Bis zum heutigen Tag werden sie in Asien verehrt – die Nagas. Es sollen gottgleiche Wesen sein, denen es möglich ist, ihre Gestalt zu wandeln, sowohl als Mensch oder als Schlange zu erscheinen. Die grenzwissenschaftliche Literatur beschreibt sie zumeist als dämonische Reptiloide, welche die Menschheit beherrschen und versklaven wollen. Diese Ansicht ist jedoch nur im Westen verbreitet, und hat ihre Wurzeln in der jüdisch-christlichen Mythologie. Bereits in der Thora bzw. dem Alten Testament ist von „Satan, der alten Schlange“ die Rede. Hierin begründet sich die Abneigung der meisten Westler gegen diese Reptilien. Ganz anders im Osten. Nicht nur in Indien, sondern in ganz Südostasien genießen Schlangen, insbesondere Kobras (Naga) kultische Verehrung. Sowohl im Hinduismus als auch im Buddhismus stehen sie als Symbol für Weisheit und Wahrhaftigkeit. Shiva, einer der drei Hauptgötter der Hindus, trägt stets eine Kobra um den Hals. Der Schlangengott Naga Raja Deva beschützte Buddha vor den Elementen, bevor dieser Erleuchtung erlangte, heißt es in uralten buddhistischen Überlieferungen.
In Thailand ist den Nagas sogar eine ganze Stadt geweiht. Doch wer kennt schon Nong Khai? Bangkok, Phuket und Pattaya sind hier die bevorzugten Ziele europäischer Touristen. Dabei gilt Nong Khai gemäß der Wertung des US-Magazins „Modern Maturity“ sogar als einer der beliebtesten Zweitwohnsitze amerikanischer Rentner. Diese Stadt in der Nähe der Grenze zu Laos liegt direkt am Mekong, jenem mächtigen Strom, der von Tibet aus bis nach Vietnam fließt. Er soll einer Legende nach durch den Kampf zweier Naga Fürsten entstanden sein. Einst rangen hier Phraya Suwannanaga und Phraya Sutthotanaga um die Vorherrschaft. Bei Ihren Kämpfen sollen sie nicht nur das Flußbett des Mekong, sondern auch die Täler zahlreicher anderer, kleiner Flüsse wie des Nan oder Chee ausgeschürft haben. Sutthotanaga gilt als der Schöpfer des Mekong, aus dem er auch seine Lieblingsspeise, den riesigen Katzenfisch, bezog. Diese Spezies, welche ein Körpergewicht von mehreren hundert Kilogramm erreichen kann, gibt es noch immer, doch sie ist inzwischen vom Aussterben bedroht. Schuld daran hat nicht der Appetit des Naga Raja, sondern die rücksichtslose Überfischung der Bestände durch den Menschen, der die Nachfolge der Nagas als Beherrscher der Erde angetreten hat – wenn man den hiesigen, buddhistischen Legenden Glauben schenkt.
Von den Einheimischen hier werden die Nagas noch immer als Götter verehrt. Zu ihren Ehren schmücken die Bewohner Nong Khais Bambusboote mit farbigen Lampions und lassen die als krönenden Abschluß einer jeden buddhistischen Vollmondzeremonie den Mekong abwärts treiben. Unabhängig von dieser „Lai Rua Fai“ (das Flößen der Feuerboote) genannten Zeremonie, ereignen sich jedes Mal zu Vollmond in Nong Khai merkwürdige Phänomene, welche tausende Zuschauer anziehen. In jeder Vollmondnacht steigen aus den Tiefen des Mekong feurige Lichtkugeln auf. Sie schießen glosend in die Höhe und verschwinden dann spurlos am Himmel. Nach lokalen Legenden sollen es die Nagas sein, welche diese Feuerkugeln abschießen, um auf diese Weise Buddha ihren Respekt zu zollen. Wissenschaftler sind der Meinung, daß die Gravitationskräfte des Mondes Methanvorkommen auf dem Grunde des Mekong lösen, und auf diese Weise für das Phänomen der feurigen Kugeln sorgen. Doch warum erscheinen die Lichtkugeln dann immer nur in Vollmondnächten? Die Gravitationskraft des Mondes bleibt ja ständig gleich. Dieses Mysterium entzieht sich bisher jeder rationalen Erklärung.
Wer den Nagas nahe kommen möchte, sollte eine Tour auf ihren Spuren unternehmen. Das Abenteuer beginnt in Udon Thani, der Stadt mit dem nächstgelegenen Flugplatz, die durch Thai Airways von Bangkok aus täglich angeflogen wird. In Udon Thani befindet sich Wat Sirisuttho, auch Wang Nakin genannt – der „Palast der Nagas“. Dieser Tempel soll ein magisches Tor zwischen der Welt der Menschen und jener der Drachenschlangen sein, die ihr geheimes Reich durch „sublime Mauern aus psychischer Kraft“ vor unliebsamen Eindringlingen schützen. So überliefern es jedenfalls zahlreiche lokale Legenden. Sie erinnern in ihrer Struktur an keltische Berichte über die „Anderwelt“, jene mystische Heimat der Trolle, Elben und Feen. Klingt hier das Wissen um parallele Welten und ihre Bewohner an, welche zumindest die moderne Quantenphysik als möglich erachtet?
Von Wang Nakin aus geht es weiter nach Wat Po Chai, dem populärsten Tempel von Nong Khai. Er beherbergt nicht nur das heiligste Abbild Buddhas in der gesamten Provinz, sondern auch etliche interessante Darstellungen der Nagas. Doch das unumstrittene Zentrum des Naga-Kultes ist Wat Thai in dem kleinen Ort Ponpisai. Die Einheimischen glauben, daß in diesem Tempel eine geheime Passage ins Reich der Nagas existiert, die noch heute von Eingeweihten jederzeit benutzt werden kann. Der Tempel ist auch einer jener Plätze, von dem aus sich die mysteriösen Feuerbälle des Mekong in jeder Vollmondnacht besonders gut beobachten lassen.
Unweit von hier liegt Phra That Bang Puan, die älteste Pagode der Stadt in indischem Baustil. Gläubige besuchen hier Sra Phraya Naga – den „Teich der Drachenschlangen“.
Die geheimnisvoll spirituelle Atmosphäre von Nong Khai hat auch moderne Künstler inspiriert. Sala Kaew Ku ist ein riesiger Park, der mehr als 200 gewaltige Plastiken und Standbilder beherbergt, die durch hinduistische, buddhistische und andere Glaubensvorstellungen inspiriert wurden. Luang Pu Bunleua Sulitat ist ihr Schöpfer. Er hat sich seine Kenntnisse als Steinmetz autodidaktisch angeeignet und lebt heute als Mönch. Den Park nennt er einen Ausdruck seines Wunsches nach einer Welt, in der alle Glaubensbekenntnisse gleichberechtigt miteinander existieren können. Manches an Luang Pu Bunleua Sulitas Werk erinnert auch an die Inszenierungen eines Dali, Blanco oder einer Nikki de Saint Phalle. Im Park gibt es etwa Statuen, welche Hunde als Autofahrer zeigen. Eingebettet in tropische Vegetation, zieht diese surreale Kulisse spirituelle Sucher ebenso wie Künstler und „ganz normale“ Touristen in ihren Bann. Nong Khai wird von den Einheimischen das „Loch Ness“ Asiens genannt – und dies wohl nicht zu Unrecht.
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Verwendete Literatur:
Chidsupang Chaiwiroj, City of Serenity and Serpent Gods, Sawasdee (Bordmagazin von Thai Airways), Bangkok, Mai 2011