Rezension zu: Domenico Losurdo: „Der Klassenkampf oder die Wiederkehr des Verdrängten? Eine politische und philosophische Geschichte, Papyrossa Verlag, Köln 2016.
Auf die Frage, wie eine neue Klassenpolitik aussehen könnte, gibt der unter Traditionslinken gerade sehr beliebte Philosoph Domenico Losurdo die Antwort: So wie die alte, so schon wie bei Marx und Engels, nur anders als es die landläufige Vorstellung von der einfachen Arbeiter-Kapitalisten-Zweiheit versteht. Losurdo, der Wühlmeister unter den politisch engagierten Philosophen, arbeitet sich in seinen Büchern durch einflussreiche Texte des politischen Denkens, um bei ihnen etwas zurechtzurücken, das am verbreiteten Bild, das wir von ihnen haben, seiner Ansicht nach schief hängt. Das hat er schon mit Fichte, Nietzsche, Hegel oder – am bekanntesten und heftigsten diskutiert – Stalin so gemacht. Diesmal ist sein Anliegen nicht an einer Person aufgehängt, sondern an der laut Losurdo verdrängten Grundlage geschichtlicher Entwicklung: dem Klassenkampf.
Verunreinigte Formen des Klassenkampfes
In seinem Buch „Der Klassenkampf oder die Wiederkehr des Verdrängten?“ unternimmt er einen doppelten Gang durch die vergangenen beiden Jahrhunderte, der ihn sowohl durch die Werke politischer Großdenker wie Marx, Engels, Lenin, Mao, Gramsci, Arendt, Weil oder Habermas führt als auch durch die Realgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Es geht ihm darum, nachzuweisen, dass der Klassenkampf nicht nur zurückkehrt, sondern dass er nie wirklich weg war, selbst dort, wo von ihm nicht die Rede war. Denn Klassenkämpfe, so Losurdo, treten fast nie in „reiner Form“ auf (S. 188). Stets wandeln sie ihre Gestalt, die sie wegführt von der Kerngegenüberstellung von Lohnarbeit und Kapital: Manchmal treten sie als Befreiungskampf von Nationen auf, manchmal als der der Frau, doch immer bleiben sie Klassenkämpfe.
Das geschieht ungeheuer gelehrt und ist so reich mit Zitaten gespickt, dass man ständig das Gefühl hat, Losurdo gelinge ein textgestützter Beweis für die Lösung eines politischen Problem nach dem anderen. Was wird bewiesen? Marx und Engels haben zwar bekanntlich zur Vereinigung der Proletarier aller Länder aufgerufen, wussten jedoch auch – denn sie waren Historiker – um die Unreinheit im realgeschichtlichen Auftreten der philosophischen Kategorie vom Klassenkampf. Also mussten sie auf Pferde setzen, die zunächst gar nicht nach Klasse aussahen: Auf den irischen Befreiungskampf gegen England etwa oder auf den der polnischen Nation gegen halb Europa.
Lenin machte dort weiter und auch Mao konnte daran anschließen und seinen Kampf, den er gegen die japanische Besatzung fürs Partikulare (China) führte, mit dem ums Ganze (die Menschheit) in eins setzen. Zustimmend wird er von Losurdo zitiert: „Deshalb ist der Patriotismus die Verwirklichung des Internationalismus“ (S. 198). Losurdo räumt aber auch ein: „Natürlich ist die Identität von ‚sozialer Frage’ und ‚nationaler Frage’ wie auch die ‚Identität des nationalen Kampfes und des Klassenkampfes’ nur partiell […], weil sie zeitlich begrenzt ist“ (ebd.). Wie aber können wir erkennen, dass die Phase vorbei ist? Wer sagt, dass es nach der Abschüttelung der Besatzung nicht ebenso patriotisch weitergeht, obwohl der Patriotismus dann schon überflüssig geworden ist? Wer sagt, dass das Aussetzen der (vermeintlich) kleineren Kämpfe dann nicht wieder zurückgenommen wird? Und überhaupt: Wer ist hier Besatzer und Aggressor und wer das eindeutige Opfer, das sich zum handlungsfähigen Subjekt zusammenschließen muss? Ist das historisch immer so klar? Nach Losurdos eigener Beobachtung verunreinigter Klassenkämpfe dürfte es das nicht sein. Dennoch scheut er sich nicht, eindeutig Partei zu ergreifen für die „unterdrückte[n] Völker“ (S. 395), die Opfer des westlichen Imperialismus sind – „Palästina, Chile, und Venezuela“ (S. 348) zum Beispiel, die jeweils als „Nation in ihrer Gesamtheit“ (ebd.) drangsaliert werden und darum Maos Recht auf Befreiungspatriotismus in Anspruch nehmen sollten.
Wie den guten Patriotismus erkennen?
Die Kernfrage scheint dabei zu sein, woran ich einen guten Nationalismus erkenne. Wer sagt mir, dass die einmal national Gesinnten nicht plötzlich Gefallen an der Sache finden und von der Menschheit plötzlich gar nichts mehr wissen wollen? Losurdos Vertrauen in die Lohnarbeitenden und die Unterdrückten, die ihre Lage schon erkennen werden und dadurch den Maßstab für einen guten Nationalismus liefern, scheint unerschütterlich.
Aber war da nicht was im 20. Jahrhundert, das dieses Vertrauen fraglich macht? Wie gesagt: Losurdo geht äußerst gelehrsam vor, er wühlt sich durch die Ideengeschichte des Marxismus der vergangenen 150 Jahre, scheint alles gelesen zu haben und selbst die Briefwechsel zu kennen. Die Materialfülle ist beeindruckend. Und sie wird angereichert durch seinen Blick in die Erfahrungswelt der politischen Wirklichkeit. Dennoch wirkt seine Klasseneuphorie seltsam unberührt von einigen Erfahrungen, die im 20. Jahrhundert gesammelt werden konnten: Als hätte es – neben der restaurativen Rede vom Ende der Geschichte – nicht auch gute Gründe gegeben, innezuhalten und die Frage zu stellen, ob der Kampf, so wie er geführt wurde, noch immer zur Befreiung taugt. Denn der Gegensatz zwischen den Klassen kann auch stillgestellt oder falsch ausgetragen werden als Massenwahn, Krieg oder Unterdrückung, die zu gar nichts anderem führen als eben Massenwahn, Krieg und Unterdrückung. Gehört nicht auch der nationale Kampf in diese Reihe der Umleitung klassenkämpferischer Energien, die keinem höheren Zweck dienen als der Nation selbst? Ist nicht auch er einer dieser Irrwege und eben nicht der Umweg als der er uns von Losurdo präsentiert wird?
Der Westen als Gegner
Nicht nur in den Passagen über die Knechte, die sich national befreien sollen, sondern auch dort, wo Losurdo die Herren in Gestalt eines Kollektivsubjekts ausmacht und anprangert, setzt politisches Unbehagen ein. Als „Opfer“ der Kriege unserer Tage identifiziert Losurdo „diejenigen Länder […], die sich nicht in der Lage sehen, den westlichen Großmächten ernsthaft Widerstand entgegenzusetzen“ (S. 379). Kriege sind grundsätzlich „von den USA und vom Westen entfacht“ (S. 406), die Kriegsherren „manipulieren“ sich mithilfe der „Medienapparate“ die „öffentliche Meinung“ (S. 407) zurecht. Hinter jedem Übel steckt ein Schuft mit Macht, in der Regel kommt er aus dem Westen.
Dass die Jubelfeiern auf den Westen, der von manchen als neues revolutionäres Großsubjekt gefeiert wird und damit als Ersatz für das verlorengegangene Proletariat herhalten muss, ebensolcher Murks sind wie die Anbetung der Arbeiterklasse, liegt auf der Hand. Aber die Sache nun umkehren und den Westen zum Herrn des Übels erklären? Man muss nicht antideutsch sein, um dabei Bauchschmerzen zu haben. Sind Putin und Assad nicht inzwischen die viel besseren Imperialisten? Darüber kein Wort bei Losurdo. Gibt es am Westen denn gar nichts, das zu verteidigen wäre? Kein Minimum an Freiheit und Gleichheit? Wenn man das ohnehin für nicht der Rede Wert hält, dann hängst man nicht dran und dann ist es auch leicht, auf jeden zu setzen, der das US-West-Imperium herausfordert, egal wie es bei ihm im Innern aussieht.
Macht die Parteinahme für ein Kollektivsubjekt, an das sich die gegensouveräne Hoffnung heftet, nicht blind für die inneren Hässlichkeiten, die dieser forsche Amerikagegner vielleicht seinen Bürgern antut? In der „Hierarchisierung der Klassenkämpfe“ (S. 150), so scheint es, haben diese inneren Konflikte erst einmal stillzustehen. So ist es nur konsequent, dass Losurdo in der Idee vom Absterben des Staates und der „Idealisierung der Zivilgesellschaft“ in ihrer „Gegnerschaft zur Macht“ ein „Residuum des Populismus“ (S. 404) bei Marx und Engels erkennt. Ohne Staat gibt es für Losurdo keine Befreiung, aber gibt es denn mit ihm eine? Losurdo mokiert sich über Hardt/Negris und Žižeks Solidarität mit den „unterdrückten Völkern“ (394f.), die nur solange andauert, wie diese „unterdrückt und erniedrigt werden“. Sobald die „Völker“ jedoch die „Macht übernehmen“ (S. 395), drohen sie, so Hardt/Negris nachvollziehbare Befürchtung, selbst repressiv zu werden: „In dem Moment, in dem die Nation beginnt, sich zum souveränen Staat zu formieren, schwinden ihre fortschrittlichen Züge“ (Hardt/Negri, zit.n. Losurdo, S. 394). Losurdo hält von so viel Vorsicht nichts.
Was aber ist falsch daran, sich mit jemandem zu solidarisieren, der unterdrückt wird, ihn aber zu kritisieren, sobald er selbst unterdrückt? Und da die Kategorie „Volk“, auf die Losurdo hier setzt, dem Einzelnen recht wenig Luft zum Atmen lässt, passiert dies in der Regel sehr schnell. Das kleine Kollektivsubjekt meint es selten gut mit den noch kleineren Individuen in ihm. Für Losurdo aber sind derlei Bedenken bloß übervorsichtiger Firlefanz. Forderungen, wie etwa die John Holloways, „die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen“, die sich aus genau dieser Skepsis speisen, kanzelt er ab als zahnlose „Feier der Machtlosigkeit“, als billige „Äußerung des Populismus“ (S. 395).
So wohltuend die Erneuerung der Klassenkategorie gegen konservative (Schelsky), liberale (Dahrendorf), sozialreformerische (Habermas) oder antideutsche (Bruhn) Versuche, den Klassenkampf für beendet zu erklären, auch ist, irritierend ist doch, wie schnell Losurdo eine Lösung präsentiert und wie alt und verbraucht sie wirkt. Denn zwar globalisiert er die Idee vom Klassenkampf, aber er nationalisiert sie zugleich, indem er sich auf die Seite der anti-westlichen Herausfordererstaaten schlägt. Letztlich setzt er mit den „Völkern“ und „Nationen“ doch wieder nur auf jene Unheilsbringer, von denen das 20. Jahrhundert zu viele hatte. Und es ist nicht einzusehen, warum es diesmal besser ausgehen sollte.