Wer Glück malen möchte, braucht viel Blau: Für den weiten Himmel, das Meer und einen Hauch von Freiheit. Wer wütend ist, sieht rot. Wir werden gelb vor Neid oder ärgern uns schwarz. Farben sind untrennbar mit Gefühlen verbunden. Zehn Millionen Farbtöne kann der Mensch unterscheiden. Ein magischer Regenbogen, der sich seit Urzeiten in unserer Seele widerspiegelt. Farben sind aber auch Signale, werden weltweit verstanden und sind in ihrer Wirkung seit Jahrhunderten gleich. Dennoch interpretiert sie jede Kultur auf ihre ganz eigene Weise. In den traditionellen japanischen Handwerkskünsten zum Beispiel nehmen sie oft eine wichtige Rolle ein. Das glänzende Schwarz und erdige Rot der Lackwaren, das unergründlich tiefe Indigo-Blau von Noren (Vorhänge), der intensive Kontrast japanischer Schlösser mit ihren weißen Wänden und Renraku-gebrannten Kacheln in Anthrazit, die fein abgestimmten matt-erdigen Töne einer vermeintlich einfachen Teeschale und natürlich die immense Farbenvielfalt der prächtigen Kimono-Stoffe.
Farben kommen auch im neuen Roman Huraki Murakamis entscheidende Relevanz zu. Fünf junge Leute zwischen sechzehn und siebzehn bilden den Kern. Alle eint eine zufällige Gemeinsamkeit: Sie tragen in ihrem Nachnamen eine Farbe. Die beiden Mädchen heißen Shirane (weiße Wurzel) und Kurono (schwarzes Feld), die Jungen Akamatsu (Rotkiefer) und Oumi (blaues Meer) und rufen sich auch in ihren Farben: Aka, Ao, Shoro und Kuro. Zudem verfügen sie jeder über ganz individuelle Eigenschaften. Shiro ist eine musisch begabte Schönheit, Kuro eine anregende, unermüdliche Leserin mit einem einmaligen Sinn für Humor, Aka ein bescheidener Schüler mit einem hervorstechenden Intellekt und Ao ein physisch markanter, geradliniger Typ und zudem ein herausragender Rugby-Spieler. Stop! Das sind erst vier! Da fehlt doch noch einer. Richtig: Tsukuru Tazaki teilt als einziger die farbliche Stofflichkeit der anderen nicht. Sein Name verweist auf keinen kolorierten Bezug. Dieser Umstand, der ihm schwer zu schaffen macht, lässt ihn glauben, dass er in allem eher mittelmäßig sei (einzig eine besondere Affinität zu Bahnhöfen ist ihm eigen). Tsukuru fühlt sich farblos, fad, unauffällig und reizlos. Um Robert Musils berühmtes Werk heranzuziehen: Er hält sich für einen Mann ohne Eigenschaften.
Ein einschneidendes Vorkommnis zerbricht die freundschaftliche, intensive Bande der fünf radikal. Ab sofort wird Tazaki von den anderen geschnitten, aus ihrem Kreis ausgestoßen. Er fällt in ein schwarzes Loch und steht kurz vor der Selbstaufgabe. Knapp zwanzig Jahre soll er seine Freunde nicht mehr sprechen und sehen. Nun, mit 36 Jahren und einer neu beginnenden, zarten Liebe zu Sara, macht er sich auf den (Pilger-)Weg in seine Vergangenheit, um die Ursache des damaligen dramatischen Zerwürfnisses herauszufinden. Vielleicht aber auch, um doch noch Farbe in sein Leben zu bringen, das die letzten Jahre nichtsagend an ihm vorbeigeglitten ist und das auch sein neuer, ebenfalls „farbiger“ Freund Haida („graues Feld“) nur kurz beleben konnte. Denn dieser verschwindet ebenso mysteriös und symbolhaft wie die Vier zuvor.
Für surreale Beschreibungen von dystopischen Welten ist Haruki Murakami schon lange bekannt. Gefühlsmäßig verarmte und vereinsamte Menschen, mitunter Gewalt, Paralleluniversen, deren Grenzen zur realen Welt fließend und daher von dieser kaum zu unterscheiden sind, durchziehen das gesamte Oeuvre des japanischen Autors. Sein neuestes Werk allerdings bildet hierbei eine Ausnahme. Das Surreale hält sich dezent zurück, auch wenn es einige schwer greifbare Situationen gibt. Der mysteriöse Herr Midorigawa („grüner Fluss“) zum Beispiel, der die ganz individuellen Farben eines jeden Menschen sehen kann, dafür aber bald sterben wird, die in Formaldehyd eingelegten, kleinen, 6.!! Finger eines Menschen oder diverse andere vage angedeutete symbolische Botschaften. Zudem durchlebt sein Protagonist zeitweise wirre (Wach-)Träume an der Grenze zum Übergang in ein anderes Bewusstsein. Aber auf mystische Wesen wie die nächtens aus dem Maul einer toten Ziege steigenden und aus imaginären Fäden eine „Puppe aus Luft“ spinnenden „Little People“ („IQ84“) oder sprechende Schatten und mysteriöse Einhörner („Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt“) wird der Leser vergeblich warten. Dies könnte die Murakami-Fan-Gemeinde vielleicht enttäuschen, wie die sehr gespaltenen Meinungen auf dem japanischen Buchmarkt, wo das Buch bereits im Frühjahr 2013 erschien, aufzeigen.
Warum gefällt mir der Roman trotzdem ausgesprochen gut?
Die Stilistik ist es jedenfalls nicht. Mit seinem lapidar-kühlen Duktus und einfachem Satzaufbau zählt Murakami nicht zu den Sprachkünstlern. Bei ihm liegt die Finesse im Detail: im formalen Handlungsaufbau, in seiner gewieften Erzählweise, in der strukturellen Melange unterschiedlicher Themen. „Vereinfacht ausgedrückt war es die Aufgabe einer Geschichte, eine bestimmte Problematik in eine andere Form umzuwandeln. Durch Merkmale und die Richtung dieser Wandlung deutete sich auf der erzählenden Ebene eine Antwort an.“, ist in „IQ84“ zu lesen. Darin ist Haruki Murakami zweifelsohne ein Meister. Soziologie, Literatur und Musik fließen in einem wohldurchdachten Potpourri zusammen, werden perspektivisch verwirbelt und zeitlich verschliffen, auch wenn dies im jüngsten Werk nicht direkt ins Auge sticht, sondern eher zwischen den Zeilen verborgen liegt. Neben dem zentralen Farbthema finden sich zum Beispiel immer wieder Einschübe zu Franz Liszts „Le mal du pays“ (Heimweh). Entstand diese Musik doch gleichfalls als Teil eines Entwicklungsprozesses bei dem der Komponist unter dem Eindruck seiner Reisen musikalisch immer mehr zu sich selbst findet. Ein Merkmal, das auch Murakamis Protagonist auszeichnet.Der japanische Autor fungiert jedenfalls erneut als souveräner Strippenzieher, als Mittler zwischen Vergangenheit und Jetztzeit. „Bald tauchen, wie von der Melodie angelockt, gewisse Bilder hinter seinen Augenlidern auf – tauchen auf und verschwanden wieder. Es war eine Reihe von Schemen ohne Form und Inhalt. Verschwommen stiegen sie vom dunklen Rand seines Bewusstseins auf, durchquerten lautlos sein Gesichtsfeld und gelangten auf die andere Seite, wo sie verschluckt wurden und verschwanden. Wie winzige Lebewesen mit einem rätselhaften Umriss, die die Linse eines Mikroskops durchquerten.“
Murakamis jüngstes Werk entpuppt sich als Buch über die Bedeutung der Werte im Leben eines Menschen, der Entdeckung seines wahren Ichs und dessen mögliche Freiheiten. Es ist ein sensibler Text über Einsamkeit, die Wichtigkeit von Freundschaften und persönliche Wertigkeiten. Dem Japaner ist es erneut hervorragend gelungen, seine an der Wegkreuzung der Gegenwart stehenden Figuren, von dort aus die Vergangenheit genau in Augenschein nehmen zu lassen und Wege zur Zukunftsgestaltung zu entwickeln. Ein Buch, das voller Wahrheiten über das Leben steckt und den Leser in einen permanenten Sog zieht. Es liest sich flüssig, ohne flach zu sein. Einen nicht unerheblichen Anteil hat daran gleichfalls die Übersetzerin Ursula Gräfe, die dem deutschen Leser das japanische Werk ohne spürbare Qualitätsverluste zugänglich machte. Auch wenn das offene Ende den Leser grübelnd und nachdenklich zurücklässt. Aber: „Ein Schriftsteller ist kein Mensch, der Fragen löst. Es ist ein Mensch, der Fragen aufwirft.“ Denn auch wenn einiges im Unklaren bleibt, so hat Haruki Murakami alles gesagt. Oder vielleicht doch nicht? Für mich persönlich ist Tsukuru Tazaki keineswegs so farblos, wie er sich selbst hält. Er strahlt in einem warmen, goldenen Sonnununtergangsgelb. Ein Gelb, das neben Rot und Blau zu den Primärfarben gehört und Bestandteil der schillernden Orange- und Grüntöne des Schmetterlingsflügels auf dem außergewöhnlich schönen Buchcover ist. Und letztendlich ist Gelb in Japan eine kaiserliche Farbe. Sie steht für Mut und Stärke, Weisheit, Glück und für die Zukunft. Eine Zukunft, die Tsukura vielleicht neu gestalten wird. Auch wenn er zunächst noch ziemlich ratlos vor ihr steht: „Das Leben war wie eine schwierige Partitur (…). Sechzehntelnoten und Zweiunddreißigstelnoten, seltsame Zeichen und kryptische Anmerkungen. Alles richtig zu lesen war eine Aufgabe, die beinahe unmöglich zu bewältigen war, und selbst wenn man alles richtig lesen und sogar in die richtigen Töne umwandeln konnte, hieß das noch lange nicht, dass man den Sinn verstanden hatte und anderen verständlich machen konnte. Ganz zu schweigen davon, jemanden glücklich zu machen. Warum musste das Leben so unendlich kompliziert sein?“
Herzlichen Glückwunsch zum heutigen 65. Geburtstag, Haruki Murakami!
Haruki Murakami
Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
Titel der Originalausgabe: „Shikisaki wo motanai Tazaki Tsukuru to kare no junrei no toshi“
Dumont Buchverlag (Januar 2014)
350 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3832197486
ISBN-13: 978-3832197483
Preis: 22,99 EUR
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.