Die Trümmer von Galiläa: Ein Riesenpuzzle aus der Wüste

Mit mehr als 2,1 Milliarden Gläubigen ist das Christentum die größte Religionsgemeinschaft. Für Christen ist Jesus Christus, der „Sohn Gottes“, der Heilsbringer, der Messias, der im Alten Testament von den Propheten angekündigt worden ist. Viel wird über ihn erzählt, vielleicht genauso viel ist hinzugedichtet. Aber unbestritten bleibt eine faszinierende Wahrheit, die für Christen genauso gilt wie für Andersgläubige oder Atheisten: „Es gab ihn wirklich, den historischen Jesus aus dem Dorf Nazareth, einen Handwerkersohn, der die Welt veränderte“, der in Galiläa und Judäa lebte, als Wanderprediger einen Kreis von Anhängern um sich scharte und mit Anfang 30 in Jerusalem am Kreuz starb. Aus einer anfänglich kleinen Glaubensgemeinschaft entwickelte sich letztendlich die heutige mächtige Weltreligion mit ihrer, wie es die Theologen Christoph Markschies und Hubert Wolf einmal formulierten, “ großen Topografie von Erinnerungsorten“. Und genau dort ist das Buch, das von Annette Großbongardt und Dietmar Pieper herausgegeben wurde, auch angesiedelt. Gegliedert in vier große Teile („Das Leben Jesu“, „Die antike Welt“, „Alltag in Palästina“, „Ein neuer Glaube“) wird der Leser auf eine Reise in die Zeit vor über 2000 Jahren mitgenommen.
Von Jesus von Nazareth ist so gut wie nichts schriftlich überliefert. Die Evangelien wurden erst Jahre nach seinem Tod geschrieben. Wie viel davon ist wahr? Was wurde hinzugedichtet? Was wissen wir wirklich über den Heiland und seine Welt? Erschreckend wenig. Handfeste Zeugnisse, die sich eindeutig Jesus oder seinen frühen Gefolgsleuten zuordnen lassen, gibt es nicht. „Wer dem Mann aus Galiläa begegnete, hat nichts über ihn aufgeschrieben. Wer über ihn schrieb, ist ihm nicht begegnet.“, stellt die Redakteurin des „Tagesspiegels“ Claudia Keller folgerichtig fest. Auf unterschiedliche Art und Weise ergründen somit auch die 21 Spiegel-Autoren in den im Buch enthaltenen 25 Analysen, Essays und Reportagen zumeist nur aus Vermutungen oder aber wissenschaftlich-kritischen Forschungen, warum aus dem gerade einmal zweijährigen Wirken des äußerst charismatischen Predigers diese mächtige Weltreligion entstehen, warum sich seine Anhänger schon früh vom Judentum abspalteten und wie sich der neue Glaube im Römischen Reich über große Entfernungen weiterverbreiten konnte.
Vielleicht war es gerade das Vielfältige und Vieldeutige, das den Erfolg der jungen Religion ausmachte. Wer waren die Männer und Frauen, die mit ihrer Begeisterung und ihrem Bekennermut zu den ersten Botschaftern dieser Religion wurden? So wird u. a. in einem Beitrag die lange Zeit unterschätzte bedeutsame Rolle der Frauen um Jesus nachgezeichnet. Ein anderer wiederum beleuchtet das besondere Verhältnis Jesu zu Johannes dem Täufer. Wie sah sich Jesus selbst und was bedeutete er für seine Zeitgenossen? Was unterschied diesen einen von all den anderen Charismatikern seiner Zeit im mediterran geprägten Kulturraum Palästinas? Welche Spuren lassen sich dort noch finden? Welche Berufe hatten die Menschen zu Jesu Lebzeiten? Wie sah ihr Alltag aus? Wie entwickelte sich die Medizin in der Antike? Was hat es mit den Qumran-Rollen, die am Toten Meer zwei Jahrtausende überdauert haben und zu den wertvollsten Dokumenten der biblischen Zeit zählen, auf sich? Und welche Rolle spielte der römische Verwaltungsbeamte Pontius Pilatus im wohl folgenreichsten Prozess der Weltgeschichte? Hielt er Jesus vielleicht sogar für unschuldig? War das Todesurteil vielleicht ein schwerer Justizirrtum?
„Es ist sicherlich äußerst müßig zu versuchen, die Grenzen zu ziehen zwischen der Sachinformation in biblischen Erzählungen und einer Darstellung, die religiöser Verklärung dient und dem Willen zur Mission geschuldet ist. Denn es gibt diese Trennung nicht.“, stellt Spiegel-Autor Stefan Berg folgerichtig fest. Für die beiden Herausgeber und nach „allem, was über ihn bekannt ist, war Jesus ein Revolutionär wider Willen, vielleicht der wirkungsmächtigste der Weltgeschichte.“ Einen guten Einblick in die Anfänge des Christentums gibt dieses Buch auf jeden Fall, auch wenn vieles nur angerissen wird. Für diese höchst interessante Reise sollte man sich deutlich mehr Zeit nehmen.

Annette Großbongardt, Dietmar Pieper (Hg.)
Jesus von Nazareth und die Anfänge des Christentums
DVA Verlag (November 2012)
288 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3421045992
ISBN-13: 978-3421045997
Preis: 19,99 EURO

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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