Exilpolitiker seinen Einfluss auf die britische Außenpolitik stärken und der Politik der Aussiedlung den Weg bereiten.
Wer dieses Buch liest, muss sich auf eine völlig neue Sichtweise einstellen! Nicht mehr die deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung, die vergewaltigten Frauen, die erfrorenen und verhungerten Kinder, stehen im Mittelpunkt der Untersuchung, sondern die Täter und ihre Auftraggeber in Moskau, London und Washington: neben Eduard Benesch also Josef Stalin (1879-1953), Winston Churchill (1874-1965) und Franklin Roosevelt (1882-1945). Das ist eines der herausragenden Verdienste dieses Buches und seines Autors, das hier die Mitverantwortung der Westmächte an diesem namenlosen Unglück der zwölf Millionen Vertriebenen aus den preußischen Ostprovinzen und dem Sudetenland benannt werden. Benannt nicht im Sinne polemischer Behauptungen, sondern beweiskräftig belegt nach intensivem Aktenstudium in den Archiven der Siegermächte, auch in amerikanischen und britischen.
Der belesene Autor findet unzählige Beispiele dafür, wie seit Beginn der Menschheitsgeschichte ganze Völker umgesiedelt und vertrieben wurden, bis ins Alte Testament hinein, und wird besonders fündig im römischen Weltreich und im zaristischen Russland. So wurden nach 1860 unter Zar Alexander II. (1818-1881) die Tataren aus dem Nordkaukasus und unter Stalin 1944 die auf der Halbinsel Krim wegen Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht deportiert. Auch die 1941 verfügte Vertreibung der Russlanddeutsche unter entsetzlichen Begleitumständen nach Sibirien war gängige Praxis schon vor 1917 und folgte einem tradierten Muster. Für die nach 1944/45 betroffenen Deutschen mag das ein nur schwacher Trost sein! Die Verursacher dieser unmenschlichen Politik, ob sie nun in Moskau oder London ansässig waren, waren an der Art und Weise, wie das „Potsdamer Abkommen“ vom 2. August 1945, das eindeutig die Handschrift Josef Stalins trug, umgesetzt wurde, höchst desinteressiert. Sie standen im Siegestaumel, es gab übergeordnete Gesichtspunkte wie die Erhaltung der brüchig werdenden Allianz der Siegermächte. Zudem beruhte, und hier zitiert der Autor wiederholt Stimmen aus angelsächsischen Quellen, die politisch-moralische Einschätzung dieses entsetzlichen Vorgangs auf der Annahme einer Kollektivschuld der Deutschen, die hier nur für ihre Verbrechen im Zweiten Weltkrieg bestraft würden.
Um diese Denkweise zu verdeutlichen, sei hier angeführt, was der britische Diplomat und Polenspezialist Robin Hankey am 11. Juli 1947 an einen Kollegen schrieb, nachdem er den Bericht eines deutschen Opfers über Misshandlungen und Unterernährung im polnischen Nachkriegslager Potulitz bei Bromberg gelesen hatte: „Ich bin auch der Meinung, dass die Bedingungen…schrecklich sind. Ich wäre sehr viel tiefer bewegt gewesen, wenn ich nicht selbst die Vernichtungslager in Majdanek und Auschwitz gesehen…hätte…kann ich nicht viel Mitgefühl für die armen Deutschen entwickeln, obwohl ich ihre Behandlung ablehne.“
Was dieses Buch vor allen anderen, die dem gleichen Thema gewidmet sind, auszeichnet, ist die klare Erkenntnis, dass deutsches Leid, wie es durch Flucht und Vertreibung millionenfach erzeugt wurde, in den frühen Nachkriegsjahren immer nur als Vergeltung für deutsche Verbrechen gesehen wurde. Diese Sichtweise ist bis heute auch in der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Geschehens nachweisbar. Erst R.M. Douglas, der weder durch seine Biografie noch als Zeitzeuge des Kriegsendes 1945 mit Deutschland verbunden ist, hat dieses Denksystem falscher Zuordnungen und nur fiktiver Kausalitäten aufgebrochen. Von dieser Position aus versteht man auch, warum er die Zeugenaussagen deutscher Betroffener, er nennt sie „Opfererzählungen“, nicht einbezieht: Sie würden, so abwegig es klingt, seinen überzeugenden Diskurs, die Täter von damals zu überführen, nur stören! Auch seine für Deutsche vielleicht unverständliche Auseinandersetzung mit dem Historiker Theodor Schieder (1908-1984) und seiner bis heute unübertroffenen „Dokumentation der Vertreibung“ (1953/61) erklärt sich aus dieser Sicht, auch wenn er dabei so überragende Zeugnisse wie Hans Graf Lehndorffs „Ostpreußisches Tagebuch“ (1961)und Marion Gräfin Dönhoffs Bericht „Namen, die keiner mehr nennt“ (1962) bei Seite schiebt. Dass der Autor mit seinem anspruchsvollen und höchst lesenswerten Buch auf der Seite der Opfer steht, zeigt eine schlichte Briefmarke der Deutschen Bundespost auf Seite 429, die den Betrachter anrührt: „Zehn Jahre Vertreibung 1945-1955“.

R.M.Douglas „Ordnungsgemäße Überführung. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg“, Verlag C. H. Beck, München 2012, 560 Seiten, 29.95 Euro

Über Jörg Bernhard Bilke 263 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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