„Kunden stehen an der Trauerweide“ heißt es im die Überschrift ausmachenden Gedicht. Und der Rezensent ist sich sicher, dass einiges von dem, was in den Gedichten vorfällt, auch wirklich stattgefunden hat, und dann wären wir beim Dokumentarischen. Doch darauf – mit Brecht als „poetische Bezugsgestalt“- verweist bereits Peter Gosse in seinem Vorwort zu einem anderen Band, Blühende Landschaft, von Ralph Grüneberger.
Dem Rezensenten tauchte bei der Lektüre ein eigener Begriff – nämlich Gedicht der Menge – auf. Es weiß, wie die Menge ist, es ist ihr Bewegungsmelder, es ist ihre Festplatte, es weiß, dass alle schon immer für etwas waren, „wie alle schon immer, immer dafür sind.“ (Luther erlebbar).
Luther war ein Mann der Menge, von der er sich das Poetische, das Volksliedhafte, das Deutliche für seine schriftstellerischen Arbeiten holte, um -natürlich- beim Volk im Gespräch zu sein. Wir sind ein Gespräch, das war das Codewort für Hegel, Schelling und Hölderlin im Tübinger Stift.
„Aber heute, wer twittert was?“ heißt es in der vorletzten Strophe des Luthergedichts. In welcher Menge stehen also diese neuen Gedichte? Unser Heute hat nichts mehr mit dem Alltag Luthers gemein. Doch Kriegserklärungen gibt es auch heute noch, im Internet zum Beispiel: in den sozialen Netzwerken folgt eine Kriegserklärung auf die andere.
Der Titel Die Saison ist eröffnet verweist dagegen auf eine ganz bestimmte, aus alter Zeit herüberkommende Traditionslinie, mit ihren stets neuen, unwiederbringlichen Momenten: und wo sie geschehen, an dieser Stelle, steht das Gedicht und montiert sie und hält sie fest, etwa wie den Mohn in Dichterliebe:
Er schenkt ihr Mohn/Sie gab ihm ihren Mund/Es war ihm Lohn/Zu betteln wie ein Hund.//Er schrieb Verse für sie/Sie schrieb Verse für ihn/Warten in Paris/Warten in Wien.//Ihr Buch erschien/Er hörte den Applaus/Sie rief nach ihm/Er blieb im Haus.
Oder „ein bemützter Mann spielt Schubert“: diese neuen Gedichte haben durchweg – unter ihnen auch die längeren – einen leichten, verständigen Ton, mit dem Grüneberger es versteht, weit durch die Zeit voneinander Verstreutes zu eindringlichen Bildern zusammenzufügen, wie bei den Zeit-Gedichten über die Jahre 1933, 1945, 1953, 1956, 1989 und 2013.
„Kein Grimmsches Gruselmärchen/ Im Fachwerkstädtchen/Die Fackelei der Nazis im Mai ‘33/Man habe die undeutschen Schriften/den Flammen übergeben, übergeben […]“ (Marburg 2013).
Hier schafft Grüneberger durch die Dopplung des Verbs „übergeben“ eine Konnotation, die weitere Personen wie den Maler Max Liebermann aus dem Schatten der Vergangenheit ins Licht treten und in herrlicher Derbheit uns wiederholt sagen lässt, was er vor Verachtung ausrief, als das Verderben an die Macht kam: Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen könnte.
Ein Bild, ja, in diesen Gedichten herrscht das Bild und weniger der Klang, will sagen, es sind keine Klang-Installationen wie bei Thomas Kling oder Monika Rinck, die scheinbar mit den Traditionen vollständig gebrochen haben und an anderen neuen Ufern stehen. Dafür stehe sie, diese Gedichte, für eine – an so manchem Orten als einzige Möglichkeit gebotene – aufrechte Haltung.
Die Zeichnungen Oppermanns verdienen ebenfalls alle Achtung und erheben zu Recht Anspruch auf eine ungeteilte Aufmerksamkeit. Forsch gesagt, sagen wir es einmal so: Diese Linien sind Klang, wie mit dem Notenschlüssel vor- und mit dem Pinsel erst nachgezeichnet.
Fazit (Dublette) für die Werbung: Das Gedicht steht bei Ralph Grüneberger für eine – an so manchem Ort als einzige Möglichkeit gebotene – aufrechte Haltung
Ralph Grüneberger, Die Saison ist eröffnet, Neue Gedichte mit Zeichnungen von Karl Oppermann und einem Nachwort von Norbert Schaffeld, dr. ziethen verlag, Oschersleben 2016, Erste Auflage, 96 Seiten.
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