Der rassistisch verbrämte Chauvinismus Deutschlands hat in der jüngsten Vergangenheit unermessliches Leid über die Welt gebracht. „Nie wieder Deutschland“ hieß es als Reaktion auf die NS-Verbrechen nach dem Ende des 2. Weltkrieges.[1] Dieses Versprechen ist aufgrund der Realitäten des Kalten Krieges bald wieder in Vergessenheit geraten. Schuldabwehr prägte die junge Bundesrepublik und der Antifaschismus in der DDR geriet immer mehr zu einer lästigen Pflichtübung. Trotz allen Beschwörungen des Wandels zu einem demokratischen Staates ist Nationalismus, Rassismus, Autoritatismus und NS-Nostalgie im Nachfolgestaat BRD wieder gesellschaftsfähig.
Das größte Vernichtungslager Auschwitz war im Frühjahr 1940 als Konzentrationslager auf annektiertem polnischem Territorium errichtet worden. Zum Stammlager Auschwitz I kamen zwei weitere Bereiche hinzu, das Vernichtungslager Birkenau (Auschwitz II) und Monowitz (Auschwitz III) als Ort der Zwangsarbeit im Buna-Werk der I.G. Farben und als Zentrale für 50 Außenlager in Oberschlesien. Im Sommer 1941 hatte Himmler den Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, nach Berlin befohlen und ihm mitgeteilt, dass dieses Lager eine zentrale Funktion bei der „Endlösung der Judenfrage“ erhalten sollte. Mit Hilfe von Eichmann bereitete Höß die Massenvernichtung vor. Als Methode des Massenmordes wählte man Giftgas, denn „Erschießen wäre schlechterdings unmöglich und auch eine zu große Belastung für die SS, die das durchführen müssten“, schrieb Höß in seinen Erinnerungen.[2]
Als Konzentrationslager, Vernichtungslager und Drehscheibe des Zwangsarbeitereinsatzes steht Auschwitz exemplarisch für die Multidimensionalität des nationalsozialistischen Lagersystems. Die von Vernichtungsabsicht und industriellen Ausbildungsinteressen wurde hier unmittelbar Wirklichkeit.[3]
Über den Fernsehsender BBC London erreichten erste Schreckensnachrichten seit Herbst 1943 die Weltöffentlichkeit. Spätestens jetzt waren die Alliierten, der Vatikan und einige neutrale Staaten über die deutschen Verbrechen in Auschwitz informiert. Durch Gerhart Riegner, einem Vertreter des World Jewish Congress in Genf, der durch Verbindungsleute in Breslau sichere Informationen erhalten hatte, waren Amerikaner und Briten schon im August 1942 per Telegramm alarmiert worden. Das Fernschreiben warnte davor, dass alle Juden aus den deutsch besetzten und kontrollierten Ländern im Osten konzentriert und ausgerottet werden sollten.
Auch direkt aus dem Lager gelangten Berichte über die systematische Ermordung der Juden an die Öffentlichkeit. Sie beruhten auf den Schilderungen von Alfred Wetzler und Rudolf Vrba, zwei jüdischen Häftlingen aus der Slowakei, denen am 7.4.1944 die Flucht in ihre Heimat gelungen war. Eindringlich warnten sie Vertreter des slowakischen Judenrates vor der Liquidierung des Theresienstädter „Familienlagers“ und der bevorstehenden Ermordung der ungarischen Juden.[4] Exakt beschriebe sie den Ablauf des Vernichtungsprozesses, schilderten die Funktionsweise der Krematorien, gaben Auskunft über die Lagerorganisation, den Häftlingsalltag, die Verflechtung zwischen SS und Industrieunternehmen, sie nannten Daten, Abgangsorte, Häftlingsnummern und Todeszahlen. Ihr Bericht wurde von der Slowakei über Ungarn und die Schweiz an den Jüdischen Weltkongress geleitet. Zur Warnung und Rettung der ungarischen Juden wurde das Papier jedoch nicht verwendet. Die BBC sendete einige Details, die Schweizer Presse veröffentlichte Artikel, ebenso amerikanische Zeitungen und Radiostationen. Überhaupt häuften sich Mitte 1944 in den Ländern der deutschen Kriegsgegner und in neutralen Staaten Presseveröffentlichungen über die Ermordung in Auschwitz.[5]
Trotz des Interesses der antifaschistischen Öffentlichkeit blieb die politische Wirkung der Schilderungen gering. Die Alliierten gingen gegen die Massenvernichtung nicht vor. Appelle und Forderungen, die die politische Exilregierung sowie die jüdische Organisationen in Großbritannien und den USA erhoben, verhallten; die Tötungsanlagen der deutschen Monster wurde nicht bombardiert.
Nach amerikanischen Erkundungsflügen lagen den Alliierten im April 1944 erste Luftaufnahmen von Auschwitz vor, ab Ende Juni waren die Bilder so detailliert, dass die Vernichtungsstätten zu erkennen waren. Außerdem sah man die Rampe und Personen, die zu Fuß Richtung Krematorium marschierten – vermutlich Häftlinge auf dem Weg zur Gaskammer. Seit der Errichtung eines Luftstützpunktes im italienischen Foggia Anfang 1944 lag Auschwitz nicht mehr außerhalb der Reichweite alliierter Bomber. Die kriegsstrategischen und waffentechnischen Voraussetzungen für eine Bombardierung von Krematorien und Eisenbahnlinien waren somit gegeben. Jedoch schenkten die Alliierten den deutschen Tätern und den Inhaftierten keine erkennbare Aufmerksamkeit. Das amerikanische Kriegsministerium lehnte eine Operation entschieden ab, weil das Lager nicht als militärisches Objekt galt. Von britischer Seite hieß es, ein Angriff sei nicht durchführbar, weil Luftstreitkräfte fehlen würden. Alliierte Geschwader überflogen jedoch regelmäßig das Lager Birkenau, als zwischen Juli und November 1944 die synthetische Ölraffinerien in der Umgebung bombardiert wurden.
Das Tribunal, mit dem das Lager Auschwitz zum „Gerichtsort“ wurde, fand ab Januar 1943 im Abstand von vier bis sechs Wochen regelmäßig statt. Im Schnellverfahren wurden pro Sitzung nicht selten mehr als 100 Todesurteile gesprochen. Keine andere Gruppe im Lager war mit dem Massenmord so konfrontiert wie die Häftlinge des Sonderkommandos. Sie formierten seit Sommer 1943 ihren eigenen Zirkel, darunter viele, die Erfahrungen aus der kommunistischen Untergrundarbeit in Polen und Frankreich mitbrachten. Ihr Ziel war es, Waffen zu erbeuten, die Vernichtungsanlagen zu zerstören und einen Ausbruch zu organisieren. Es gelang ihnen, Kontakte zur allgemeinen Widerstandsbewegung im Lager und zur Leitung der „Kampfgruppe Auschwitz“ zu knüpfen. Der Militärrat der „Kampfgruppe“ zögerte allerdings und wollte einen Aufstand erst nach sorgfältiger Vorbereitung wagen. Aus diesem Grund trieb das Sonderkommando seine Pläne für einen Aufstand, der von den Krematorien auf das Lager übergreifen und unter den Häftlingen eine Massenflucht auslösen sollte, eigenständig voran. Wegen der Ankunft großer SS-Truppen musste das für Ende Juli 1944 geplante Unternehmen allerdings verschoben werden.
Eine Selektion der SS löste den Aufstand schließlich aus: Nach einem Fluchtversuch hatte die SS 200 Männer des Sonderkommandos in einem Kammer mit Blausäure ermordet. 300 weitere Häftlinge sollten folgen, und es war den Sonderkommandos der Krematorien IV und V überlassen, sie selbst auszuwählen. Als die SS am Morgen des 7.10.1944 ankündigte, die Ausgewählten noch am selben Tag in ein anderes Lager zu überstellen, brach der Aufstand los: Nachmittags schlugen Häftlinge auf anrückende SS-Leute im Krematorium IV mit Steinen, Äxten und Eisenstangen ein, setzten mit eingeschmuggelten Handgranaten das Gebäude in Brand und flohen. Der Rauch alarmierte die Häftlinge in den anderen Krematorien. Die SS reagierte schnell und stellte im Krematorium IV Maschinengewehre auf und schoss in die Menge. Die Revolte griff auf das Krematorium III über, wo es Häftlingen gelang, den Stacheldraht zu durchtrennen und vorläufig zu fliehen. Jenseits der Postenkette erreichten manche die angrenzenden Wälder, andere die Fischzuchten und landwirtschaftlichen Betriebe in Rajsko, konnten sich bewaffnen und SS-Leute angreifen. Ein Teil versteckte sich in einer Scheune, wurde dort eingesperrt und bei lebendigem Leibe verbrannt.[6]
Gegen Abend wurde der Aufstand niedergeschlagen; einzig auf das Krematorium III hatte er nicht übergegriffen, denn noch während der Kämpfe umstellten SS-Leute das Gebäude und schlossen die Häftlinge ein. Dass die SS mit der heftigen Gegenwehr nicht gerechnet hatte, zeigen die Verluste in ihren eigenen Reihen: drei von ihnen waren tot, mindestens 12 verletzt, etwa 425 Tote zählte das Sonderkommando. Die SS setzte aus Rache das Morden drei Tage lang fort. Keinem Häftling gelang während des Aufstandes die Flucht, dennoch war die heldenhafte Revolte nicht umsonst: Das Krematorium IV lag in Trümmern, und schon zuvor war es Häftlingen des Sonderkommandos gelungen, Fotos zu machen und den Film mit Hilfe der „Kampfgruppe Auschwitz“ aus dem Lager zu schmuggeln, der Anfang September 1944 zur polnischen Widerstandsbewegung nach Krakau gelangte. Zwei Bilder zeigen Häftlinge des Sonderkommandos vor brennenden Leichen im Hof von Krematorium V.[7]
Sowjetische Truppen brachen im Juli 1944 in Galizien und Südpolen durch die nationalsozialistischen Linien, befreiten das von den SS-Wachmannschaften überstürzt verlassene Lager Majdanek, überquerten die Weichsel und standen knapp 200 Kilometer vor Ausschwitz. Dort begann die systematische Auflösung des Lagers. Tausende von Häftlingen und Unmengen von Hab und Gut aus den Effektenkammern sowie Bau- und Installationsmaterial wurden während der ersten Räumungsphase zwischen Sommer 1944 und Januar 1945 mit Zügen und Lastwagen ins Kerngebiet des Deutschen Reiches befördert.[8] Etwa die Hälfte der rund 155.000 Insassen, die seit Sommer 1944 inhaftiert waren, die meisten von ihnen Polen und Russen, wurden bis zum Herbst in die Konzentrationslager nach Westen gebracht, also nach Buchenwald, Flossenbrück, Ravensbrück, Dachau, Mauthausen, Groß-Rosen, Bergen-Belsen, Natzweiler, Sachsenhausen und Neuengamme. Viele Häftlinge, die Auschwitz überlebt hatten, starben dort an Hunger und Seuchen. Im längst überfüllten Lager Bergen-Belsen wurden im März 1945 etwa 18.000 Tote gezählt. Darunter waren auch Anne Frank und ihre Schwester Margot, die im September 1944 mit dem letzten Transport aus dem niederländischen Westerbork nach Auschwitz deportiert und mit einem Evakuierungstransport Ende Oktober 1944 nach Bergen-Belsen gebracht worden waren.[9]
In Auschwitz änderte sich auch unter den Bedingungen der allmählichen Auflösung des Lagers nichts an der täglichen mörderischen Routine. Nach wie vor mussten Häftlinge zur Zwangsarbeit ausrücken, im Stammlager wurden neue Gebäude in Betrieb genommen, in den Nebenlagern begannen Aufbauarbeiten, sogar eine Reihe neuer Außenlager entstand. In Birkenau wurde mit der Errichtung eines dritten Bauabschnittes begonnen, im Häftlingsjargon „Mexiko“ genannt. Das Areal war so riesig, dass es das Lager beinahe verdoppelt hätte, ein Indiz für die weiteren Massenmordpläne der Nazis. Fertiggestellt wurde der Bauabschnitt jedoch nicht mehr, denn im Oktober 1944 endeten alle Bauarbeiten.
Auf Himmlers Befehl, die Vernichtungsaktionen reichsweit einzustellen, wurden sämtliche Vergasungsanlagen im November 1944 stillgelegt. Das Sonderkommando hatte die Tötungsanlagen zu demontieren und die Spuren der Verbrechen zu beseitigen. Die Leichenverbrennungsgruben mussten ausgeräumt und eingeebnet werden. Mulden im Lagergelände, die mit der Asche und den Knochen der Ermordeten gefüllt worden waren, wurden geleert, mit Grasnarben bedeckt und bepflanzt. Das Krematorium I im Stammlager wurde zu einem Luftschutzbunker umgebaut. Der Schornstein und die Deckenöffnungen zum Einschütten des Zyklon B verschwanden, die Öfen wurden abgebaut, der Gang zwischen Gaskammer und Verbrennungsraum geschlossen. Die SS ließ das beim Aufstand des Sonderkommandos beschädigte Krematorium IV abbrechen. Brauchbare Teile der anderen Anlagen, darunter die Verbrennungsöfen der Krematorien II. und III., wurden in andere Lager transportiert, vermutlich nach Groß-Rosen, möglicherweise nach Mauthausen, wohin auch die Entlüftungsanlagen der Gaskammern gelangten.
Als die Rote Armee im Januar 1945 nach einer Offensive bei Krakau die deutschen Truppen eingekesselt hatte, das oberschlesische Industrierevier nahezu unversehrt übernehmen konnte und bis Brieg und Steinau an der Oder unterhalb vom ehemaligen Breslau vordrang, befahl Gauleiter Fritz Bracht, die „Gauhauptstadt Kattowitz“ zu evakuieren und den Räumungsbefehl auf den Regierungsbezirk auszudehnen. Umfangreiche, schon Ende Dezember 1944 aufgestellte Räumungsrichtlinien regelten die Evakuierung des Lagers Auschwitz. Ziel war es, die Häftlinge in Marschkolonnen zunächst zu Fuß, später mit der Eisenbahn Richtung Westen zu schicken, um sie dort weiterhin zur Zwangsarbeit einzusetzen. Zwei Wegstrecken wurden für das Stammlager und Birkenau festgelegt: die eine über Pless und Rybnik, die andere über Tichy und das ehemalige Gleiwitz; Häftlinge mussten über das ehemalige Beuthen, ehemalige Tost und das ehemalige Oppeln marschieren.[10]
Am 17.1.1945 begann mit der Evakuierung von rund 58.000 Insassen die zweite und letzte Phase der Räumung des Lagerkomplexes etwa 20.000 von ihnen kamen aus dem Stammlager und Birkenau, alle anderen aus Monowitz und aus den Nebenlagern. Die wenigsten wurden mit Zügen auf Güterwagen fortgebracht, die meisten waren in der Winterkälte zu Fuß auf den Straßen durch Ober- und Niederschlesien unterwegs. Tausende starben auf dem Todesmarsch. Wer keine Kraft mehr hatte, wer stürzte, ausruhen wollte oder zu fliehen versuchte, wurde von der SS erschossen. In manchen Gegenden steckten Zivilisten trotz Verbots und strenge Strafen den vorbeiziehenden Menschen Brot zu oder waren bereit, Flüchtende aufzunehmen. In den überwiegend von Deutschen bewohnten Gebieten unterblieb solche Hilfeleistung.
Nach mehrtägigem Marsch wurden die Häftlinge zwischen dem 19. und dem 23.1. bei Gliwice und Wodzislaw Slaski in offene Güterwaggons verfrachtet.[11] Viele erfroren oder verhungerten unterwegs, und in den Regionen Nordmährens und Nordböhmens sowie Österreichs, durch die die Züge fuhren, blieben die Leichen entlang den Schienen liegen. Insgesamt starben während der Evakuierung rund 15.000 Häftlinge. In den Lagern im Westen kamen rund 43.000 an. Wer bis in die Frühjahrswochen 1945 überlebte, als die SS auch die Lager im Reichsinneren auflöste, wurde dann noch einmal auf einen Todesmarsch geschickt. Aus Neuengamme verlud die SS Anfang Mai 1945 ca. 7.000 Häftlinge auf zwei Schiffe der deutschen Kriegsflotte, darunter Häftlinge aus Auschwitz. Die Alliierten, die von der menschlichen Fracht nichts wussten, versenkten die Cap Arkona und die Thielbeck in der Lübecker Bucht ohne Überlebende.
In Auschwitz war die Lager-SS Mitte Januar 1945 fieberhaft damit beschäftigt, die schriftlichen Zeugnisse des Massenmordes zu beseitigen.[12] In großen Müllverbrennungsofen, in Heizkesseln und offenen Feuerstellen auf dem Lagergelände verbrannten Karteien, Totenscheine, Listen und anderes Papier der Lageradministration. Aktenbestände der Politischen Abteilung und der Zentralbauleitung wurden hastig verpackt, nach Groß-Rosen und in andere Lager gebracht. Auch der Röntgenapparat, der bis Frühjahr 1944 für die medizinischen Experimente von Horst Schumann, wurde abtransportiert. Dessen Kollege Mengele schloss Versuchslaboratorien und Leichensezierräume erst, als ihm sein „Menschenmaterial“ kaum mehr zur Verfügung stand. Mit den abziehenden Häftlingen verließ er Auschwitz am 17.1.1945 und nahm die schriftliche Dokumentation seiner Mordtaten mit.
Die noch etwa 200 Häftlinge des Sonderkommandos konnten sich im Durcheinander der Lagerauflösung unauffällig in die Marschkolonnen einreihen. Der SS, die vorhatte, auch die letzten unmittelbaren Zeugen des Massenmordes zu ermorden, gelang es nicht, die Männer unter den evakuierten Häftlingen wieder ausfindig zu machen. Sie konnten das Lager verlassen, fast alle überlebten den Krieg. Am 20. oder 21.1.1945 zog die SS ihre Posten von den Wachtürmen ab; kleinere Einheiten patrouillierten noch auf dem Gelände. Unklar ist, ob in diesen Tagen der Befehl erging, das Lager zu liquidieren und die verbleibenden Insassen zu ermorden. Innerhalb einer Woche wurden jedenfalls im Krematorium V rund 350 Juden und in verschiedenen Nebenlagern weiteren 400 Häftlinge verschiedener Kategorien getötet.[13]
Die Überreste der Krematorien II und III wurden am 20.1.1945 gesprengt; versandfreie Bauteile der Tötungsmaschinerie entdeckten die Befreier später auf einem Bauhof beim Lager. Ehe sie wieder abzogen, zündeten die SS-Wachmannschaften am 23.1.1945 das Effektenlager an, das Lager brannte noch Tage später, nur sechs von 30 Baracken blieben stehen. Betriebsbereit blieb bis in die letzten Tage das Krematorium V, wo noch immer Exekutionen per Genickschuss stattfanden und Leichen verbrannt wurden; erst in der Nacht vom 25. auf den 26.1.1945 wurde auch die letzte Vernichtungsanlage gesprengt.
Einen Tag und wenige Stunden später, am Nachmittag des 27.1.1945 befreiten Soldaten der 60. Armee der Ukrainischen Front das Lager Auschwitz samt seiner Nebenlager. Dabei stießen auf mindestens 600 Leichen. Im Stammlager, in Birkenau und Monowitz waren noch etwa 7000 Häftlinge am Leben, davon rund 5800 in Birkenau, etwa 800 im Häftlingskrankenhaus von Monowitz, 500 in den kleineren Nebenlagern. Viele waren bereits zu schwach, dass sie das lange ersehnte Ereignis kaum mehr wahrnehmen. In den Magazinen fanden die Befreier der Roten Armee rund 370.000 Herrenanzüge, 837.000 Damenmäntel und –kleider, ungefähr 44.000 Paar Schuhe, 14.000 Teppiche, außerdem Prothesen, Zahnbürsten, Hausrat und in der einstigen Lederfabrik nahe dem Stammlager 7,7 Tonnen transportfertig verpacktes menschliches Haar, das von etwa 140.000 Frauen stammen musste.[14]
Das IG-Farben-Werk war nahezu produktionsbereit, als es vor den anrückenden sowjetischen Befreiern überstürzt geräumt wurde. Zurück blieb die größte Investitionsruine des Deutschen Reiches im 2. Weltkrieg. Mit Sonderzügen verließen Mitte Januar 1945 auch Verwaltungsfunktionäre, IG-Farben-Manager und Zivilisten die Stadt des Grauens Richtung Westen. Noch im Chaos der letzten Kriegstage blieb die rassistische Ordnung gewahrt: Die flüchtenden Deutschen hatten auf Straßen und Schienen Vorrang vor den Konzentrationslagerhäftlingen und den in Marsch gesetzten Kolonnen der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter.
Das im Dritten Reich als „Musterstadt Auschwitz“ gepriesene Vernichtungslager nahm ein schmähliches Ende: Im September 1945 lebten in der Stadt, die nun endlich wieder zum neu gegründeten polnischen Staat gehörte und wieder Oswiecim hieß, noch rund 7300 Menschen. Knapp 5000 von ihnen waren Polen; unter den übrigen waren Ukrainer, Franzosen, Russen und Tschechen. Auch noch mehr als 100 Juden gab es und auch 2000 „Volksdeutsche“, unter denen viele in die nationalsozialistischen Vernichtungspläne involviert waren und Slawen als „Untermenschen“ betrachteten. Diese Täter betrachteten sich nach dem Ende des 2. Weltkrieges als Opfer der Rache der polnischen Mehrheitsbevölkerung; Schuldabwehr und Nostalgie an die „gute alte Zeit“, also die Besetzung Polens und die Germanisierungspolitik der Nazis, prägten deren Denken. Erst nach dem langsamen Sterben dieser „ewigen Rassisten“ konnte so etwas wie Verständigungsbereitschaft entstehen.[15]
Die Maschinen und Hochdrucksyntheseanlagen der IG-Farben-Fabrik wurden von der Roten Armee umgehend demontiert und in das westsibirische Kemerowo geschafft, wo ein Kombinat zur Hydrierung von Kohle aufgebaut wurde. In Oswiecim entstand aus den zurückgelassenen Anlagen eine der größten Kunststoffproduktionsstätten Polens. Von den einstigen deutschen Einwohnern, die nach Westen flohen, ist fortan wenig bekannt. Viele scheinen nicht zu ihrer Verantwortung für den Völkermord zur Rechenschaft gezogen worden zu sein, sondern als normale Bürger in der Nachkriegszeit den Wiederaufbau forcierten. Der Architekt Hans Stosberg, der nach Kriegsende bei dem Neuaufbau von Hannover half, ist dafür ein Beispiel.
Der Lebensweg vieler überlebender Auschwitz-Häftlinge war von Krankheiten und schweren seelischen Leiden gezeichnet. Manche hatten als einzige ihrer vielköpfigen Familien überlebt. Das Gefühl von Schuld, am Leben geblieben zu sein, ein tiefes Misstrauensgefühl gegenüber einer sozialen Umwelt, die das Erlebte weder begreifen noch nachvollziehen konnte, und Traumata, die noch Jahre nach der Befreiung durch die Rote Armee zu Tage traten, prägten sie und prägen noch die nachfolgenden Generationen.
Mit Unterstützung von Helfern aus der Umgebung richteten die sowjetischen Helden im ehemaligen Stammlager ein Feldlazarett ein.[16] In den Baracken von Birkenau entstand ein Feldkrankenhaus des Polnischen Roten Kreuzes, das nach einigen Wochen in die gemauerten Unterkünfte im Stammlager umzog. Ärzte, Schwestern und Pfleger kümmerten sich in Tag- und Nachtschichten um die Überlebenden des Lagers, die meisten von ihnen Juden, darunter ca. 200 Kinder. Viele starben trotz dieser aufopferungsvollen Betreuung an den Folgen der Lagerhaft, etwa weil sie ihren ausgezehrten Körpern zu rasch zu viel Nahrung zugemutet hatten. Noch gravierender als die physischen waren oftmals die psychischen Auswirkungen. Bei vielen löste die Ankündigung eines Bades Panik aus, ebenso der Anblick von Spritzen, und manche Überlebende hörten nicht auf, Brot unter ihren Kopfkissen zu verstecken. Nach etwa 3 bis 4 Monaten waren jedoch viele imstande, mit Transporten sowjetischer Militärbehörden oder selbst in ihre Heimatländer zurückzukehren.
In den ehemaligen Häftlingsblocks im Stammlager Auschwitz und im Frauenlager Birkenau entstanden im April 1945 Lager der sowjetischen politischen Geheimpolizei NKDW für deutsche Kriegsgefangene. Interniert wurden Wehrmachtssoldaten, nicht unschuldige Zivilisten aus der oberschlesischen Umgebung. Täter aus der „Volkssturmbewegung“ sowie Deutsche aus Böhmen, die von den Amerikanern befreit und von der Roten Armee übergeben worden waren. Einzelheiten sind jedoch wenig bekannt, die Zahl der Gefangenen ist nicht bekannt. Das im Stammlager gelegene Lager wurde am Jahresende 1945 aufgelöst, vermutlich im Mai 1945 auch das Kriegsgefangenenlager in Birkenau.
Anfang 1946 übergaben die sowjetischen Behörden den größten Teil des ehemaligen Lagergeländes in die Zuständigkeit der polnischen Verwaltung. Von Häftlingsorganisationen und polnischen Verwaltung ging im März 1946 die Initiative aus, auf dem Lagerareal ein Museum einzurichten. Per Gesetz vom 2.7.1947 entstand die staatliche Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau.[17] Ausstellungen wurden eingerichtet, Archiv und Bibliothek aufgebaut und Umbauten vorgenommen. Die Exhumierung von Toten dauerte noch lang bis in die 1950er Jahre. Im einstigen Lager Monowitz erinnert ein Gedenkstein an die Opfer der Zwangsarbeit. Der ehemalige Lagerkomplex, der seit der Gründung der Gedenkstätte unter Denkmalschutz steht, wurde 1979 in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen. Die Gedenkstätte zählt heute jährlich knapp eine halbe Million Besucher aus aller Welt.
Von Beginn an beschäftigte die eingesetzten Untersuchungskommissionen die Frage nach der Zahl der Opfer. Eine sowjetische nahm im Februar 1945 die Arbeit auf, eine polnische im April 1945. Nachdem das Gelände erkundet, die Ruinen der Vernichtungsanlagen untersucht und die Aussagen von rund 200 überlebenden Häftlingen aufgezeichnet worden waren, trat die sowjetische Kommission am 8.5.1945 an die Weltöffentlichkeit. Vier Millionen Menschen, hieß es in dem Kommuniqué, seien in Auschwitz ermordet worden.[18] Unerwähnt blieb, wie viele davon Juden waren.
Die genannte Zahl beruhte auf den geschätzten Verbrennungskapazitäten der Krematorien und fand rasch international Verbreitung. Das Nürnberger Tribunal gegen die „Hauptkriegsverbrecher“ übernahm die Zahl, ebenso wie der neu gegründete oberste Volksgerichtshof in Polen, und auch Lehrbücher und Lexika nannten vier Millionen Tote. Da die SS die exakten Deportationspläne jedoch zu Kriegsende nahezu vollständig zerstört hatte, ehemalige Häftlinge unterschiedliche Angaben machten, kamen bald unterschiedliche Zahlen in Umlauf. Die Angaben reichten von weniger als eine Million bis hin zu sechs Millionen. Heute steht aufgrund genauer Berechnungen fest, dass mindestens 1,1 Millionen, möglicherweise bis zu 1,5 Millionen Menschen im Lagerkomplex von Auschwitz ermordet wurden. Dies entspricht etwa 20 bis 25 Prozent sämtlicher im 2. Weltkrieg getöteten Juden.
Kompliziert ist auch die Frage nach der Zahl der Opfer von Auschwitz auch deshalb, weil die Lager-SS die wenigsten Häftlinge registrieren und nummerieren ließ. Nicht mehr als etwa 400.000 Häftlinge verschiedener Nationalitäten hatten eine Häftlingsnummer erhalten, etwa die Hälfte davon waren Juden. Die „Sterbebücher“, die das 1941 eingerichtete Lagerstandesamt führte, enthalten rund 69.000 Namen, denn über die Toten der Massenvernichtungsaktion wurde nicht Buch geführt. Wer unmittelbar nach der Ankunft als „nicht arbeitsfähig“ selektiert wurde oder zur Exekution ins Lager transportiert worden war (darunter sowjetische Kriegsgefangene, Verurteilte des Standgerichts und Häftlinge aus anderen Lagern), wurde getötet, ohne registriert worden zu sein.[19]
Nachzuweisen ist, dass die Nazis während des 2. Weltkriegs insgesamt fünf bis sechs Millionen Juden ermordeten. Die Angaben über die Gesamtzahl schwanken zwischen 5,3 und 6,1 Millionen. Diese Differenz ergibt sich, weil exakte Angaben über die ermordeten sowjetischen Juden bis heute nicht möglich sind. Die meisten von rund drei Millionen Opfern wurde in den Vernichtungslagern ermordet, etwa 1,3 Millionen starben bei Massenerschießungen meist durch SS-Einheiten, rund eine Million in Ghettos und Konzentrationslagern, nahezu 700.000 wurden in mobilen Gaswagen getötet, und rund 800.000 starben an Hunger und Krankheiten in den Ghettos.
Von den in Auschwitz ermordeten Menschen (ca. 960.000), waren 90% Juden. Davon kamen 438.000 aus Ungarn, rund 300.000 aus Polen, 69.000 aus Frankreich, etwa 60.000 aus den Niederlanden, 55.000 aus Griechenland, 46.000 aus Böhmen und Mähren, 27.000 aus der Slowakei, 25.000 aus Belgien, 23.000 aus den Kerngebieten des Deutschen Reiches, 10.000 aus Kroatien, 6000 aus Italien und Weißrussland, 1600 aus Österreich und 700 aus Norwegen. Getötet wurden außerdem 70.000-75.000 Polen, 21.000 Sinti und Roma, 15.000 sowjetische Kriegsgefangene und 10.000-15.000 Angehörige anderer Länder, darunter Tschechen, Russen, Weißrussen, Ukrainer, Jugoslawen, Franzosen, Österreicher und Deutsche. Etwa 200.000 weiter Häftlinge starben an Hunger, Krankheiten und den unmenschlichen Arbeitsbedingungen.[20]
Grundlage der Berechnungen ist eine Reihe von mittlerweile aufgefundenen Quellen, die es erlauben, die Zahl der Opfer weitaus differenzierter zu bestimmen, als dies unmittelbar nach der Befreiung möglich war. Darunter sind Fragmente von Abschriften der Zugangslisten deportierter Juden, aus denen Daten und Abfahrtsorte der Vernichtungstransporte zu entnehmen sind. Erhalten blieben auch Formulare der Firma Tesch und Stabenow über die Lieferung von Zyklon B sowie drei Meldungen der Lager-SS an Berliner Behörden mit Angaben darüber, wie viele in die Gaskammern zu schicken waren. Wichtig sind ferner die handschriftlichen Aufzeichnungen von Häftlingen des Sonderkommandos, die 1952, 1962 sowie 1980 auf dem Lagergelände entdeckt wurden, darüber hinaus Skizzen und Zeichnungen von Überlegungen. Von zentraler Bedeutung ist die Behördenkorrespondenz aus den Herkunftsländern der Deportierten. Dokumentiert sind darin die Vorbereitungen der Transporte, ferner detaillierte Zugpläne mit Zahlenangaben und exakte Namenslisten der Juden. Auch Baupläne der Krematorien liegen seit der Öffnung der osteuropäischen Archive zu Beginn der 1990er Jahre vor.
Dass die Zahl der Ermordeten geringer anzusetzen war, als es Verlautbarungen nach Kriegsende nahelegten, wurde in der Forschung intensiv diskutiert. Die erste wissenschaftliche Studie, die sich mit der Frage nach der Zahl der Ermordeten kritisch auseinandersetzte und Quellengrundlagen sowie Berechnungsmethoden diskutierte, war ein 1983 veröffentlichter Aufsatz des französischen ehemaligen Auschwitz-Häftlings Georges Wellers. Unabhängig davon kam der polnische Historiker Franciszek Piper Anfang der 1990er Jahre zu ähnlichen Schlüssen. Während Wellers auf 1,4 Millionen Toten kam, konnte Piper exakter als dieser auf breiterer Quellenbasis die Zahl der getöteten polnischen Häftlinge ausmachen. Piper kam auf mindestens 1,1 Millionen Tote, schloss aber eine maximale Anzahl von bis zu 1,5 Millionen nicht aus. Die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, die lange an der Zahl von vier Millionen Opfern festgehalten hatte, übernahm Pipers Angaben Anfang der 1990er Jahre.
Fußnoten/Literatur
[1] Graml, H.: Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich, 3. Auflage, München 1998, S. 17
[2] Benz, W.(Hrsg.): Dimension des Völkermordes. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991, S. 76
[3] Orth, K.: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999, S. 66
[4] Aly, G./Heim, S.: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991, S. 126
[5] Dietz, P.: Briefe aus der Deportation, Französischer Widerstand und der Weg nach Auschwitz, Lich 2010, S. 33ff
[6] Barkai, A.: Vom Boykott zur “Entjudung”. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933-1945, Frankfurt/Main 1988, S. 103
[7] Bauer, Y.: Freikauf von Juden? Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945, Frankfurt/Main 1996, S. 75
[8] Orth, K.: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999, S. 79
[9] Aly, G.: Endlösung. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt/Main 1995, S. 116
[10] Benz, W.(Hrsg.): Dimension des Völkermordes. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991, S. 128
[11] Aly, G.: Endlösung. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt/Main 1995, S. 122
[12] Graml, H.: Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich, 3. Auflage, München 1998, S. 140
[13] Beyer, S./Doerry, M. (Hrsg.): „Mich hat Auschwitz nie verlassen“. Überlebende des Konzentrationslagers berichten, München 2015, S. 96
[14] Barkai, A.: Vom Boykott zur “Entjudung”. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933-1945, Frankfurt/Main 1988, S. 122
[15] Beyer, S./Doerry, M. (Hrsg.): „Mich hat Auschwitz nie verlassen“. Überlebende des Konzentrationslagers berichten, München 2015, S. 107
[16] Bauer, Y.: Freikauf von Juden? Verhandlungen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und jüdischen Repräsentanten von 1933 bis 1945, Frankfurt/Main 1996, S. 90f
[17] Bankier, D.: The Germans and the Final Solution. Public Opinion under Nazism, Oxford 1992, S. 97
[18] Willems, S.: Auschwitz : die Geschichte des Vernichtungslagers mit Fotos von Frank und Fritz Schumann, Berlin, 2015, S. 85ff
[19] Beyer, S./Doerry, M. (Hrsg.): „Mich hat Auschwitz nie verlassen“. Überlebende des Konzentrationslagers berichten, München 2015, S. 121
[20] Willems, S.: Auschwitz : die Geschichte des Vernichtungslagers mit Fotos von Frank und Fritz Schumann, Berlin, 2015, S. 106ff
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