„Diktate über Sterben & Tod“. Erinnerungen an den Krebstod von Peter Noll vor 40 Jahren

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Am 9. Oktober 1982 ist Peter Noll an seiner Krebserkrankung gestorben. 13 Jahre lang war er Professor für Strafrecht an der Universität Zürich und galt als einer der renommiertesten Strafrecht-Professoren seiner Zeit. Noll hat eine medizinische Behandlung seines Tumors abgelehnt und über die letzten 10 Monate seines Lebens ein Tagebuch geführt. Dieses ist posthum von seinem Freund Max Frisch herausgegeben worden. Wenige Bücher von Krebskranken sind so ausführlich und so kontrovers diskutiert worden. Im 21. Jahrhundert erschienen mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen dieses Buches noch ausführliche Fachartikel als Sekundärliteratur.

Die Zeit um Peter Nolls Sterben und Tod war geprägt durch eine Umbruchsituation zum Thema Krebstod und Sterbehilfe. Ebenfalls in Zürich wurde einige Jahre zuvor das Buch „Mars“ von Fritz Zorn geschrieben, der mit 32 Jahren an Krebs starb und dessen Krebsbuch zu einem Kultbuch wurde. Ein Jahr vor Peter Noll suizidierte sich der Krebskranke Nico Speijer in den Niederlanden. Dieser Suizid erregte großes Aufsehen, weil Speijer ein renommierter Psychiatrie-Professor und Suizidforscher war. Ein Jahr nach Peter Noll suizidierte sich der berühmte englische Schriftsteller Arthur Koestler, der ebenfalls an Krebs erkrankt war. Die Suizide von Speijer und Koestler waren Doppelsuizide, weil jeweils ihre Ehefrauen mit in den Tod gingen.

In den 80er Jahren wurden in zahlreichen europäischen Staaten neue Sterbehilfegesetze erlassen, die eine Liberalisierung der Sterbehilfe mit sich brachten. Die Niederlande, Belgien, Luxemburg und die Schweiz waren die Vorreiter. Im Jahr 1982 wurden in der Schweiz die Sterbehilfeorganisationen Exit und Dignitas gegründet.

In Deutschland wird seit nunmehr vierzig Jahren um ein Sterbehilfegesetz gerungen. Mehrere Gesetze wurden schließlich durch die höchsten Gerichte revidiert, zuletzt im Februar 2020 durch das Bundesverfassungsgericht. In Zukunft sollte nach den Vorgaben des Gerichtes das Selbstbestimmte Sterben einen Vorrang haben – eine Vision, die Peter Noll vor vierzig Jahren bereits eindrucksvoll beschrieb.

Kurzes biografisches Porträt

Peter Noll wurde am 18. Mai 1926 in Basel in einer Pfarrersfamilie mit sieben Kindern geboren. Nach dem Abitur studierte er Rechtswissenschaften und war bereits mit 29 Jahren Privatdozent an der Universität Basel. Von 1961 bis 1969 war er Professor für Strafrecht an der Universität Mainz, anschließend 13 Jahre lang an der Universität Zürich. Peter Noll hat zahlreiche juristische Fachpublikationen vorzuweisen. Mit seinem Freund Hans Rudolf Bachmann veröffentliche er das Buch „Der kleine Machiavelli. Handbuch der Macht für den alltäglichen Gebrauch. Dabei geht es überwiegend um die Machtspiele in der modernen Arbeitswelt – die Phänomenologie der Aufsteiger und Führungskräfte und die Spielregeln der Karriere. Sein Krebs-Tagebuch war sein zweites und letztes nicht-juristisches Werk.

Die Krebserkrankung

In seinem 55. Lebensjahr wurde bei Peter Noll ein unheilbarer Blasentumor diagnostiziert. Die Chance einer Verlängerung der Überlebenszeit durch eine urologische Operation und anschließende Bestrahlung lehnte er ab. Die Ärzte gaben ihm bei Nicht-Behandlung eine Überlebensprognose von neun Monaten. Diese ernüchternde Prophezeiung ist fast genau so eingetroffen. Die diagnostischen Untersuchungen begannen Mitte Dezember 1981, gestorben ist er am 9. Oktober 1982. In diesem Zeitraum hat er sein Krebs-Tagebuch „Diktate über Sterben & Tod“ geschrieben, das posthum 1982 im Züricher Pendo-Verlag erschien – einige Jahre später in den deutschen Verlagen Piper und Fischer.

„Diktate über Sterben & Tod“

Der Tagebuch-Anteil der Piper-Ausgabe von 1987 umfasst 274 Druckseiten. Es folgen Notizen seiner Tochter Rebekka und von Max Frisch über die letzten Tage sowie die Totenrede von Max Frisch bei der Trauerfeier im Züricher Grossmünster. In das Buch mit aufgenommen wurde das Theaterstück „Jericho“, das Peter Noll im Jahr 1968 verfasst hat.

Das eigentliche Krebs-Tagebuch ist eine gelungene Mischung aus persönlicher chronologischer Beschreibung der letzten zehn Lebensmonate und theologischen oder philosophischen Reflexionen über den Tod. Wie in einer Autobiografie zeigt er den Prozess seines langen und qualvollen Sterbens. Er vergleicht sich damit manchmal mit den Schicksalen anderer Krebskranker, die er persönlich kannte. Das Buch „Mars“ von Fritz Zorn hat er auch gelesen und nimmt darauf Bezug. Großen Umfang nehmen die Auseinandersetzung mit Religion, Gott und Philosophen ein, deren Umgang mit dem Tod ihn beschäftigte. Allen voran seine Lieblingsphilosophen Montaigne und Sokrates – und dann immer wieder die protestantischen Theologen Marin Luther oder Karl Barth.

Am 6. Februar 1982 schrieb Peter Noll:

„Der Tod ist sinnlos, das Wissen darum eine sinnlose Belastung. Dennoch bleiben diese drei Fragen: die Frage nach dem Sinn, die Frage nach dem Tod, die Frage nach Gott.“  (Noll 1987, S. 78)

Peter Noll stellt viele Fragen und eröffnet neue Horizonte durch Fragen. Er stellt mehr Fragen als er Antworten gibt. Es stört ihn auch nicht, dass viele Fragen einfach nicht zu beantworten sind und viele Menschen diese Fragen trotzdem stellen. Der Schriftsteller und Germanistik-Professor Adolf Muschg (1984) sprach in seiner Rezension sehr treffend von der „Würde der Ohnmacht“. Peter Noll war ein hellsichtiger Analytiker der Macht – und es gelang ihm in seinem letzten Lebensjahr, seiner Ohnmacht eine Würde zu verleihen.

Suche nach Sinnoasen

Bei den drei oben genannten Kardinalfragen betont Peter Noll, dass für ihn die Frage nach dem Sinn des Lebens und die Frage nach dem Tod zusammengehören. In seinen Suchbewegungen zu einem Sinn des Lebens – gerade seiner prekären Lebenssituation – verwendet er wiederholt den Begriff der Sinnoase. Der erlösende oder befreiende Anblick einer Oase in der Wüste vermittelt die fundamentale Bedeutung. Ohne Sinnoasen sei das Leben eine „totale Sinnlosigkeit“. In seinen Worten versteht er Sinnoasen wie folgt:

„Vielleicht sind die Sinnoasen, die ja immer durch das Einmalige und Individuelle hervorgebracht werden, winzige Fenster, durch die man den Geist sieht oder wehen spürt, der am Ende allem Sinn geben wird.“ (Peter Noll 1987, S. 157)

„Vielmehr geht es ausschließlich um das Leben, um das Leben mit dem Tod, um das Leben aus der Todesperspektive. Da wird alles sehr viel einfacher und klarer. Die zeitliche Begrenzung – dass die Uhr abläuft: das ist erfahrbar. Der Tod bleibt sich gleich, aber das Leben wird anders. Die Sinnoasen suche ich mir sorgfältiger aus als früher. Manches wird zur Sinnoase, an dem ich früher achtlos vorbeigegangen wäre.“ (Peter Noll, 1987, S. 75)

Pfarrersohn, protestantische Ethik und die Frage nach Gott

Peter Noll war sein ganzes Leben durch den protestantischen Glauben und seine Sozialisation als Pfarrersohn geprägt.  Die Gestaltung seiner Trauerfeier. Bereits wenige Wochen nach seiner Krebsdiagnose und seiner Entscheidung, sich nicht medizinisch behandeln zu lassen, suchte er den Pfarrer des Grossmünsters in Zürich auf, in dem dieselbe stattfinden sollte. Ganz wichtig war ihm die h-moll-Messe von Johann Sebastian Bach – für Noll der Triumph über den Tod. Für seine letzten zehn Lebensmonate lebte er eine protestantische geprägte Leistungsethik vor, die voll den Analysen des berühmten Soziologen Max Weber entspricht. Peter Noll erfüllte fast bis zum Tod seine Pflichten als Universitätsprofessor und als Mitglied des Kassationsgerichtes. Für ihn war es nicht vorstellbar, sich krankheitsbedingt beurlauben oder freistellen zu lassen. Ab August 1982 steigerte sich wegen starker Schmerzen sein Schmerzmittelbedarf und er nahm erstmals Morphiumtropfen. Er arbeitete trotzdem weiter. Die letzte ganztägige Sitzung am Kassationsgericht war am 13. September 1982 – drei Wochen vor seinem Tod. Unter seinen mehrmals formulierten drei Kardinalfragen war auch die Frage nach Gott. Seine Überlegungen hierzu sind stark protestantisch geprägt. Sie orientieren sich an Martin Luther und Karl Barth.

Die zentrale Frage der begrenzten Lebenszeit

Die von Peter Noll formulierten drei existentiellen Grundfragen berühren alle die begrenzte Lebenszeit. Das Todesbewusstsein ist eine spezifische anthropologische Grundkonstante der menschlichen Existenz. Sobald sich Kinder bewusst werden, dass alle Menschen sterben, verändert sich etwas in ihrem Denken und Fühlen. Im Lauf des Lebens wird das Todesbewusstsein durch Konfrontationen mit dem Tod anderer Menschen geweckt, besonders durch den Tod von nahestehenden Bezugspersonen. Der Tod der eigenen Eltern macht das Erleben der Zeitbegrenzung in einzigartiger Weise bewusst. Oft ist dies mit der Vorstellung verknüpft: Wir sind dich nächsten, ich gehöre zu der Generation, die als nächstes dran ist mit dem Sterben. Tode von gleichaltrigen Freunden und Bekannten verstärken dieses Bewusstsein. Mit der Diagnose von unheilbaren Erkrankungen wird die begrenzte Lebenszeit radikal bewusst.

Das ist nicht nur bei unheilbaren Krebserkrankungen so, sondern auch bei zahlreichen neurologischen Erkrankungen wie ALS. Die betroffenen Menschen beschäftigen sich meist mit der Frage: Wie lange habe ich nach den Erkenntnissen der Medizin noch zu leben? Ärzte werden dies oft gefragt. Peter Noll stellte diese Frage mehreren Ärzten ebenfalls und erhielt eine Überlebensprognose von neun Monaten. Sein Schicksal bestätigte diese Prognose. Nolls Gedanken und Ausführungen zur begrenzten Lebenszeit sind stark durch den französischen Philosophen Montaigne geprägt, den er wiederholt zitiert. Er identifizierte sich besonders mit ihm, weil er auch Jurist war. Die Bibel und der Psalm 90 sind eine weitere Quelle seiner Betrachtungen. In der evangelischen Kirche werden die Worte „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ häufig ausgesprochen. Peter Noll nimmt mehrmals zu diesen Quellen Bezug.

Das Bewusstsein der begrenzten Lebenszeit bringt dem betroffenen Menschen nach Peter Noll drei fundamentale Veränderungen in seinem Zeiterleben:

  1. Die Zeit wird wertvoller
  2. „Sehen wir das Leben vom Tode her, werden wir freier, vieles wird leichter, manches intensiver.“
  3. Das Verhältnis zu anderen Menschen ändert sich

Menschen, die in einer vergleichbaren Lage sind wie er und sich auf eine sehr begrenzte Lebenszeit einstellen müssen, gibt er folgende überlegenswerte Empfehlungen:

„Mehr diejenigen lieben, die dich lieben, weniger dich denjenigen widmen, die dich nicht lieben. Geduldiger werden, wo du zu ungeduldig warst, ruhiger, wo du zu unruhig warst, offener und härter, wo du zu nachgiebig und anpassungswillig warst.“

(Peter Noll 1987, S. 83)

Die Totenrede von Max Frisch

Die lange und tragfähige Freundschaft mit Max Frisch war für Peter Noll gerade im letzten Lebensjahr sehr wichtig. Frisch ermunterte ihn immer wieder zum Tagebuch-Schreiben, ging oft mit ihm Essen und machte mit ihm noch eine letzte große Reise nach Ägypten. Im Januar 1982 hat Peter Noll den Ablauf und die Inhalte seiner Trauerfeier festgelegt und mit dem Gemeindepfarrer des Grossmünsters in Zürich abgesprochen. Die drei schönsten Choräle der h-moll-Messe von Johann Sebastian Bach und eine Ansprache des Freundes Max Frisch gehörten dazu. Dieser erfüllte ihm diesen Wunsch. Sehr bekannt und vielzitiert ist daraus die Passage über das Sterben als entmündigtes Objekt der Medizin. In einer langen Leser-Diskussion im Deutschen Ärzteblatt vom 1. Februar 1985 wurden diese Worte als Überschrift gewählt: „..nicht sterben als  entmündigtes Objekt der Medizin.“

Der entsprechende Wortlaut in der Totenrede lautet wie folgt:

„Der medizinische Befund ist klar und hoffnungslos. Ein halbes Jahr, ein Vierteljahr, höchstens ein Jahr. Er weiss genau Bescheid, was seinen Krebs betrifft, und er lehnt die Operation ab, das ist ebenso klar. Seine Entscheidung. Er will nicht sterben als entmündigtes Objekt der Medizin. Wie also stirbt man?“  (Max Frisch, in Peter Noll 1987, S. 279)

Max Frisch beendet seine Rede mit den folgenden mahnenden Worten:

„Kein Antlitz in einem Sarg hat mir je gezeigt, dass der Eben-Verstorbene uns vermisst. Das Gegenteil davon ist überdeutlich. Wie also kann ich sagen, immer grösser werde mein Freundeskreis unter den Toten? Der Verstorbene überlässt mich der Erinnerung an meine Erlebnisse mit ihm….Er hingegen, der Verstorbene, hat inzwischen eine Erfahrung, die mir erst noch bevorsteht und die sich nicht vermitteln lässt – es geschehe denn durch eine Offenbarung im Glauben.“

(Max Frisch, in Peter Noll 1987, S. 284)

Die Rezeption von Peter Noll im 21. Jahrhundert

Es gibt Hunderte von Tagebüchern von Krebskranken. Die meisten sind wenige Jahre nach deren Tod vergessen. Ganz anders ist dies bei den „Diktaten“ von Peter Noll. Dies hat offensichtlich mit der Qualität und der Inhaltsfülle zu tun. Die Souveränität und geistige Brillanz, mit der er die Grundfragen von Sterben und Tod behandelt hat, findet heute noch viele Leser und animiert zu Auseinandersetzungen. In Beiträgen zur Psychoonkologie, zur psychischen Verarbeitung von Krebserkrankungen, zum Thema von Tod und Sterben und immer wieder zur Sterbehilfe wird das Buch von Peter Noll diskutiert. Einige umfassendere Analysen stammen von dem Medizinethiker und Kulturwissenschaftler Matthias Bormuth (2006), vom Trauer-Experten Herbert Scheuring (2001) und von Martin Rath (2015).

Im Jahr 2020 strahlte der Schweizer Fernsehsender SRF eine fast einstündige Dokumentation über Peter Noll aus (gestaltet von Rosie Füglein und This Wachter unter dem Titel „Ich dank dir für die Zyt“). Die letzten Worte, die Peter Noll an Max Frisch richtete, waren „Ich danke dir für diese Zeit.“  Das Zeiterleben ist wohl eine der tiefsten existentiellen Erfahrungen, die eine Krebsdiagnose mit sich bringt, insbesondere wenn sie von Anfang an eine deutlich begrenzte Zeit ist, weil die Krebserkrankung unheilbar ist und bald zum Tod führen wird – so oder so.

Literatur

 Bormuth, Matthias (2006) Das Individuum in der verwalteten Welt. Peter Nolls Diktate über Sterben und Tod. Parapluie. Elektronische Zeitschrift für Kulturen, Künste, Literaturen. Heft 23, 20006

Frisch, Max (1982) Totenrede. In: Peter Noll (1987) Diktate über Sterben & Tod. Piper, München, Zürich, S. 279 – 284

Muschg, Adolf (1984) Die Würde der Ohnmacht: Ein Krebskranker gibt Rechenschaft. Das ND der RD. Die Zeit vom 18. Mai 1984

Noll, Peter (1987) Diktate über Sterben & Tod. Piper, München, Zürich

Rath, Martin (2015) Nachdenken über Sterben und Recht. Legal Tribune Online vom 18. Oktober 2015

Scheuring, Herbert (2001) Die Suche nach Sinn an der Grenze des Lebens. Peter Nolls „Diktate über Sterben und Tod“. Main-Post vom 15.November 2001

 

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Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.