Frau Merkel, Sie haben hier in Ihrer Erklärung davon gesprochen, dass Spaltungen überwunden werden sollen. Ich kann nur sagen: Das, was in der ersten Woche hier stattgefunden hat, war das blanke Chaos. Wegen der bayerischen Landtagswahl spielt der aus Bayern abgeschobene neue Innenminister hier den harten Hund und macht einen auf Verbalradikalismus.
Soll das die Art und Weise der Arbeitsteilung in den nächsten vier Jahren sein?
Herr Seehofer – im Übrigen gilt das Grundgesetz auch für Innenminister; vielleicht hat Ihnen das noch keiner gesagt, oder Sie waren zu lange weg; ich will es nur mal sagen –,
ich hätte mir von Ihnen gewünscht, dass Sie klar sagen, was nicht zu Deutschland gehört. Rassismus, Ausgrenzung und Menschenhass gehören nicht zu Deutschland. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.
Ich hätte mir auch gewünscht, dass alle neuen Ministerinnen und Minister klar sagen, dass wir Armut in unserem reichen Land nicht akzeptieren werden; denn Armut ist immer auch politisches Versagen. Dass Menschen zu Tafeln gehen müssen, ist politisches Versagen, meine Damen und Herren.
Niemand aus dem Bundestag sollte sich arrogant über die Menschen erheben, die dort etwas leisten, wo Regierungspolitik versagt hat.
Eines können wir festhalten: Wenn das so weitergeht, Frau Merkel, werden die letzten vier Jahre Ihrer Amtszeit chaotische Jahre; denn der Anfang war wirklich eine Katastrophe. Es war auch nicht so sehr viel anderes zu erwarten; denn es treffen sich ja hier die Wahlverlierer: Die Union hat 8,6 Prozent verloren, die SPD hat 5,2 Prozent verloren. Ja, das ist eine reine Notkoalition, die sich hier zusammentut.
Ich zitiere Heribert Prantl, der in der „Süddeutschen Zeitung“ so schön geschrieben hat:
„Autorität schafft man nicht dadurch, dass man das Wort „Weiter so“ einfach durch „Erneuerung“ ersetzt.“
Da hat der Mann völlig recht.
In dem Koalitionsvertrag steht viel Lyrik, aber entgegen aller Beteuerungen von heute: Er ist ohne Aufbruch und ohne Schwung. Wo Sie sehr schwungvoll waren, das war beim Personal und bei der Einstellungspolitik. Als erste Maßnahme wurden 35 Staatssekretäre und Staatsminister eingestellt, so viele wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Jeder Staatssekretär oder Staatsminister kostet circa eine halbe Million Euro. Das ist doch nicht normal. Bei der SPD ist ja jetzt jeder Staatsminister, Ausschussvorsitzender, Fraktionsvorsitzender, stellvertretender Fraktionsvorsitzender; jeder hat einen Posten bekommen,mit Ausnahme von Sigmar Gabriel und Martin Schulz.
Als nächste Maßnahme werden dann überall erst einmal ordentliche Machtzentren geschaffen. Da werden bei Herrn Seehofer im Innenministerium 100 neue Stellen geschaffen.
Da werden bei Frau Merkel im Kanzleramt 39 neue Stellen geschaffen. Da werden bei Herrn Scholz im Finanzministerium 40 neue Stellen geschaffen. Diese Selbstbedienungsmentalität steht in keiner Relation zu Ihren Wahlergebnissen.
Der Koalitionsvertrag, den Sie hier referiert haben, ist in der Substanz ein Dokument des Weiter-so. Wenn man sich ihn anschaut und auch die heutige Regierungserklärung gehört hat, dann kann man da natürlich auch unterstützenswerte Vorhaben finden; das ist unbestritten. Ich habe zwei herausgesucht, die ich, zumindest was die Überschriften betrifft, für ausgesprochen begrüßenswert halte: Kinderarmut endlich entschlossen bekämpfen und beim Thema Europa: Abkehr von der Sparpolitik.
Zur Kinderarmut. Zum ersten Mal steht Kinderarmut in dieser Form im Koalitionsvertrag und dass man in diesem Bereich etwas tun will. Das hat mich auch persönlich sehr gefreut. Seit zwei Jahren haben wir Linke ein Netzwerk gegen Kinderarmut; das hat offensichtlich ein bisschen Wirkung gezeigt. Ich freue mich auch, dass Kinderrechte ins Grundgesetz kommen sollen und über den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. Insgesamt sollen 12 Milliarden Euro dafür ausgegeben werden. Das ist in Ordnung.
Ich möchte dennoch darauf verweisen, dass es 2,7 Millionen Kinder gibt, die arm oder von Armut bedroht sind. Das ist natürlich ein Riesenproblem. Da frage ich mich natürlich auch: Wer hat denn in den letzten Jahren die Regierungsverantwortung getragen? Irgendwer ist doch dafür zuständig, dass wir dahin gekommen sind.
Eines möchte ich noch ergänzen: Seit der Einführung von Hartz IV hat sich die Kinderarmut in Deutschland verdoppelt. So viel nur dazu, lieber Herr Spahn, lieber Herr Lindner, dass Hartz IV vor Armut schützen soll. Das ist nämlich nicht der Fall. Seit den Hartz-IV-Gesetzen hat sich die Kinderarmut verdoppelt.
Jetzt haben Sie unter anderem beschlossen, das Kindergeld um 25 Euro zu erhöhen. Zunächst einmal ist interessant, dass es 15 der 25 Euro erst im Jahr 2021, also im Wahljahr, und nicht etwa jetzt gleich geben soll. Das ist wirklich sehr durchsichtig. Außerdem möchte ich betonen: Wir Abgeordnete profitieren von der Kindergelderhöhung, aber bei der alleinerziehenden Mutter, die Hartz IV bekommt, wird die Kindergelderhöhung angerechnet. Meine Damen und Herren, das ist eine schreiende Ungerechtigkeit. Da fehlen mir beinahe die Worte.
Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Da müssen wir etwas machen. Das spüren die Leute doch, dass dadurch die soziale Spaltung in unserem Land eher verschärft wird. Ändern Sie das! Wir brauchen bei dem Thema Kinderarmut einen Systemwechsel. Eine Kindergrundsicherung wäre notwendig, die wirklich fundamental etwas bewegen kann.
Jedes Kind muss die Chance auf ein gutes Leben haben, und jedes Kind muss uns gleich viel wert sein.
Ich möchte kurz etwas zu Europa sagen. Frau Merkel, Sie haben ja sehr viel dazu gesagt; im Koalitionsvertrag spielt dieses Thema eine noch größere Rolle. Ich möchte festhalten, dass es einen Punkt gibt, wo man die Unaufrichtigkeit deutlich sehen kann. Sie reden vom Ende der Sparpolitik. Olaf Scholz ist aber ein Verfechter der schwarzen Null überall in Europa. Im Kern ist es ja egal, ob die Null schwarz oder rot ist. Eine Null ist nun mal eine Null. Aber der Fetisch des ausgeglichenen Haushaltes hat halb Europa in den Abgrund getrieben.
Aber Sie bleiben ja nicht bei der Null. Sie holen sich – und das ist symbolisch – als Staatssekretär Herrn Jörg Kukies ins Finanzministerium,
der von Goldman Sachs kommt. Die Älteren hier im Bundestag erinnern sich noch: Das ist die Truppe, die beim Bilanzbetrug Griechenlands federführend war, damit Griechenland in die Euro-Zone kommt. Die haben daran verdient. Das ist die Truppe, die fett an der Griechenland-Krise verdient hat.
Goldman Sachs hat auf die Finanzkrise gewettet, meine Damen und Herren. Was ist das denn für ein Symbol? Ich sage das selten, aber schämen Sie sich dafür nicht ein bisschen?
Man muss ja Angst kriegen, wenn Sie Europa höhere Aufmerksamkeit widmen wollen. Ergebnisse Ihrer Politik sind der Brexit und die Ergebnisse in Italien. Das hat doch alles auch etwas mit deutscher Politik zu tun.
Was im Koalitionsvertrag gänzlich fehlt, ist das Thema Umverteilung. Ich glaube, das ist ein zentrales Thema. Offensichtlich kennen Sie das Wort nicht; denn im Koalitionsvertrag steht, dass Sie keine Steuererhöhungen planen – für niemanden, also auch nicht für die Superreichen in diesem Land. Die soziale Spaltung lässt sich aber nicht einfach hinwegwünschen, meine Damen und Herren. Die Steuerungerechtigkeit muss beendet werden. Wir haben ein Steuersystem aus dem vergangenen Jahrhundert, und es gibt da vielfältigen und sehr dringenden Reformbedarf. Es kann doch nicht sein, dass wir zusehen, wie die Zahl der Milliardäre und der Vermögensmillionäre in Deutschland steigt. Bei uns in Deutschland ist es besonders ungerecht: Die 45 reichsten Haushalte in Deutschland besitzen so viel wie die Hälfte der Bevölkerung. Das ist doch nicht normal, meine Damen und Herren; da muss man doch handeln.
Aber Sie trauen sich nicht, sich mit den Konzernen und den Superreichen anzulegen. Vermögensteuer – Fehlanzeige! Erbschaftsteuerreform – Fehlanzeige! Abbau des Mittelstandsbauchs – Fehlanzeige! Abbau der kalten Progression – Fehlanzeige! Finanztransaktionsteuer – noch butterweicher als im letzten Koalitionsvertrag. Das alles ist meines Erachtens ganz schlimm.
Sie haben hier von der Quadratur des Kreises gesprochen; die ist bekanntlich unmöglich. Aber dabei will ich schon noch einmal das Beispiel Diesel nennen. Beim Thema „Diesel und Fahrverbote“ lässt sich Ihre Politik doch wunderbar erkennen. Es handelt sich dabei nicht nur um eine ganz gewichtige ökologische Frage, sondern es ist natürlich auch eine zentrale soziale Frage.
Weil Sie sich nicht trauen, die Autokonzerne in die Verantwortung zu nehmen, dürfen die Dieselbesitzer mit Fahrverboten rechnen. Das treibt die Leute im Alltag um, und Sie schauen de facto weg. VW verkündet Riesenrekordgewinne, und Sie schauen weg. Dass die Leute da wütend werden, ist doch logisch, meine Damen und Herren.
Sie haben jetzt tausendmal gesagt: Wir müssen in die Zukunft investieren. – Donnerwetter! Das ist völlig richtig; da haben Sie recht. Darüber reden Sie aber schon seit Jahren, und wir sind immer noch unterhalb des europäischen Durchschnitts. Ich möchte eine Zahl nennen: Sie wollen 5 Milliarden Euro in fünf Jahren in Schulen investieren. Donnerwetter! Wenn ich das aufteile, stelle ich fest, dass nicht einmal in jeder Schule eine Maurerkelle ankommt. Das ist viel zu wenig. Sie müssen endlich klotzen und nicht kleckern.
Das trifft ebenso für die digitale Infrastruktur zu. Das trifft für den Klimaschutz zu. Das trifft für die Pflege zu. Für das, was Sie vorschlagen, loben Sie sich auch noch. Das ist alles viel zu wenig; das weiß hier jeder im Haus. Sie versteigen sich in Flugtaxiträume, aber in den Schulen regnet es weiter durch. Das kann keine vernünftige Politik sein.
Eine nachhaltige Investitionsoffensive, öffentliche und private Investitionen wären notwendig.
Außerdem gründen Sie auch noch Kommissionen ohne Ende. Der alte Satz „Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründe ich einen Arbeitskreis“ bekommt hier völlig neue Dimensionen: Rente, Pflege, gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West und, und, und. Ihnen fehlt es am politischen Willen, etwas zu verändern. Das ist der Punkt.
Lassen Sie mich eine Bemerkung zum Osten machen, der mir ja bekanntlich wirklich sehr am Herzen liegt. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben dazu heute – leider – gar nichts gesagt. Im Koalitionsvertrag kommt der Osten in der Präambel und sonst nur als Naher Osten und als Kosten vor.
Ich finde, das ist ein Problem.
Wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn der Frust darüber besonders wächst. Auch hier wird das Problem nicht mit der Gründung einer Kommission gelöst, sondern es muss gehandelt werden.
Lassen Sie mich auch ein paar wenige Bemerkungen zur Außenpolitik machen; denn es war erstaunlich, mit welcher selbstkritischen Komponente Sie hier agiert haben. Manches teile ich. Dass die UN-Hilfsprogramme gekürzt worden sind, ist ein Unding. Da hätten wir engagierter vorgehen müssen. Aber das Symbol, dass wir als Allererstes in dieser Woche sechs Auslandsmandate der Bundeswehr verlängern, sagt doch ganz viel aus. Sie werden einfach durchgewunken; da gibt es gar keine Diskussion mehr. Ihnen, Frau Merkel, nimmt Ihre Partei im Kern doch übel, dass Sie zu einem gewissen Zeitpunkt Menschlichkeit gezeigt haben. Ich frage mich: Wer trägt Mitverantwortung dafür, dass Menschen flüchten? Richtig, auch die Bundesregierung trägt Mitverantwortung – mit Waffenexporten, mit Kriegseinsätzen, mit obszönen Handelsüberschüssen und mit einer Bündnispolitik, die zum Haareraufen ist.
Die Türkei – ich bin dankbar, Herr Kauder, dass Sie sie überhaupt erwähnt haben – führt einen völkerrechtswidrigen Krieg und hat Afrin plattgemacht, aber mit deutschen Waffen. Durch Afrin fährt ein Leopard-Panzer. Dieses Symbol ist doch furchtbar für uns; es ist Symbol für ein Versagen der Politik auf diesem Sektor.
Herr Kauder, Sie haben das Wertebündnis angesprochen. Jawohl, stoppen Sie alle Rüstungsexporte dahin! In den letzten Wochen sind gegen andere Beteuerungen 20 Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter im Wert von 4,4 Millionen Euro genehmigt worden. Tun Sie als Fraktionsvorsitzender etwas! Lassen Sie es nicht zu, dass Ihre Regierung so einen Unsinn macht!
Meine Damen und Herren, von dieser kleinen schwarz-roten Koalition kann man festhalten: Es ist keine große – weder numerisch noch vom politischen Anspruch.
Es gibt keine großen Reformvorhaben, keine grundsätzlichen Änderungen sind geplant. Stattdessen: viele Kommissionen, Flickwerke und projizierter permanenter interner Zoff. Wir können uns auf turbulente Jahre einrichten, weil es weder eine Liebesheirat noch eine Zweckhochzeit ist. Es ist einfach zum Scheitern verurteilt. Seien Sie sich entgegen Ihrer Ankündigung nicht so sicher, dass es nach der nächsten Wahl überhaupt noch für diese Koalition reicht.