Die „Todesfuge“ – Höhepunkt der Holocaust-Lyrik
Groß ist die Zahl der deutschen Gymnasiasten, die in ihrem Deutschunterricht das Gedicht „Todesfuge“ von Paul Celan gelesen und interpretiert haben. Nach Claus Michael Ort (2001) wurde kein anderes deutschsprachiges Gedicht der Nachkriegszeit so vehement zur Chiffre und zum Symbol für den Holocaust. In der internationalen Rezeption gilt es als das wichtigste Gedicht, das an die Opfer des Holocaust erinnert (Binder 1997). Es steht einmalig als Garant einer „Poetik des Holocaust“ wie ein Denkmal in der Literaturlandschaft. Pünktlich zum Doppel-Jubiläum im Jahr 2020 veröffentlichte der Literaturwissenschaftler Thomas Sparr eine Monographie mit dem Titel „Todesfuge. Biographie eines Gedichts“. Im Jahr 2020 sind die Gedenktage des 100. Geburtstages und des 50. Todestages von Paul Celan. Thomas Sparr betont in seiner Einleitung:
„Kaum ein Gedicht der Weltliteratur, erst recht keines des 20. Jahrhunderts, hat es zu solcher Berühmtheit gebracht wie die „Todesfuge“ von Paul Celan.“ (Thomas Sparr 2020, S. 9).
Das Gedicht „Todesfuge“
Das Gedicht „Todesfuge“ hat formal sieben Strophen und 36 Verse. Im Aufbau folgt es einem musikalischen Kompositionsprinzip, wie wir es von der Fuge kennen. Unterschiedliche Stimmen und Imitationen mehrerer Themen folgen aufeinander. Es werden diverse Variationen durchgespielt, die insgesamt eine dramatische Struktur ergeben, in der die Macht des Todes spürbar wird.
Todesfuge
von Paul Celan
Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne
er pfeift seine Rüden herbei er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen spielt weiter zum Tanz auf
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen
Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith
Lesung vor der Gruppe 47 in Nienburg im Jahr 1952
Nachdem das 1944 geschriebene Gedicht erstmals im Jahr 1947 in rumänischer Übersetzung erschien, folgte die erste deutsche Originalfassung im Jahr 1948 in der Gedichtsammlung „Der Sand aus den Urnen“. Im Folgeband „Mohn und Gedächtnis“ im Jahr 1952 wurde das Gedicht – gemeinsam mit vielen anderen bedeutenden Gedichten Paul Celans – einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Durch Vermittlung seiner Geliebten Ingeborg Bachmann wurde Paul Celan zu einer Lesung auf der Tagung der Gruppe 47 im Mai 1952 in Nienburg eingeladen. Für Paul Celan wurde dieser Auftakt zu einem Desaster. Er las sehr pathetisch und erntete höhnisches Gelächter. Spöttische Kommentare der anwesenden jungen Dichter waren „Der liest ja wie Goebbels!“ oder „Er hat in einem Singsang vorgelesen wie in einer Synagoge“. Paul Celan war von der Resonanz seiner jungen Dichterkollegen schockiert und tief gekränkt. Die Kränkung war so nachhaltig, dass er selbst keine weiteren Lesungen dieses Gedichts mehr durchführte und sich Jahre später dagegen aussprach, dass dieses Gedicht in Lyrik-Anthologien aufgenommen wurde.
Die „Todesfuge“ im Deutschen Bundestag.
Zum 50. Gedenktag der Nazi-Pogrome 1938
36 Jahre nach dem Nienburger Desaster folgte eine erneute Lesung der „Todesfuge“, die ebenfalls zu einem Skandal wurde. Am 10. November1988 war der 50. Gedenktag der November-Pogrome des Jahres 1938. Im Deutschen Bundestag war dazu eine Gedenkfeier geplant. Die Holocaust-Verfolgte Ida Ehre trug das Gedicht „Todesfuge“ von Paul Celan vor. Anschließend folgte die Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger. Jenningers Rede war vom Sprachduktus und Vortragsstil her das krasse Gegenteil des rezidierten Celan-Gedichtes. Zahlreiche Festgäste waren brüskiert und empört. Die negativen Reaktionen auf die Rede von Philipp Jenninger waren so vehement, dass dieser schließlich von seinem Amt als Bundestagspräsident zurücktrat.
„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“.
Leitmotiv der Literatur nach Celans Tod.
In dem Gedicht „Todesfuge“ taucht die Formulierung „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ insgesamt viermal auf. Die mehrmalige Wiederholung dieses bedeutsamen Satzes verweist auf die Schlüsselfunktion im Gesamtgedicht. Die Redewendung „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ wurde zu einer beliebten Formulierung der Holocaust-Literatur. Der polnische Dichter Tadeusz Rozewicz widmete Paul Celan ein Gedichtportrait mit der Überschrift „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“ Der Untertitel lautet „Was aber bleibt vom Dichter in dürftiger Zeit“. Im Jahr 1990 entstand eine Dokumentation über die Ermordung der europäischen Juden. Die Herausgeber Lea Rosh und Eberhard Jäckel gaben ihrer Arbeit den Titel „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“. Im Jahr 1994 veröffentlichte Rüdiger Safranski seine Biographie über Martin Heidegger. Er gab ihr den Titel „Ein Meister aus Deutschland.“ Diese Formulierung ist eine ins Schwarze treffende Assoziation, kennt man die enge Verstrickung und Verbundenheit von Paul Celan und Martin Heidegger (Csef 2020). Vor mehr als 20 Jahren hat der Celan-Experte Dieter Lamping folgendes Fazit gezogen:
„Die „Todesfuge“ ist das bekannteste, ja berühmteste literarische Werk über die Vernichtung der Juden geworden. Kein anderes Gedicht, keine Erzählung, kein Roman, auch kein Drama über die Shoah hat sich neben ihr behaupten können. In Deutschland – aber nicht nur hier – ist sie zum Inbegriff der Holocaust-Literatur geworden. Bezeichnenderweise ist sie allein fünfzehnmal ins Englische übersetzt worden. Ihr Erfolg ist aber nicht nur, wie geargwöhnt wird, in ihrer Suggestivität und problematischen Musikalität, sondern auch in ihrer poetischen Radikalität begründet.“ (Dieter Lamping 1998, S. 108).
Die „Todesfuge“ im Fokus des Gedenkens zum 50. Todestag von Paul Celan
Der 20. April 2020 gilt als der 50. Todestag von Paul Celan, auch wenn Ort, Zeit und Umstände seines Suizids nicht bekannt sind (Csef 2021). Zu diesem Gedenktag erschienen in allen großen deutschen Zeitungen Beiträge, die an Paul Celan und sein Werk erinnern. Es ist bezeichnend, dass in mehreren Beiträgen die „Todesfuge“ in der Überschrift auftaucht. So schrieb Elke Schmitter (2020) im „Spiegel“: „Paul Celan und die Todesfuge: persönlich dramatisch, historisch trostlos, kulturpolitisch brisant.“ Und in der „Berliner Zeitung“ verwendete Cornelia Geißler (2020) den Titel „Der Dichter der Todesfuge“. In der „Augsburger Allgemeinen“ schrieb Stefan Dosch (2020) einen Beitrag unter dem Titel „Dichten in der Muttersprache, Mördersprache.“ Und er fügte den Untertitel hinzu: „Seine Todesfuge zählt zu den berühmtesten Verskunstwerken des vergangenen Jahrhunderts.“ Diese Präsenz des Gedichtes „Todesfuge“ zeigt also bis in die Gegenwart die überragende Bedeutung, die diesem Gedicht beigemessen wird. So wie Paul Celan zu den wichtigsten deutschsprachigen Dichtern der Holocaust-Literatur zählt, so gilt auch sein Gedicht „Todesfuge“ als die dominante Metapher seines lyrischen Werks.
Literatur:
Binder Alwin (1997) Die Meister aus Deutschland. Zu Paul Celans Todesfuge. Von Celan bis Grünbein. Zur Situation der deutschen Lyrik im ausgehenden 20. Jahrhundert. Germanica, S. 51-71
Celan Paul (1948) Der Sand aus den Urnen. A. Sexl, Wien
Celan Paul (1952) Mohn und Gedächtnis. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart
Csef Herbert (2020) Der Lyriker Paul Celan. Erinnerungen zu seinem 50. Todestag. Tabularasa Magazin vom 24. April 2020
Csef Herbert (2021) „Versunken im bitteren Brunnen des Herzens“. Der Suizid des Lyrikers Paul Celan vor 50 Jahren. Suizidprophylaxe, Band 48, 2021
Dosch Stefan (2020) Dichten in der Muttersprache, Mördersprache. Seine Todesfuge zählt zu den berühmtesten Verskunstwerken des vergangenen Jahrhunderts. Augsburger Allgemeine vom 24.4.2020
Geißler Cornelia (2020) Der Dichter der “Todesfuge”. Berliner Zeitung vom 20.4.2020
Lamping Dieter (1998) Von Kafka zu Celan. Jüdischer Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 99-112
Ort Claus-Michael (2001) Erinnern des “Unsagbaren”. Zur poetischen Topik des Holocausts von Celan zu Eisenman. In: Hans Krah (Hrsg.): All-Gemeinwissen. Kulturelle Kommunikation in populären Medien. Ludwig, Kiel, S. 40-41
Rosh Leea & Jäckel Eberhard (1990) „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.” Dokumentation über die Ermordung der europäischen Juden.
Rozewicz Tadeusz (1993) Das unterbrochene Gespräch. Gedichte polnisch und deutsch. Verlag Droschl, Graz
Safranski Rüdiger (1994) Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. Hanser, München
Schmitter Elke (2020) „Paul Celan und die Todesfuge“. Persönlich dramatisch, historisch trostlos, kulturpolitisch brisant. Paul Celan und die „Todesfuge“. Der Spiegel vom 20.4.2020
Sparr Thomas (1998) Zeit der Todesfuge. Rezeption der Lyrik von Nelly Sachs und Paul Celan. In: Stephan Braese, Holger Gehle, Doron Kiesel, Hanno Loewy (Hrsg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Campus Verlag, Frankfurt/New York, S. 43-52
Sparr Thomas (2020) Todesfuge. Biographie eines Gedichts. Deutsche Verlags-Anstalt, München