Abgrenzungswille
Zum Anfang eine Behauptung: die meisten Menschen sind klassenbewusst. Seit Jahrzehnten gibt es in der deutschen Soziologie die These von einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft. So, wie es lange Zeit eine Heteronormativität gegeben hatte nach dem Motto „bloß nicht homo“, ist es ein unausgesprochenes Postulat der Soziologie, die Schere möge sich doch schließen. Spannweite und Varianz unerwünscht. Politisch lautet der Befund mit Aufkommen des Populismus genau umgekehrt: die Mitte geht verloren.
Stets ist man davon ausgegangen, dass besonders die Oberschicht ihre Exklusivität bewahren und jeden Aufstiegswillen der Anderen ins Leere laufen lassen wolle. Andererseits wird die Zugehörigkeit zur Unterschicht als pathologisch angesehen. Ist das so?
Die da oben, wir hier unten
Beim Populismus wird gern angenommen, dass es sich um ein Anti-Eliten-Projekt handele. Man beschimpft „die da oben“, will aber auch dezidiert nicht zu ihnen gehören. Übertragen auf die Schichtung der Gesellschaft stelle ich die Antithese auf: auch die Unterschicht will sich abgrenzen, hat eine schützenswerte Kultur und ist attraktiv.
Gestern hörte ich eine Statistik, wonach es in Deutschland sechs Generationen benötige, damit man aus der Unterschicht in die Mittelschicht aufschließe, in Dänemark nur zwei Generationen. Ähnlich funktionieren auch solche Statistiken, die behaupten, dass afrikanische Entwicklungsländer aufgrund der Kolonialzeit 800 (!) Jahre benötigten, um sich dem westlichen „Niveau“ zu nähern. Das Wort vom „aufschließen“ ist dabei verräterisch, da es insinuiert, dass mit Unterschicht Minderwertigkeit eigentlich gemeint ist. Eigentlich ist diese Art von Normativität reinster Chauvinismus.
Wenn man die normative Brille beiseitelegt und ein Phänomen einfach nur als gegeben hinnimmt, dann kommt man der Lösung viel näher.
Kevin, Charlotte und Leon
Kinder der sozialen Unterschicht heißen oft Kim-Soraya oder Marlon-Jayden, wohingegen typische Mittelschichtsnamen Leon und Mia sind. In der Oberschicht beziehungsweise oberen Mittelschicht setzt man hingegen auf traditionelle und bildungsbürgerliche Namen wie Friedrich, Charlotte und Carl.
„Was tun Eltern ihren lieben Kleinen an? Denken sie nicht daran, dass Personalchefs Kevin und Kim-Soraya mit Bildungsferne assoziieren?“ So argumentieren Menschen, die vielleicht etwas zu normativ und kulturchauvinistisch unterwegs sind und Bildungsferne nicht als schützenswertes Kulturgut ansehen. Tätowierungen, Phantasienamen, kirschrot gefärbte fettige Haare, eine tiefe Verachtung für Menschen, die ins Theater, Museum oder zu Wahlen gehen, sind durchaus Haltungen, Handlungen und Kulturmerkmale, da sie bewusst und zielgerichtet geschehen. Wer unterstellt, man müsse sich emanzipieren und sozial aufsteigen wollen, ist vielleicht nicht wirklich liberal.
Man hat ein Recht, im Unterhemd und Bier trinkend auf dem Balkon zu stehen und Beethoven nicht zu kennen. Es gefällt mir nicht, aber jeder hat das Recht hierzu in einem freien Land.
Kulturveranstaltungen
2016 unterhielt ich mich zufällig mit einem fremden Mann. Seiner Zeit erwähnte ich ihm gegenüber, dass zu den von mir organisierten Debattenrunden stets nur Bildungsbürger kommen, also solche, die es gar nicht nötig haben, sich weiterzubilden. Der Gegenvorschlag des Mannes war gut gemeint, aber eigentlich auch ein wenig verächtlich. Ich solle doch mit kostenlosem Essen locken, dann kämen auch die Armen und Ungebildeten.
Da war es wieder – das Klischee des verfressenen Ungebildeten, den man mit Lockmitteln zum Guten führen könne.
Quintessenz
Ja, es stimmt. Die Schere geht auseinander: die Wohlhabenden gewinnen stärker als die weniger Wohlhabenden. Die Gebildeten bleiben bei William Kentridge Ausstellungen und Susanne Kennedy Inszenierungen ebenso unter sich wie die weniger Gebildeten bei Ballermann Partys. In einem freien Land darf man niemanden zu Bildung zwingen. Das Auseinanderfallen der sozialen Schere liegt nicht nur am Netzwerken der oberen 10.000, sondern auch daran, dass die unteren 10.000 auch ein Recht haben auf ihre eigene Kultur, die sich bewusst abgrenzt. Da Punk Kulturgut ist, darf man dies der Unterschicht nicht vorenthalten. Liberale Länder wie England können mit dem Unterschied leben: Oxford ist genauso Kultur wie Liverpool.