Europa braucht die Kultur der Ukraine. Traditionelle Werte zeichnen das Land aus. Die Europäische Union hätte bereits vor zwanzig Jahren reagieren müssen. Mit der raschen Integration der Ukraine. Dann wäre die aktuelle Eskalation vermieden worden. Eine starke EU muss jetzt deutliche Zeichen setzen. Von Johannes Schütz.
Als der ukrainische Autor Jurij Andruchowytsch im November 2008 bei einer Veranstaltung in Wien über sein Werk sprach, im Odeon in der Taborstraße, in dem prunkvollen Saal, der im 19. Jahrhundert als Warenbörse eingerichtet wurde, mit schmuckvollen, stabilen Säulen, da war die Welt am Schwarzen Meer noch in Ordnung, das freundliche Kherson noch nicht von Russen okkupiert, Odessa noch nicht von Raketen angegriffen.
Damals wurde Literatur aus der Ukraine präsentiert, es mutet an, wie eine vergangene Epoche, obwohl seither nur 15 Jahre vergangen sind. Die anschließende Podiumsdiskussion trug den Titel „Ukraine – Zentrum Europas?“. Noch sollte nachgedacht werden, über die Bedeutung der Ukraine für Europa.
Tiefe Verbundenheit
In seinem Roman „Zwölf Ringe“ erzählte Andruchowytsch von einem österreichischen Fotografen, der in die Ukraine reist, auf den Spuren einer gemeinsamen Vergangenheit, aber auch den Wahrnehmungen einer, manchmal verwirrenden, Zeitgenossenschaft.
Als Jurij Andruchowytsch das erste Mal nach Wien fuhr, von Iwano-Frankiwsk, seiner Geburtsstadt in der Westukraine, die nach dem Schriftsteller Iwan Franko benannt wurde, da war er bewegt, denn er war der Überzeugung, dass eine tiefe Verbundenheit mit der Literatur Galiziens bestehe, in der ehemaligen Hauptstadt der Donaumonarchie, deren viertgrößte Stadt, zur Jahrhundertwende, Lemberg genannt wurde. Andruchowytsch betrachtete diese Wurzeln als bedeutend, auch für sein Schaffen als Schriftsteller.
Tatsächlich kann man neben der ukrainischen orthodoxen Kirche in Wien, in der Postgasse, einem Zentrum der Exilukrainer, die seit Jahrzehnten in Österreich leben, ein Denkmal finden, das Iwan Franko gewidmet wurde, als eine Erinnerung an die literarische Tradition, die die Länder verbindet.
Mit dem sensiblen Humor, der die Menschen der Ukraine auszeichnete, jedenfalls bis in die Zeit vor diesem Krieg, erzählte Andruchowytsch, wie er dachte, dass in Wien wohl jeder Straßenbahnschaffner sofort die gemeinsame Geschichte der Kultur betonen würde.
Enttäuschter Autor
Doch wurde Andruchowytsch enttäuscht. Das erklärte der Autor auch in seinem Essay, der Anfang Februar in der „Deutschen Welle“ erschien: „Weder die ukrainische Sprache und Kultur noch die Ukraine selbst -nichts davon ist vorhanden, nichts hat sich im deutschen Bewusstsein verändert“. (Jurij Andruchowytsch: „Vergeblicher Einsatz für die Ukraine“, Deutsche Welle, 5. 2. 2022)
Tatsächlich waren in Österreich nur wenige Experten an der Kultur der Ukraine interessiert, zwar verfasste Jerzy Got am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Wien seine Habilitationsschrift, die in den neunziger Jahren erschien, über das „Theater in Lemberg“, doch Galizien wurde damals in der Volksbildung nicht erwähnt und in den Medien deutlich ignoriert.
Diese Unkenntnis über Geschichte und Kultur der Ukraine trägt Mitschuld, als ein langjähriges Versäumnis, dass nicht rechtzeitig Entscheidungen getroffen wurden, in der europäischen Politik, die gleich im Ansatz die jetzige Krise in der Ukraine verhindert hätten.
Begeisterung für Europa
Die ukrainische Bevölkerung blickte, wie auch Jurij Andruchowytsch betonte, in seiner Rede im Odeon, vor rund 14 Jahren, mit Begeisterung nach Europa. Wenn man mit einer Ware in der Ukraine erfolgreich sein wollte, so wurde diese mit dem Präfix Euro versehen, wie Euro-Schuhe oder Euro-Kleidung. Damals fügte Andruchowytsch noch einen kleinen Scherz hinzu, um seine Rede amüsanter zu gestalten.
Jetzt wäre es wohl angebracht, dass man anmerkt, es darf keine russische Kleidung werden, auch keine UdSSR-Stiefel, die das Land zertreten, als würden die Mongolen nochmals am Schwarzen Meer aufmarschieren, plündernd und sengend.
Diplomaten scheiterten
Am 16. Februar 2009 lud das Institut für den Donauraum und Mitteleuropa in Wien zu einem Vortrag in die Diplomatische Akademie. Yevhen Chornobryvko, der neue ukrainische Botschafter in Österreich sollte über die Position seines Landes sprechen, insbesondere auch was den Beitritt in die Europäische Union betraf. Als Titel wählte er: „Ukraine 2009, aktuelle Lage, neue Herausforderung„.
Emil Brix, damals der Leiter der kulturpolitischen Abteilung des österreichischen Außenministeriums, bei den Kulturschaffenden der Stadt beliebt, aufgrund seiner Leistungen, sorgte für die einleitenden Worte. Brix ist bekannt, durch sein Buch „Projekt Mitteleuropa“, das er bereits 1986 schrieb, gemeinsam mit dem späteren österreichischen Vizekanzler Erhard Busek.
Brix betonte, dass man die Ukraine, nach der orangen Revolution, rasch in die Europäische Union hätte integrieren sollen. Er führte diesbezüglich, so erzählte er, Gespräche in seinem Netzwerk, auch in anderen Ländern der EU. Demnach setzte Brix mit seiner Gruppe sich deutlich für einen Beitritt der Ukraine in die Europäische Union ein. Bedauerlicherweise scheiterte das Netzwerk, dem Brix angehört, die Integration der Ukraine in die Europäische Union, die zum damaligen Zeitpunkt durchaus möglich erschien, wurde von der zögerlichen Politik der Euopäischen Kommission versäumt.
Man zog es in den Ländern der Europäischen Union vor, in der Öffentlichkeit und in den Medien, hauptsächlich über einen Beitritt der Türkei zu grübeln. Statt die Ukraine zu fördern, ein Land, in dem traditionelle Werte so stark beachtet werden, dass es von Bedeutung für ganz Europa sein sollte, wo ein dramatischer Werteverlust deutlich diagnostiziert werden muss.
Jetzt erlebt Europa die Konsequenzen dieser bedenklichen Politik, schon der Konflikt um die Krim hätte damals verhindert werden können, durch den raschen Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Es folgte die aktuelle Eskalation, die kaum noch heilbar erscheint, mit den Arzneien der Diplomatie.
Land der Engel
Am Majdan, dem Platz der Unabhängigkeit, im Zentrum von Kiew, steht eine Statue, die einen Engel repräsentiert. Von dort führt nach oben, am Hotel Ukraina vorbei, der Weg zum Höhlenkloster, einer beeindruckenden Klosterstadt, die in ihren Mauern einen ganzen Bezirk umfasst, von Bedeutung als spirituelles Zentrum, seit Jahrhunderten. Auf der anderen Seite des Engels liegt die Sophienkathedrale, mit der monumentalen Sophienikone, sechs Meter hoch, sie wird gerne als „betende Gottesmutter“ bezeichnet, die die Apsis glänzend ziert, als ein Symbol für Erkenntnis und Weisheit.
Sie sind in der Ukraine traditionell von Bedeutung, die Engel, sollen sie doch dem Land beigestanden haben, wenn es bedroht wurde, einst beim Mongolensturm, dann jahrzehntelang unter russischer Herrschaft. Jetzt soll der Engel nochmals wachen, über die Unabhängigkeit des Landes.
Ukrainische Tragödie
Die Ukraine erlebte in ihrer Geschichte schon mehrfach schreckliche Bedrohung. Dazu zählte auch das Aushungern des Landes, was mit voller Absicht geschah, in den dreißiger Jahren, unter dem Machthaber Stalin, der die Ernten der blühenden Ukraine rücksichtslos abtransportieren ließ. Mehrere Millionen Ukrainer starben den Hungertod. Diese ukrainische Tragödie, mit dem Begriff Holodomor bezeichnet, Mord durch Hunger, wurde erst nach 1991 von der europäischen Zeitgeschichte ernsthaft betrachtet. Eine literarische Darstellung gelang der ukrainischen Autorin Marina Lewycka, die in England lebt, in ihrem Roman „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“.
Es ist diese ukrainische Tragödie, dass ein nochmaliger Einmarsch der Russen in der Ukraine mit höchster Sensibilität betrachtet werden muss , was auch in den Reaktionen der ukrainischen Bevölkerung gespürt werden kann. Europa muss deshalb stets deutlich erklären, kein Giftgas auf Mariupol, kein Raketenangriff auf Lemberg, kein Massaker bei Kiew. Das Land der Engel darf nicht gestürmt und zerstört werden.
Für diesen Überfall müssen die russischen Machthaber mit deutlichen Sanktionen konfrontiert werden. Die autoritäre russische Führung kann der Unterstützung der eigenen Bevölkerung nicht sicher sein. Zu groß war seit Jahren schon der Widerspruch im Land, auch von der Open Russia Foundation, so dass ein Krieg dazu dienen mag, die Machtposition in Russland zu erhalten.
Hingegen gibt es eine starke Europäische Union, die die Grenzen deutlich ziehen kann. Die Europäische Union muss die Auseinandersetzung mit Russland nicht fürchten.
Russendenkmal stürzen
Es wäre durchaus eine Sanktion möglich, die die russische Führung nachdenklich machen sollte. Am Schwarzenbergplatz in Wien, zwischen Ringstraße und Belvedere, steht bis heute ein Denkmal, das an den glorreichen Einmarsch der Russen erinnern soll. Aufgrund des gegenwärtigen Verhaltens der russischen Armee, die auf eine brutale Okkupation der Ukraine abzielt, darf ein solches Monument nicht länger in einer Stadt bleiben.
Das Russendenkmal in Wien muss entfernt werden. Es sollte dann ersetzt werden durch eine Kopie des Denkmals vom Majdan in Kiew, als ein Zeichen der Verbundenheit, in einer so schweren Zeit. Der Schwarzenbergplatz wird dann zum Unabhängigkeitsplatz.
Wertvolles Kulturland
Das Opernhaus von Odessa wurde von den Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer entworfen, die auch das Wiener Volkstheater und das Landestheater Salzburg zeichneten. Die Oper von Odessa zählt zu den Bauwerken, auf die die Bevölkerung der Ukraine stolz ist, denn Kunst wird dort als wertvoll geschätzt. Gerne erzählt man in Odessa den Gästen, als ein Zeichen der kulturellen Verbundenheit, dass es österreichische Architekten waren, die die Oper errichteten.
In Kiew lebte Michail Bulgakow, dessen Roman „Meister und Margarita“ zu den Hauptwerken der Weltliteratur zählt, es ist das Lieblingsbuch der Ukrainer, das dort jederzeit zitiert werden kann, als Prunkstück der Literatur des Landes. Das Werk entstand allerdings in der Zeit des Stalinismus, die für die Ukraine eine Tragödie bedeutete. Im Roman von Bulgakow müssen Schriftsteller damit rechnen, in die Psychiatrie gebracht zu werden.
Die Ukraine ist heute ein Land mit literarischen Zirkeln, von Bedeutung für das geistige Leben in Europa. Jurij Andruchowytsch vermittelt einen Eindruck davon, in einem Essay, er berichtet darin, was es für ihn bedeutete, in Lemberg, in der Privatbibliothek eines ukrainischen Zen-Buddhisten, rare Gedichtbände zu finden.
Verfolgte Autoren in Westeuropa
Es ist die Hochachtung von Kultur, die Aufmerksamkeit für traditionelle Werte, weshalb Europa die Ukraine braucht. In der zeitgenössischen Ukraine gelten Schriftsteller als bedeutend für das Land, tragen Städte ihren Namen. In Österreich hingegen, da werden die Dichter von Boulevardmedien angespuckt, dann von erzürnten Bürgern in den Rinnsal gestoßen, wie es Thomas Bernhard erfuhr, nach dem keine Stadt benannt wurde, für den auch kein Denkmal im Volksgarten errichtet werden darf, im Rosenpark neben dem Burgtheater, in dem sein „Heldenplatz“ erstmals aufgeführt wurde.
Von Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek wiederum konnte man lesen, dass sie einst ihr Studium abbrach, sie wollte Theaterwissenschafterin werden, weil sie in Wien kaum noch wagte, ihre Wohnung zu verlassen und durch die Stadt zu gehen. Nobelpreisträger Peter Handke verließ einst das Land, nachdem er von Polizisten angepöbelt wurde und seine „Andere Rede über Österreich“ vorlegte.
Bei Autorin Brigitte Schwaiger, ihr Roman „Wie kommt das Salz ins Meer“ war ein Bestseller, wurden Einnahmen und Vermögen in Wien von einem „Sachwalter“ übernommen, sie brachten sie nach „Steinhof“, in die berüchtigte psychiatrische Anstalt. Auch Brigitte Schwaiger wäre wert gewesen, den Nobelpreis zu erhalten, hätte man ihr nicht das Leben und die Existenz als Schriftstellerin zerstört.
Publizisten werden in Österreich verfolgt, ihre Bibliotheken, ihre Aufzeichnungen und ihr Vermögen beschlagnahmt, sie werden bedroht mit Gefängnis oder sogenannter „Behandlung“ in der Psychiatrie, also Zwangsmedikation mit Neuroleptika, die Bewegungsstörungen auslösen und die Konzentration beschädigen, wie ein Nervengift es macht. Dementsprechend schwierig wird es für österreichische Autoren, sollten sie für die Ukraine eintreten wollen, mit ihren Schriften.
Kein sicheres Exilland
Wien bedeutet keinesfalls Sicherheit, darüber sollte auch die Ukraine längst informiert werden, gerade in einer Zeit, da Exil in Erwägung gezogen werden muss. Es kann ansonsten geschehen, dass die Verhältnisse in Österreich falsch beurteilt werden. Das beweist auch der Vorfall, den Alisa Vinogradova erlebte, die in Kherson geboren wurde. Offenbar war die Ukrainerin der Überzeugung, dass eine improvisierte Performance mit politischem Inhalt ohne Gefährdung für ihre Gesundheit möglich wäre, in der Republik Österreich. Doch wurde Alisa Vinogradova in Wien, am Red Carpet des Opernballs im Februar 2018, von einem Rudel Polizisten niedergeprügelt, brutal und sinnlos.
Die Enttäuschung von Jurij Andruchowytsch ist verständlich und nachvollziehbar, es mangelte in den vergangenen Jahren an der notwendigen Unterstützung für die Ukraine. Doch wurde Andruchowytsch noch nicht ausreichend in Kenntnis gesetzt, über die Schwierigkeiten, mit denen Publizisten in Ländern der Europäischen Union konfrontiert werden.
So manche Autoren, aber auch Kulturschaffende, wurden in der Europäischen Union in den vergangenen Jahren ebenfalls überrannt, von einem autoritären System, erkennbar als negative Dialektik der Aufklärung, deren Ansätze bereits von Theodor W. Adorno erkannt wurden. Ansonsten hätten Publizisten in den vergangenen Jahren wohl gerne mehr Einsatz gezeigt, für die Ukraine, schon als Julija Tymoschenko ins Gefängnis gesperrt wurde, da war dies in Österreich allerdings kaum noch möglich.