Doppelsuizide sind eher selten und machen weniger als zwei Prozent an der Gesamtzahl von Suiziden aus. Bei einer Zahl von 9.206 Suiziden im Jahr 2020 gab in diesem Jahr etwa 150 Doppelsuizide. Im öffentlichen Bewusstsein tauchen sie häufiger auf, weil sie in den Medien mehr präsent sind. Sie erscheinen im Film, in der Literatur und in Zeitungsberichten. Kürzlich waren in der FAZ und anderen Zeitungen Berichte über den Doppelsuizid des Ehepaares Cynthia und Rolf Rackles in Heidelberg, die im Jahr 2021 nach 60 Jahren gemeinsamer Ehe mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation gemeinsam aus dem Leben gingen. Doppelsuizide von prominenten Ehepaaren wurden bislang nicht in Deutschland durchgeführt, weil hier nach Rechtslage eine strafrechtliche Verfolgung drohen konnte. Die Prominenten-Suizide der letzten Jahrzehnte geschahen deshalb alle in europäischen Nachbarländern. Der erste in Deutschland öffentlich ausführlich präsentierte Doppelsuizid des Ehepaares Rackles dürfte mit der Aufhebung des Sterbehilfegesetzes von 2015 durch das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 zusammenhängen.
Differenzierung von Doppelsuizid, erweitertem Suizid und Homocide-Suicide
In den vergangenen Jahrzehnten kommt es in den westlichen Ländern immer häufiger vor, dass Ehepaare, die jahrzehntelang miteinander gelebt haben, gemeinsam aus dem Leben scheiden. Sie setzen geplant und aktiv ihrem Leben ein Ende. Je nachdem, wie die Tatherrschaft bei der suizidalen Handlung aussieht, gibt es verschiedene Konstellationen (Csef 2016). Ein echter Doppelsuizid liegt vor, wenn sich beide Ehepartner gleichzeitig jeweils selbst suizidieren – in einer gemeinsam geplanten und durchführten Aktion. Es gab eine Reihe von Doppelsuiziden von prominenten Ehepaaren, die sich gleichzeitig eine Plastiktüte über den Kopf zogen und erstickten. Der Schriftsteller Arthur Koestler und seine Ehefrau wählten diese Todesart und auch der Istvan Adorjan und seine Ehefrau. Im Film „Satte Farben vor Schwarz“ injizieren sich Bruno Ganz und Senta Berger gleichzeitig Insulin in einer tödlichen Dosis. Es gibt mehrere Doppelsuizide in Form von assistiertem Suizid durch Sterbehilfeorganisationen. Dies wird in der Schweiz angeboten.
Von einem erweiterten Suizid spricht man bei Ehepaaren, wenn z.B. der Ehemann die Frau tötet und anschließend sich selbst umbringt. Tötet er sie auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin, so spricht man von Tötung auf Verlangen mit anschließendem Suizid. Im angloamerikanischen Sprachraum wird hierfür meist der Terminus „homicide-suicide“ verwendet (Csef 2016). Im europäischen Vergleich sind die Doppelsuizide von Ehepaaren nach jahrzehntelanger Ehe in Frankreich am häufigsten.
Abzugrenzen vom Doppelsuizid ist die Tötung des Liebespartners (Intimizid) – meist aus Tatmotiven der Rache, Eifersucht, Hass oder Vergeltung – und anschließenden Suizid des Täters. Die meist männlichen Täter löschen nicht selten die ganze Familie aus – töten zuerst die Kinder, dann die Ehefrau und schließlich sich selbst. In Presseberichten ist hier oft von Familientragödien die Rede. Die Suizidforschung spricht in diesem Kontext auch von „Mitnahme-Suizid“. In diesen tragischen Konstellationen kam es oft zu einem Umschlag von Liebe in Hass.
Bei den Doppelsuiziden von Paaren nach jahrzehntelanger Ehe in diesem Beitrag geht es im Gegenteil darum, dass zwei Menschen, die sich immer noch lieben und von denen einer oder beide schwer krank sind, gemeinsam aus dem Leben scheiden wollen. Gemeinsame Verbundenheit, Liebe und Intimität trotz allem Leiden prägen hier den Todeswunsch. Das unerträgliche Leiden des Liebespartners ist hier das wesentliche Motiv.
Doppelsuizide von prominenten Ehepaaren
Der erste spektakuläre Doppelsuizid eines langjährigen Ehepaares war im Jahr 1981 jener des niederländischen Psychiatrieprofessors Nico Speijer. Es gab es vorher berühmte Doppelsuizide wie jene von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel oder von Stefan Zweig und seiner Ehefrau. Beide waren jedoch nicht oder noch keine Jahrzehnte ein Ehepaar. Im Jahr 1983 war der Doppelsuizid des Schriftstellers Arthur Koestler und seiner Ehefrau Cynthia. Der Sozialphilosoph André Gorz und seine Ehefrau Dorine suizidierten sich im Jahr 2007. Eine ausführliche Darstellung der drei genannten und weiterer Doppelsuizide von Paaren nach jahrzehntelanger Ehe finden sich in der Übersichtsarbeit von Herbert Csef (2016).
Im Rahmen von assistierter Sterbehilfe durchgeführte Doppelsuizide
Paare, die gemeinsam aus dem Leben gehen wollen, sich die aktive Selbsttötung nicht zutrauen, können dies durch assistierte Sterbehilfe mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation durchführen lassen. Dies wird innerhalb Europas bevorzugt in der Schweiz ermöglicht. Der Manager und Politiker Eberhard von Brauchitsch und seine Ehefrau sowie der berühmte britische Dirigent Edward Downes und seine Ehefrau wählten diese Variante des Doppelsuizides. Nach dem FAZ-Bericht von Eva Schläfer wurde der Doppelsuizid von Cynthia und Rolf Rackles in Heidelberg im Jahr 2021 ebenfalls durch einen Sterbehilfeverein durchgeführt. Dies war in Deutschland bislang verboten. Durch das eindeutige Votum des Deutschen Bundesverfassungsgerichtes für Selbstbestimmtes Sterben und Suizidbeihilfe ist im Februar 2020 eine neue Rechtslage geschaffen worden, allerdings mit einer Grauzone bis ein neues rechtsgültiges Gesetz von Deutschen Bundestag verabschiedet wurde.
„Liebe“ – der Doppelsuizid im preisgekrönten Film vom Michael Haneke
Der preisgekrönte Film „Liebe“ von Michael Haneke beginnt damit, dass die Feuerwehr eine Wohnungstüre aufbricht. Darin liegt die Leiche einer Frau, feierlich im Schlafzimmer „aufgebahrt“. In dem bedrückenden Film wird das Ehepaar Georges und Anne gezeigt. Sie sind um die 80 Jahre alt und haben Jahrzehnte miteinander als Ehepaar gelebt. Beide sind musisch sehr begabt und waren in ihrer aktiven Zeit Musikprofessoren. Das Paar hatte eine große und sehr gut ausgestattete Stadtwohnung. Eines Morgens wirkt Anne wie abwesend und geistig verwirrt. Es wird eine verengte Halsschlagader festgestellt, die zu Durchblutungsstörungen im Gehirn geführt hat. Kurze Zeit später hat sie einen Schlaganfall und kehrt aus dem Krankenhaus im Rollstuhl als Pflegefall zurück. Anne möchte nicht in ein Heim und will von ihrem Ehemann Georges gepflegt werden, der dies sehr lange liebevoll und aufopferungsbereit tut. Der Gesundheitszustand von Anne verschlechtert sich von Woche zu Woche. Beide sind mittlerweile komplett isoliert und sind zunehmend hilflos und verzweifelt. Schließlich lässt das Sprachvermögen von Anne nach und sie kann sich fast nicht mehr artikulieren. Sie weigert sich zu essen und zu trinken und ruft oft stundenlang um Hilfe. Irgendwann hält es der total verzweifelte Georges nicht mehr aus und erstickt seine Ehefrau Anne mit einem Kissen. Anschließend suizidiert er sich selbst.
Die Uraufführung des Filmes erfolgte am 20. Mai 2012 im Rahmen der 65. Filmfestspiele von Cannes. Er gewann dort mit der Goldenen Palme den Hauptpreis des Filmfestivals. In den Folgejahren erhielt er mehr als 40 Filmpreise, darunter im Jahr 2013 einen Oscar als bester fremdsprachiger Film.
Der Film hat eine außergewöhnliche Entstehungsgeschichte. Michael Haneke ist nicht nur der Regisseur des Films, er hat auch selbst das Drehbuch dazu geschrieben. Damit hat er sich fast zehn Jahre „rumgequält“. Auslöser oder Anlaß für den Film und das Drehbuch war der Suizid seiner 90jährigen Tante, die ihn als Kind aufgezogen hat. Die Tante lebte alleine, fühlte sich vereinsamt und hatte wegen eines schweren Rheumas oft Schmerzen. Ihr Suizid hat Michael Haneke sehr bewegt und irritiert. Wie im Film ging es ihm mit seiner Tante um das Leiden eines geliebten Menschen. Die Protagonistin des Films Anne hatte auch ein schweres und unheilbares Leiden. Ihr Mann Georges musste ebenso wie Michael Haneke mit dem Leiden eines geliebten Menschen umgehen lernen. Deshalb auch der Filmtitel „Liebe“.
„Satte Farben vor Schwarz“ – Senta und Bruno Ganz zeigen einem Doppelsuizid im Film
Der Film „Satte Farben vor Schwarz“ ist der erfolgreichste deutsche Film zum Thema Doppelsuizid von Langzeit-Ehepaaren. Er zeigt ein Beziehungsdrama am Lebensende. Der männliche Protagonist Fred wird im Film von Bruno Ganz gespielt, die weibliche Hauptrolle spielt Senta Berger als Anita. Beide sind seit fast 50 Jahren verheiratet, haben zwei Kinder und mehrere Enkelkinder. Die Diagnose eines Prostatakarzinoms verschweigt Fred zuerst und zeigt stattdessen ein für Anita irritierendes und auffälliges Verhalten: er zieht sich zurück, mietet heimlich eine Zweitwohnung und sitzt dort stundenlang allein sinnierend. Anita ist zuerst eifersüchtig und vermutet, er habe eine Geliebte. Weiterhin konfrontiert er seine Ehefrau damit, dass er sich gegen eine radikale Prostata-Operation entschieden habe, weil der seine letzten Lebensjahre nicht als Patient verbringen wolle. Anita fühlt sich durch Freds Vorgehen tief verletzt, ausgeschlossen und im Stich gelassen. Sie kann seine eigenmächtigen Entscheidungen ohne Rücksprache mit ihr nicht akzeptieren. Die Dialoge zwischen beiden werden immer schwieriger und konfliktreicher. Die Ehekrise eskaliert. Anita trennt sich räumlich von Fred und zieht zeitweise in ein Seniorenheim. Die Abiturfeier ihrer gemeinsamen Enkelin Yvonne wird zum Anlass einer Wiederannäherung. Sie tanzen ausgelassen miteinander und mit anderen. Die folgende Nacht verbringen sie nicht in ihrer eigenen Villa, sondern in einem Hotel. Danach gehen sie gemeinsam in die neue und noch leerstehende Zweitwohnung Freds. Dort setzen sie sich – beide sehr wortkarg – nebeneinander auf die Couch und injizieren sich gleichzeitig und jeder für sich eine Spritze mit einer tödlichen Substanz in den Arm.
Der Film der Regisseurin Sophie Heldmann wurde erstmals im Jahr 2011 in Deutschland gezeigt. Er gehörte zu den 50 erfolgreichsten Filmproduktionen des Jahres. Zwei Jahre später wurde er im deutschen Fernsehen in der ARD ausgestrahlt. Die Regisseurin Heldmann hat sich jahrzehntelang mit dem Thema des Doppelsuizids von Ehepaaren beschäftigt. Als sie zehn Jahre alt war, suizidierte sich ein befreundetes Nachbar-Ehepaar. Das Thema ihrer Abschlussarbeit an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin befasste sich ebenfalls mit Doppelsuizid. Wie bei Michal Haneke spielte die persönliche Betroffenheit durch Suizid bzw. Doppelsuizid bei Verwandten oder Bekannten eine bedeutende Rolle für die Entstehung des Films.
„Eine exklusive Liebe“ – Doppelsuizid im Roman von Johanna Adorjan
Die erfolgreiche deutsche Journalistin und Schriftstellerin Johanna Adorjan veröffentlichte im Jahr 2009 ein Buch über den Doppelsuizid ihrer Großeltern, das große Beachtung gefunden hat. Das Werk ist eine eindrucksvolle Kombination von Beziehungsroman und einer psychologischen Analyse. Der Beziehungsroman zeigt die Lebens- und Leidensgeschichte ihrer Großeltern. Die psychologische Analyse gleicht einer „psychologischen Autopsie“ wie sie in der Suizidforschung erfolgt. Sie soll das ganze Bündel der Motive und Ursachen „aufdecken“ oder ergründen, die zu einem Suizid geführt haben.
Der Großvater von Johanna Adorjan, Istvan Adorjan war Arzt jüdischer und ungarischer Herkunft. Er studierte Medizin in Wien und wurde Orthopäde. Während der Kriegszeit heiratete er seine Frau Veronika und sie lebten in Budapest. Als im März 1944 die deutschen Truppen Ungarn besetzten, wurde er wegen seiner jüdischen Herkunft in KZ Mauthausen verschleppt. Er überlebte das Konzentrationslager und lebte nach Kriegsende wieder mit seiner Ehefrau in Budapest. Als im Jahr 1956 nach dem Ungarn-Aufstand mit dem Einmarsch der russischen Truppen wieder ein totalitäres System drohte, floh das Ehepaar ins Exil nach Dänemark. Dort lebten 35 Jahre in fast ausschließlicher Zweisamkeit – deshalb der Buchtitel „Eine exklusive Liebe“. Sie waren ganz eng aufeinander bezogen und hatten wenig Kontakte nach außen. Als Istvan krank wurde (Herz- und Atmungskrankheiten) und sich sein Gesundheitszustand verschlechterte, entschieden sie sich dafür gemeinsam aus dem Leben zu gehen. Sie informierten sich ausführlich über Suizidarten und Doppelsuizide von Paaren. Dabei wurde der Doppelsuizid von Arthur und Cynthia Koestler zu ihrem Vorbild. Sie bereiteten alles minutiös vor, inszenierten alles wie Koestler und brachten sich auf dieselbe Weise um (jeder mit Plastiktüte über den Kopf, Tod durch Ersticken). Ihr Doppelsuizid geschah am 13. Oktober 1991 – also 46 Jahre nach der Befreiung Istvans aus dem KZ Mauthausen. Der Suizid von Istvan Adorjan steht in einer langen Reihe von anderen Suiziden von Holocaust-Überlebenden, die sich meist vier bis fünf Jahrzehnte nach der Befreiung suizidierten (späte Suizide, Übersicht bei Csef 2014).
Der assistierte Doppelsuizid von Cynthia und Rolf Rackles im Jahr 2021 in Heidelberg
Am 5. Juli 2021 gab es in Heidelberg einen Großeinsatz von Polizei, Feuerwehr und Notarztwagen. Die Kinder eines verstorbenen Ehepaares meldeten zwei Leichen unter der Nummer 110. Eine Riesenarmada von Noteinsatzwägen raste mit Blaulicht zum Wohnort, an dem die „Kinder“ warteten. Eines der Kinder ist der 56jährige Mark Rackles, ehemaliger Bildungssenator im Berliner Senat (in den Jahren 2011 bis 2019). Was war geschehen? Der 90 Jahre alte Rolf Rackles und seine 85 Jahre alte Ehefrau Cynthia sind gemeinsam als Ehepaar aus dem Leben gegangen. Mit Hilfe eines Sterbehilfevereins. Die Vorgänge vom 5. Juli 2021 wurden fast ein Jahr später von Eva Schläfer in der FAZ ausführlich berichtet. Aus ihrer Darstellung geht hervor, dass dem Doppelsuizid jahrelange Diskussionen vorausgingen, weil das Ehepaar dieses Vorhaben ausführlich mit den drei Kindern Mark, Melanie und Jennifer besprochen hat. Die Schilderungen erinnern sehr an den ausführlichen Artikel von Martin Beglinger in der NZZ aus dem Jahre 2019, in dem der Autor ebenfalls den Doppelsuizid seiner Eltern durch die Schweizer Sterbehilfeorganisation Exit darstellt. Berlinger beschreibt auch den langen Entscheidungsprozess der hochbetagten Eltern und das Einbeziehen der Kinder in diese Gespräche. Allerdings ging es in der Schweiz deutlich professioneller, stiller und würdevoller zu. Also ohne Blaulicht, Notarzt und Feuerwehr. Die Schweiz hat jahrzehntelange Routine in diesen Dingen. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 ein sehr deutliches Votum für Selbstbestimmtes Sterben und Suizidbeihlife verkündet. Dem Deutschen Bundestag ist es bis heute nicht gelungen, den Auftrag des höchsten Gerichtes umzusetzen und ein neues rechtsgültiges Gesetz zu verabschieden. Bis dahin bleiben in Deutschlang Unsicherheit, Grauzone und Blaulicht.
Warum ein ausführlicher Artikel über diesen Doppelsuizid in der FAZ? Wertvoll und wichtig ist er allemal, zumal ja für die Betroffenen, die vor solchen Entscheidungen stehen, viele und quälende offene Fragen bestehen. „Hand in Hand einzuschlafen, das war eine Erlösung“ ist da zu lesen. In der gemeinsamen Todesanzeige des Ehepaare Rackles finden sich die folgenden eindrucksvollen Worte:
„In 60 Jahren Ehe führten sie ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben. Trauernd, aber voller schöner Erinnerungen verabschieden wir uns.“
Als Leitmotiv der Traueranzeige steht oben der folgende Satz von William Shakespeare:
„The stroke of death is a a lover’s pinch, which hurts and is desired.
Krankheit, Einsamkeit, Verzweiflung und andere Motive für einen späten Doppelsuizid
Generell ist die Suizidrate stark abhängig von Alter und Geschlecht. Bei Männern im höheren Lebensalter ist sie deutlich am höchsten. Das meist komplexe Bündel von Motiven und Ursachen hat in den häufigsten Fällen einen Zusammenhang mit Krankheit, Einsamkeit und Verzweiflung. Doppelsuizide sind insgesamt selten und der Doppelsuizid von Paaren nach jahrzehntelanger Ehe ist natürlich noch viel seltener, da es noch viele andere Formen von Doppelsuiziden gibt, z.B Doppelsuizide von jungen Liebespaaren in einer schweren Krise oder andere Paarkonstellationen. In Zeiten von Krieg, Verfolgung und Terror sind Doppelsuizide von Paaren häufig, die qualvoller und grausamer Vernichtung entgehen wollen. Während des Vernichtungsterrors des Nazi-Regimes gegen die Juden gab es viele Doppelsuizide von jüdischen Paaren. Nicht wenige trugen immer Zyankali-Kapseln mit sich, um sich beim Anmarsch der Gestapo rechtzeitig zu vergiften unter dem Motto – lieber gemeinsam sterben als in der Gaskammer vernichtet werden. Der bekannte Heidelberger Psychiater und Philosoph Karl Jaspers und seine jüdische Ehefrau Getrud lebten jahrelang mit ihrer Zyankali-Kapsel.
Die ersten Doppelsuizide von Prominenten-Ehepaaren waren jene von Nico Speijer und Arthur Koestler, jeweils gemeinsam mit ihren Ehefrauen in den Jahren 1981 und 1983. Sie waren innerhalb Europas die Pioniere hierfür. Sie hatten noch mehrere Gemeinsamkeiten: sie waren beide sehr bekannt – Nico Speijer als einer der angesehensten Psychiatrieprofessoren seiner Zeit und Arthur Koestler als einer der erfolgreichsten britischen Schriftsteller. Beide waren jahrzehntelang für Suizidbeihilfe aktiv: Speijer war einer der renommiertesten Suizidexperten, der die liberale Sterbehilfe-Gesetzgebung in den Niederlanden wesentlich förderte. Koestler engagierte sich viele Jahre in einer britischen Freitod-Vereinigung und war lange deren Vizepräsident. Beide waren zum Suizidzeitpunkt fast 80 Jahre alt und beide waren lebensbedrohlich an Krebs erkrankt (Leukämie bei Arthur Koestler, fortgeschrittener Darmkrebs bei Nico Speijer).
Die lange Reihe von Doppelsuiziden von Paaren nach jahrzehntelanger Ehe ist unauflösbar verwoben mit der Entwicklung der Sterbehilfe in Europa und entsprechenden gesetzlichen Regelungen. Beide Entwicklungsprozesse beginnen in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts (Csef 1998, 2001). Eine liberale Sterbehilfegesetzgebung in den Niederlanden und die Gründung von Sterbehilfeorganisationen wie Dignitas oder Exit in der Schweiz waren der Auftakt. Assistierter Suizid und aktive Sterbehilfe sind in Deutschland bis vor kurzem verboten gewesen und wurden strafrechtlich verfolgt. Es folgte deshalb ein Sterbehilfe-Tourismus, bevorzugt in die Schweiz und in die Niederlande (Csef 2019, 2021). Die Ehepaare von Brauchitsch und Edward Downes mussten wie viele andere in die Schweiz fliegen, um Suizidassistenz zu erhalten. Die Ehepaare Nico Speijer, Arthur Koestler oder Istvan Adorjan haben selbst „Hand an sich gelegt“. Die Entscheidungsprozesse am Lebensende sind immer sehr schwierig und ambivalent, wenn man nicht schicksalsergeben auf einen natürlichen Tod warten will. Gemeinsam als Paar aus dem Leben gehen – das geht halt nicht auf dem Weg des natürlichen Todes. Das erfordert mutiges Entscheiden und aktives Handeln. Aus den obigen Ausführungen geht hervor, wie vielfältig die Varianten, Todesarten, Entscheidungsprozesse und beteiligte Akteure sind. Was allen Todesarten gemeinsam ist, ist die zunehmende Einsamkeit am Lebensende. Der Soziologe Norbert Elias (1982) hat bereits von mehr als viere Jahrzehnten eindrucksvoll die Einsamkeit der Sterbenden beschrieben. Ernst Engelke (2012), Herbert Csef (2018) und Noreena Hertz (2021) haben die neuen Herausforderungen der Einsamkeit am Lebensende im 21. Jahrhundert ausführlich dargelegt. Suizid, assistierter Suizid und Doppelsuizid am Lebensende werden oft als „Notausgang“ oder „letzter Ausweg“ beschrieben. Humanes würdevolles Sterben als Selbstbestimmtes Sterben und eine neue Kunst des Sterbens (ars moriendi) wären ein wünschenswertes Ziel und eine Hoffnung für die Zukunft.
Literatur
Adorjan, Johanna (2009), Eine exklusive Liebe. München: Luchterhand
Beglinger, Martin (2019), Wenn Eltern gemeinsam aus dem Leben scheiden. Neue Züricher Zeitung vom 8. 2. 2019
Csef, Herbert (1998), Suizid verhindern oder Beihilfe zum Suizid? Psychiatrische Aspekte der „Physician assisted suicide“. Nerverheilkunde 17, S. 135 – 142
Csef, Herbert (2001), Euthanasia as an Ethical Problem – Between Taboo and Discourse. Ethical aspects. In: Sohn, W., Zenz, M. (Eds.) Euthanasia in Europe – National Laws, medical guidelines and ethical aspects. Stuttgart, New York: Schattauer, S. 71 – 80
Csef, Herbert (2014), Späte Suizide von Holocaust-Überlebenden. Primo Levi, Jean Amery, Ehepaar Adorjan. Psychotherapie im Alter. Heft 4 , S. 553 – 563
Csef, Herbert (2016), Doppelsuizide von Paaren nach langer Ehe. Verzweiflungstaten oder Selbstbestimmung bei unheilbaren Krankheiten? Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik. Jahrgang 2016, Ausgabe 1, S. 1 – 10
Csef, Herbert (2018), Die Einsamkeit der Sterbenden. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik. Jahrgang 2018, Ausgabe 2: 1-10
Csef, Herbert (2019), Neuere Entwicklungen der Sterbehilfe in den Niederlanden, Belgien und in der Schweiz. Suizidprophylaxe, Jahrg. 46, Heft 1, S. 28 – 32
Csef, Herbert (2021), Chronik eines angekündigten Suizids. Tod und Sterben von Fritz J. Raddatz. Tabularasa Magazin vom 24. Juni 2021
Elias, Norbert (1982), Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. Humana conditio. Berlin: Suhrkamp
Engelke, Ernst (2012), Gegen die Einsamkeit Sterbenskranker. Freiburg: Lambertus
Hertz, Noreena (2021), Das Zeitalter der Einsamkeit. Über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt. Hamburg: Harper Collins Deutschland
Schläfer, Eva (2022), Ihr Leben war ein Fest. Doch dann hatten sie genug. FAZ vom 13. Mai 2022
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