„Die wirkliche Angst, die große Angst kam im Augenblick des Stillstands“ oder: „Zwerge sind Giganten“

„Entweder wir finden einen Weg, oder wir schaffen einen.“ (Hannibal, Feldherr der Antike)

Wir alle gehen einen Weg in unserem Leben, meist der von unseren Eltern, unserer Familie vorgezeichnete. Vielleicht bahnen wir uns aber auch einen völlig eigenen. Erstere Variante – unsere Familie als Vorbild, Verwandte und Freunde, denen wir folgen – gilt als die sichere, relativ leichtere. Doch ist gerade dieser scheinbar auf uns zugeschnittene Weg tatsächlich auch der beste für uns? „Es kommt mir vor wie ein Raster, sagte sie, alles kommt mir vor wie ein Raster. (…) als ob es nur gerade Richtungen gäbe, die Wege sind vorgegeben, und man kann von dem Raster nicht abweichen, wie in einem Kanal, oder wie wenn man Fugen entlangliefe und dann erst die Richtung wechseln kann, wenn man am Ende einer Fliese angekommen ist und die nächste anfängt.“, ist im Buch zu lesen. Viel Skepsis klingt darin, Unzufriedenheit, der Drang, aus den vorgefertigten Bahnen auszubrechen, etwas Neues zu probieren und Schema F zu verlassen. Doch einen eigenen Weg einzuschlagen enthält auch die große Portion Unsicherheit, ein Wagnis einzugehen. Wenn wir wirklich neue Wege gehen – sei es aus eigener, sei es aus allgemeiner Sicht – dann steht einem die Angst zunächst im Wege: Was ist, wenn wir fehlschlagen? Wird das, was wir für uns als Weg neu schaffen, auch beim jeweiligen Gegenüber auf Gegenliebe stoßen?
Die Entwicklung des Menschen als Persönlichkeit – als großes Thema im Kleinen und als kleine Materie im großen Ganzen – stellt das Hauptthema dieses großartigen Textes von Roland Schimmelpfennig. Wie ein roter Faden zieht sich dieser Leitgedanke durch die jeweiligen Einzelschicksale seiner Protagonisten. Gewählt hat er ganz explizit Personen mit „abgestoßenen Kanten“, die nicht wirklich glücklich und zufrieden sind. Selbstzweifel plagen die einen („Er war immer der gewesen, der alles besser wusste, der alles gelesen hatte: Er war immer der gewesen der bereit war, alles zu verändern, und in dessen Leben sich nichts änderte.“), schwerer Alkoholismus den anderen. Da der erfolgreiche Künstler, der dennoch seine Werte in Frage stellt und dort das polnische Hausmädchen, die schwanger ist, allerdings nicht von ihrem Freund.
Sie alle leben in Berlin bzw. sind auf dem Weg dorthin. Eine Stadt, die ihre Bewohner nicht gerade mit Wärme und Nähe umgibt und in der Roland Schimmelpfennig seinen Roman angesiedelt hat. Es sind Menschen ohne fühlbare oder nur noch vage bestehende Bindungen zu ihrem Vorher und Nachher. Als gelungenes Stilmittel fungieren zusätzlich Schnee, Kälte oder leere, entkernte Wohnungen. Die einzige „So-Etwas-Wie-Verbindung“ stellen wiederum Züge dar, die auf ihren Gleisen Strecken und Leere überbrücken, aber dennoch zumeist nur in Geraden verkehren. Es fehlen Biegungen, Kurven, Krümmungen, Wendungen oder gar Sprünge.
Nur einer scheint diese Serpentinen und Schwenkungen mühelos hinzubekommen: ein Wolf. Dieser taucht mal hier und mal da auf. Wurde er gerade noch vor den Toren der Großstadt gesichtet, so ist er auf einmal mittendrin. Vielleicht stellt gerade er das verbindende „menschliche“ Glied dar? Denn je tiefer er in den städtischen Kern vordringt, umso augenscheinlicher führen die zunächst getrennten und völlig zusammenhanglos scheinenden Stränge zueinander. Erst zaghaft, nur andeutungsweise und mit klitzekleinen Verbindungssequenzen, aber dann immer drängender und Brücken schlagender.
Der Autor hat dies stilistisch hervorragend inszeniert. Beginnt er zunächst nur mit kurzen und fast stakkato-artigen Kapiteln, die sich abwechseln und nebeneinander herlaufen, fügen sich die Erzählstränge Seite um Seite beinahe fließend und mühelos zusammen. Wie in Trance verfällt der Leser trotz des kühl anmutenden Schreibstils und kann sich kaum dem magischen Sog entziehen. „Schließlich kam er bei der entscheidenden Frage an: was überhaupt Sinn machte, ob überhaupt etwas Sinn machte.“
Es geht um Grenzen sprengen, auch wenn es nicht allen gelingt und ihnen am Ende nur blutleere Träume bleiben. Es geht um Vergänglichkeit und Ruhm, der nur sporadisch da war, aufgesetzt auf gehaltlosen Dingen. Und es geht um das Finden eigener Wege, um das Gestalten der eigenen Zukunft, um innere Zufriedenheit. Auch wenn dies mitunter nur durch das Verlassen des scheinbar vorgezeichneten Weges zu erreichen ist.
Fazit: „Alles war so dunkel, und alles war so hell.“ Mit diesem einfachen Satz aus dem Roman von Roland Schimmelpfennig ist eigentlich alles gesagt. Für mich DIE Buchentdeckung im Frühjahr 2016. Eine großartige Leseerfahrung.

Roland Schimmelpfennig An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
S. Fischer (Februar 2016)
254 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100024702
ISBN-13: 978- 3100024701
Preis: 19,99 EUR

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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