Die sittliche Erziehung bei Piaget

Jean Piaget vertrat eine Sichtweise der sittlichen Erziehung, die im Gegensatz zu der Durkheims, bereits im Erziehungsvorgang das Schwergewicht auf Freiwilligkeit, Gegenseitigkeit und Autonomie legt. Diese Sichtweise war von der Hoffnung auf eine verwandelte Neugestaltung menschlichen Zusammenlebens durch kommende Generationen begleitet. Es lassen sich in Durkheims Konzept von moralischer Erziehung eine einseitige Betonung der Momente von Disziplin und Autorität sehen, ohne dass die Erziehung sich die Aufhebung der der Disziplin und Autorität entsprechenden seelischen Dispositionen zum Ziele setzte. Die Möglichkeit einer solchen Interpretation hing damit zusammen, dass Durkheim auf eine eigengesetzliche Lebenssphäre der Kinder keine Rücksicht nimmt, sondern die Lehrer als Vertreter der nichtfamiliären Sphäre des Staates versteht, die die Kinder den Forderungen einer objektiven Erwachsenenwelt unterwirft.[1] Die moralische Erziehung hat ihr Schwergewicht bei Durkheim in Disziplin, Autorität und einheitlicher von Lehrern geleiteter Kollektivität. Aber diese Konzeption der moralischen Erziehung ist von einer Größe abhängig: nämlich der Nation als der Quelle angeblich höchster Werte, denen sich alle Einzelnen und Gruppen zu unterwerfen haben. Durkheim bemerkt, dass die Verpflichtung ein wesentliches Moment einer Moralvorschrift ist. Menschliche Sinnlichkeit und menschliche Vernunft verstanden als Vermögen von Individuen müssen durch in der Gesellschaft vorgegebene Regeln gezügelt werden.[2]
Piaget hing einer ganz anderen Auffassung von sittlicher Erziehung an. In der Gesellschaft sind nach Piaget die Interessen von „tausend einander kreuzenden Gruppen“ am Werk.[3] Für eine so verstandene Gesellschaft scheint eine Übereinstimmung in Dogmen und Riten nicht wesentlich zu sein. Ihre Einheit wird nicht durch „gemeinsame Inhalte“, sondern durch Weisen des Vorgehens und die Befolgung von Verständigungsregeln[4] garantiert. In einer solchen Gemeinschaft sind Aktivität und Kreativität von Einzelnen und Gruppen erwünscht. Sie bedeuten in ihr keine Gefährdung der Einheit und des Bestandes der Gesellschaft: „Jedem steht die Einführung von Neuerungen frei, jedoch in dem Maße, als es ihm gelingt, sich den anderen verständlich zu machen und die anderen zu verstehen.“[5]
Piaget versuchte durch seine Konzeption der moralischen Erziehung Grundtendenzen der modernen Welt Rechnung zu tragen. Er wollte in der intellektuellen und in der moralischen Erziehung zu der Persönlichkeit erzogen wissen, die sich durch Selbständigkeit und Gegenseitigkeit auszeichnet. Er lässt die Bildung auf dem rein intellektuellen Sektor „unauflöslich mit dem Gefüge, der für das schulische Leben so grundlegenden Gefühlsbindung, sozialen und moralischen Beziehungen“ verknüpft sein.[6] Der Gegner, gegen den er seine Thesen aufstellt, ist die traditionelle Schule, die Herrschaft der Lehrerautorität unterstellt war und von den Schülern Unterordnung verlangt. Piaget bemerkte: „Tatsächlich hat die auf Autorität und einseitigem Respekt aufbauende Erziehung im Hinblick auf die Moral dieselben Nachteile, wie im Hinblick auf den Verstand: Statt das Individuum anzuleiten, selbst die Regeln aufzustellen und die Disziplin aufzubauen, denen es sich anschließend unterwirft (…), nötigt man ihm ein ganzes System fertig vorgegebener und von vornherein kategorischer Imperative auf, (…).“[7]
Es wird von Piaget eine Entgegensetzung vorgenommen zwischen alter autoritärer sittlicher Erziehung und moderner sittlicher Erziehung, die auf Aktivität, Produktivität und eigener Einsicht beruht. In der neuen sittlichen Erziehung fallen Autorität, Zwang und Gehorsam weg. Sittliche Erziehung verläuft in einer Richtung, in der sich das ergibt, und zwar noch innerhalb der erzieherischen Verhältnisse. Solange die Moral nur auf dem Respekt von Personen beruht, „bleibt sie, was sie von Anbeginn an war: ein Werkzeug der Unterordnung unter fertig vorgegebenen Regeln und Vorschriften, d.h. unter Regeln, die nicht dem Subjekt entstammen, das sie befolgt.“[8] Die aktiven Methoden veranlassten das Kind, „selbständig die Voraussetzungen für eine von ihnen erfolgende und mithin nicht mehr bloß oberflächliche, sondern echte Umwandlung aufzubauen.“[9]
Piaget charakterisiert den von ihm ins Auge gefassten Wandel im Verlauf der sittlichen Erziehung durch das Begriffspaar Heteronomie und Autonomie. Autonomie besagte, dass die durch gegenseitige Achtung gebundenen Individuen „selbst an der Ausarbeitung der für sie verbindlichen Regeln“ mitwirken.[10] Bei der Regelausarbeitung der Schüler sollten Kriterien leitend sein, die es gestatten, zu Normen zu gelangen, die alle anerkennen können. Solche konstituierenden Regeln sind die gegenseitige Achtung und Autonomie aller Einzelnen. Wie groß der Personenkreis sein sollte, der für die Ausarbeitung von Regeln in Frage kommt, bleibt jedoch offen. Ebenso wird nicht geklärt, ob Regeln für kurze oder lange Gestaltungsdauern aufgestellt werden sollen.
Im Hintergrund der Piagetschen Auffassungen scheint eine Art gesellschaftspolitische These zu stehen. So heißt es bei ihm: „Nur in der Zusammenarbeit und durch sie (die Moral, M.L) kann eine vollkommene Autonomie geben. Insofern bleibt die Moral gesellschaftlich, doch ist die Gesellschaft nicht als ein Ganzes aufzufassen, und auch nicht als ein System von völlig verwirklichten Werten; die Moral des Guten wird allmählich ausgearbeitet und bildet im Hinblick auf die Gesellschaft eine Art ideale Gleichgewichtsform, welche die aus dem Zwang hervorgegangenen unstabilen und ungenügenden wirklichen Gleichgewichtsformen beherrscht.“[11]
Piaget war von der Ansicht überzeugt, dass sich jene Umwandlung der jungen Menschen zum Guten von selbst ergeben werde, wenn man den psychischen und sozialen Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung nur freien Lauf lasse. Im Hinblick auf die Ergebnisse des pädagogischen Experimentes des „Self-Government“: „Die Ergebnisse sind überall dieselben, die die in Kindergesellschaften herrschenden soziologischen und psychologischen Gesetze der Persönlichkeitsentwicklung (im Gegensatz zu den vielfältigen Beziehungen, die die Entwicklung des in recht unterschiedlich gearteten Erwachsenenwelt heranwachsenden Kindes beeinflussen) relativ konstant bleiben.“[12]

Literatur:
Lausberg, M.: Kant und die Erziehung, Marburg 2009
Piaget, J.: Das moralische Urteil beim Kinde, 2. Auflage, Frankfurt/Main 1976
Piaget, J.: Das Recht auf Erziehung und die Zukunft unseres Bildungssystems. Zwei Essays, München 1975
Willmer, P.: Durkheims Gesellschaftsbildung und ihre Folgen, München 1992

[1] Piaget, J.: Das moralische Urteil beim Kinde, 2. Auflage, Frankfurt/Main 1976, S. 392
[2] Willmer, P.: Durkheims Gesellschaftsbindung und ihre Folgen, München 1992, S. 68
[3] Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde, a.a.O., S. 392
[4] Vgl. dazu auch Lausberg, M.: Kant und die Erziehung, Marburg 2009, S. 16
[5] Ebd.
[6] Piaget, J.: Das Recht auf Erziehung und Die Zukunft unseres Bildungssystems. Zwei Essays, München 1975, S. 46
[7] Ebd., S. 54
[8] Ebd., S. 52
[9] Ebd., S. 54
[10] Ebd.
[11] Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde, a.a.O., S. 400
[12] Piaget, Das Recht auf Erziehung und Die Zukunft unseres Bildungssystems, a.a.O., S. 56f

Über Michael Lausberg 572 Artikel
Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.

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