Die Problematik der Begriffe (oder Ideen) ist seit alters das große Thema der Philosophie. Begriffe sind für unser Weltverständnis unentbehrlich, denn sie erleichtern die Wahrnehmung und Verstehen der Vielfalt der Phänomene der erlebten Wirklichkeit. Andererseits führen sie ein Eigenleben, verfestigen sich zu Klischees und verleiten zum Verzicht auf empirische Überprüfung ihrer Inhalte oder versperren gar den Zugang zur komplexen Wirklichkeit. Als Denkschablonen entheben sie der Anstrengung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Zur Ideologie geronnen, eignen sie sich als politische Kampfbegriffe, im schlimmsten Fall als Instrumente totalitärer Machtausübung.
Auf spezifische Weise prägen Begriffe unseren politischen Alltag, den vermeintlich ideologiefreien Raum der Demokratie. Anders als in der Antike hegt niemand – außer abseitigen Befürwortern eines autoritären Systems – Zweifel am positiven Gehalt des Begriffs und/oder der entsprechenden Staatsform. Nichtsdestoweniger wirft die Demokratie allerlei Fragen auf. Diese wurzeln zum einen semantisch im Kompositum von dêmos und krátos – staatstheoretisch im Begriff der „Volkssouveränität“ -, zum anderen – in der Ausdeutung und/oder Umsetzung der mit „Demokratie“ assoziierten Begriffsvaleurs wie Grundrechte/Bürgerrechte, Menschenrechte/Freiheitsrechte, Geichheit/Gleichstellung, Werte/Wertewandel, Grundkonsens/Pluralismus, last but not least „rechts“ und „links“ (was eine perspektivische Grundposition in der „Mitte“ voraussetzt).
Die skizzierte Vielfalt der Begriffe, die sich um die Demokratie ranken, könnte beim „mündigen Bürger“ (w/m/d) eine gewisse Ratlosigkeit erzeugen. Wer ist heute der dêmos, von dem gemäß demokratischer Staatstheorie alle Staatsgewalt ausgeht? Die „Mütter und Väter des Grundgesetze “ – so die Standardformel der lingua politica – sprachen anno 1949 in der Präambel des Grundgesetzes noch in Großbuchstaben vom Deutschen Volk als Quelle und Träger der als Provisorium beschlossenen Verfassung. Als im wundersamen Wendejahr die Deutschen in der DDR ihre dort anfangs auch als „Volksdemokratie“ gepriesene Diktatur stürzten und die Mauer zu Fall brachten, taten sie dies in der Überzeugung, sie – und nicht das herrschende SED-Regime – seien das Volk. Wenig später proklamierten sie – zum Missfallen einiger ost- und westdeutscher Intellektueller – , dass sie sich zusammen mit den Westdeutschen noch immer als „ein Volk“ empfanden. Im August 1990 beschloss die frei gewählte Volkskammer im „Palast der Republik“ den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland.
Das „Volk“ als corpus mysticum der deutschen Demokratie steht nach wie vor im Grundgesetz. In den letzten Jahrzehnten tauchte es im Vokabular der politisch-medialen Klasse indes kaum mehr auf. Man sprach nur noch – ob aus Peinlichkeit, wenn nicht Aversion gegen das als „Tätervolk“ ausgewiesene deutsche Volk oder aus Rücksichtnahme auf die post-nationale Vielfalt der mit Nachdruck geförderten Einwanderungsgesellschaft – von der „Bevölkerung“, von der „Gesellschaft“ oder der „Zivilgesellschaft“, oder noch allgemeiner von „den Menschen in unserem Lande“. Teils absichtlich, teils aus Gedankenlosigkeit wurde die begriffliche – politisch bedeutsame – Unterscheidung von „hier“ lebenden Menschen und von mit Bürgerrechten ausgestatten deutschen Bürgern (sc.- und -innen) als Trägern der res publica verwischt.
Im Gefolge des Ukraine-Krieges – dort kämpft das laut Berichterstattung zur „politischen Nation“ gereifte ukrainische Volk gegen den russischen Aggressor Putin – ist sogar in den deutschen Medien eine Wiederkehr des Begriffs „Volk“ zu beobachten. Es wäre indes verfehlt zu erwarten, dass daraus eine Rehabilitierung des verpönten Begriffs erwachsen könnte. Das „Volk“ steht hierzulande unter Populismus-Verdacht, das Wort birgt Gefahren für den richtigen Begriff von „Demokratie“.
Um die Durchsetzung begrifflicher – und politischer – Reinheit der Demokratie geht es in dem von der Ampel-Regierung vorbereiteten „Demokratiefördergesetz“. Federführend ist die Innenministerin Nancy Faeser. Nach ihrem Konzept geht es um die staatliche Förderung von als NGOs (nongovernmental organizations) bekannten Vereinen, die sich in der Zivilgesellschaft im Kampf gegen Antidemokraten engagieren. Wer gehört dazu? Bei genauerer Betrachtung sind die förderungswürdigen NGOs – mit der denkbaren Ausnahme von deutschen Skatclubs, Kegelvereinen oder islamischen Kulturvereinen – identisch mit der Zivilgesellschaft.
Vor etwa zwanzig Jahren hielt die verstorbene Historikern Karin Priester die „Zivilgesellschaft“ noch für einen „schwammigen Begriff“. Heute liegen die Dinge anders. Mit neuen – indirekt bereits längst zugeflossenen – staatlichen Fördermitteln avanciert die Zivilgesellschaft – der Theorie nach Gegenstück zu staatlicher Regierungsgewalt – in begrifflich positiver Eindeutigkeit zum Träger der modernen Demokratie, zum neuen Souverän.
Immerhin bleibt die staatlich zu fördernde Neudefinition des Begriffs „Demokratie“ nicht unwidersprochen. Die FDP-Politikern Linda Teuteberg hält es für „legitim, dass Menschen sich in Vereinen und NGOs organisieren und sich für ihre Anliegen einsetzen. Aber NGOs wird oftmals eine Bedeutung beigemessen, die ihnen nicht zukommt. Sie sind ihrerseits demokratisch nicht legitimiert, sondern betreiben ihre Art des Lobbyismus. die Gesellschaft besteht aus mehr als einer Addition von NGOs… Auch legitimes, ja wünschenswertes Engagement löst nicht per se einen Anspruch auf staatliche Alimentierung aus. Im Übrigen ist es ein Widerspruch in sich, sich ostentativ als Zivilgesellschaft zu bezeichnen und dann den Anspruch zu erheben, vom Staat finanziert zu werden.“ (Interview in der FAZ v.30.05.2022, S.4).