Die Seelenlehre des Aristoteles [1] ist vor über zweitausend Jahren geschrieben worden. Die Konfrontation dieser Lehre mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft führt zu einem unerwarteten Ergebnis: Das Begriffssystem des Aristoteles zur Beschreibung der Wirklichkeit steht auf einer höheren Entwicklungsstufe als das der modernen Wissenschaft.
A. Ein Sprung über Jahrtausende
Wenn man die Seelenlehre des Aristoteles im Lichte der heutigen Wissenschaft betrachtet, dann stellt sich als erstes die Frage, ob es einen wissenschaftlichen Begriff gibt, der mit dem aristotelischen Begriff der Seele als dem Prinzip der belebten Wesen in Beziehung gebracht werden kann. Diese Frage läßt sich mit Hilfe einer zweiten Frage beantworten, sie lautet: Worin besteht der wesentliche Unterschied zwischen der Biologie als der Wissenschaft vom Leben und der Physik als der Wissenschaft von der Materie? Die Antwort: Beide Wissenschaften unterscheiden sich in der zentralen Bedeutung, die der Begriff der Information in der Biologie, nicht jedoch in der Physik besitzt. Wir wissen heute, daß jedes Lebewesen eine Nachricht enthält, die mit Hilfe eines Vier-Buchstaben-Alphabets in einem (oder mehreren) DNA-Makromolekül(en) eingraviert ist, ähnlich wie eine Schrift in eine Druckmatrize. Die Weitergabe dieser Nachricht in die Zukunft, nämlich von einer Generation des Lebewesens auf die nächste, ist etwas gänzlich Unbekanntes in der Welt der unbelebten Natur und daher typisch für das Leben. Der Inhalt dieser Nachricht wird als „genetische Information“ des Lebewesens bezeichnet.
Das eben Gesagte fordert die Frage heraus, in welcher Beziehung die genetische Information zur vegetativen Seele, die nach Aristoteles allen Lebewesen eigen ist, stehen könnte. Die Definition der Seele: „Seele ist nicht Körper aber etwas an einem Körper“ läßt sich nicht auf die genetische Information selbst übertragen. Letztere ist „etwas an einem DNA-Makromolekül“, aber nicht „etwas an einem Körper“. Ein im Lebewesen vorhandenes DNA- Makromolekül ist als Struktur Teil eines Körpers, d.h. Teil einer Struktur mit einer höheren Kategorie von Organisiertheit; es liegt daher die Vermutung nahe, daß die genetische Information Teil einer höheren Kategorie von Information sein könnte, die dann erst das eigentliche Lebensprinzip für das betreffende Lebewesen repräsentieren würde. Dieses Lebensprinzip müßte, ebenso wie die genetische Information, von einer Generation eines Lebewesens auf die nächste vererbt werden.
Der Gedanke, daß die genetische Information nicht die einzige vererbbare Information eines Lebewesens ist, ist nicht neu. Walter Elsasser [2] nimmt neben der Übertragung von genetischer Information eine Informationsübertragung in die Zukunft ohne mechanische Speicherung an und bezeichnet dieses Phänomen als „holistisches Gedächtnis“. Vorher hatte bereits Hans Driesch [3] eine Zwei-Faktoren-Vererbung postuliert. Aus den von ihm durchgeführten entwicklungsphysiologischen Experimenten an Seeigel-Keimen zog er den Schluß, daß bei der Entwicklung eines Lebewesens ein ganzmachender Lebensfaktor wirksam sein müsse, den er in Anlehnung an Aristoteles mit „Entelechie“ bezeichnete. Er nahm an, daß bei der Vererbung die Entelechie und etwas Materielles gleichermaßen am Werke sein müssen [4] und verstand unter dem Materiellen die Gene [5]. Der direkte Vergleich der Entelechie mit den Newtonschen Prinzipien zeigt, daß Driesch damit ein Naturgesetz oder etwas Analoges meint [6].
Die Entelechie, die nach Driesch jedem lebenden Organismus zuzuordnen sein soll, hat Ähnlichkeiten mit einem Paradigma der Physik, unterscheidet sich aber in einem entscheidenden Punkt davon: Der Entelechie steht bisher kein mathematisches Gesetz zur Seite wie beispielsweise dem Paradigma der Gravitation das Gravitationsgesetz, d. h. die Entelechie erfüllt nicht das Akzeptanzkriterium der modernen Naturwissenschaft, das der Quantifizierbarkeit und Formalisierbarkeit. Dies ist der Grund, warum das Entelechiekonzept von Driesch (ebenso wie die Seelenlehre des Aristoteles) bisher kein Bürgerrecht in der modernen Wissenschaft erhalten haben.
B. Paradigma für Leben: Systemische Information
Auf den Gebieten der Molekularbiologie und der Bakterienphysiologie sind in den letzten Jahrzehnten derartige Fortschritte erzielt worden, daß es zum ersten Male möglich wurde, ein einfaches Lebewesen, das Darmbakterium Escherichia coli, (fast) vollständig zu inventarisieren hinsichtlich der in ihm vorhandenen Strukturen und der in ihm ablaufenden Prozesse; dies wiederum war Voraussetzung für einen weiteren Schritt: die mathematische Modellierung der Bakterienzelle.
Die Regeln, die beim Aufbau eines mathematischen Modells einer lebenden Bakterienzelle zu beachten sind und die Eigenschaften eines solchen Modells wurden an anderer Stelle ausführlich beschrieben [7]. Ein derartiges Modell beschreibt etwas, was die lebende Zelle von einem leblosen Materieklümpchen gleicher Zusammensetzung unterscheidet, d. h. das Modell repräsentiert das Lebensprinzip dieser Zelle. Was dabei entscheidend ist, dieses Lebensprinzip läßt sich auffinden, ohne irgendwelche Begriffe und Gesetze der Physik heranzuziehen.
Das Lebensprinzip, das (zumindest bei einfachen Organismen) mit mathematischen Mitteln beschrieben werden kann, wurde als „systemische Information“ bezeichnet [7]. Eine wesentliche Eigenschaft der systemischen Information besteht darin, daß die genetische Information des betreffenden Lebewesens in ihr enthalten ist [8]. Die lebende Zelle kann als ein informationsverarbeitendes System verstanden werden, das mit Hilfe der systemischen Information die in der Zelle ablaufenden materiellen Prozesse im Interesse der Zelle steuert. Dieses lebende informationsverarbeitende System benötigt wie jedes informationsverarbeitende System der Technik einen materiellen Träger zur Informationsspeicherung. In der Technik, z. B. in einem Computer, übernimmt diese Aufgabe ein Magnetband oder eine Diskette, in der lebenden Zelle ein DNA-Makromolekül. Die auf dem DNA-Molekül gespeicherte genetische Information ist der speicherbare und invariante Anteil der ansonsten nichtspeicherbaren systemischen Information [9]. Der Träger der genetischen Information ist ein Makromolekül, der Träger der systemischen Information ist die lebende Zelle mit ihrem funktionierenden Stoff- und Energiewechsel.
C. Das Spiel der Evolution: Informationserzeugung
Als nächstes soll der Frage nachgegangen werden, wie denn die systemische und genetische Information eines Lebewesens entstanden sind. Seit Darwin wissen wir, daß alle Lebewesen durch einen historischen und als Evolution bezeichneten Prozeß entstanden sind. Die Evolution wird vorwärts getrieben durch die Variabilität der Lebewesen, die Überproduktion von Nachkommen und die Auslese der an die Umwelt am besten angepaßten Formen. Auslösender Faktor für die Variabilität der Lebensformen ist eine als Mutation bezeichnete zufällige Änderung der genetischen Information eines Lebewesens, die eine neue systemische Information und damit eine neue Lebensform hervorruft. Immer dann, wenn sich die neue Lebensform in der Auseinandersetzung mit der Umwelt durchsetzen kann, tritt ein Fixpunkt der Evolution in Form eines neuen Lebewesens auf.
Die Evolution erscheint somit als ein Spiel von Versuch und Irrtum, verbunden mit dem „Abspeichern“ der genetischen Information, wenn eine neue konkurrenzfähige Lebensform, d.h. ein Fixpunkt auftritt. Die genetische Information kann als Spielmaterial des Evolutionsprozesses betrachtet werden; mit Hilfe dieses Spielmaterials gelingt der Evolution (neben vielen Irrtümern) immer einmal wieder ein Erfolgstreffer in Form einer neuen Lebensform.
Auf Grund der Rolle, die der Zufall spielt, läßt sich der Weg der Evolution nicht mit mathematischen Mitteln beschreiben und somit nicht vorhersagen. Eine ganz andere Situation tritt an den Fixpunkten der Evolution auf. Beispielsweise ist für eine Coli-Zelle und ihre Nachkommen die genetische Information konstant (solange keine Mutation auftritt). Diese Konstanz bzw. die Irrelevanz des Zufalls sind die Gründe dafür, daß die Lebensprozesse der Coli-Zelle mit mathematischen Mitteln beschrieben und das Verhalten der Zelle vorausgesagt werden kann [10].
D. Der Gang durch das Labyrinth – ein informationserzeugender Prozeß
Das Spiel von Versuch und Irrtum wird als ein entscheidender Prozeß bei der Entstehung des Lebens und neuartiger Lebensformen angesehen. Für den vom Rationalismus und Materialismus geprägten Geist des modernen Menschen ist es schwer vorstellbar, daß durch ein Spiel von Versuch und Irrtum etwas in der Welt noch nie Dagewesenes entstehen kann und dieses Etwas die Qualität einer Information besitzt.
Das einfachste Beispiel für einen informationserzeugenden Prozeß ist der Gang durch ein Labyrinth mit zahlreichen Verzweigungen und Sackgassen [11]. Der kürzeste Weg vom Eingang zum Zentrum des Labyrinths ist nicht vorhersehbar, er kann nur durch „Versuch und Irrtum“ ermittelt werden. Jede Wegegabelung erfordert einen Versuch, dieser kann entweder in eine Sackgasse oder ein Stück weit auf den Weg zum Ziel führen, bis zur nächsten Wegegabelung. Jede Rückkehr zum Ausgangspunkt einer Sackgasse (d. h. jeder Irrtum) bedeutet einen Informationsgewinn, daß nämlich die durchlaufene Sackgasse nicht Teil des kürzesten Weges zum Ziel ist. Wenn nach vielen Versuchen das Ziel erreicht ist, läßt sich der kürzeste Weg zurück zum Eingang durch Straffziehen eines mitgeführten Ariadnefadens ermitteln. Durch das Straffziehen werden sämtliche vergeblichen Versuche (Sackgassen) eliminiert, d. h. sämtliche partiellen Informationsgewinne zusammengefaßt. Dieser gestraffte Ariadnefaden repräsentiert daher eine Information, die es vorher nicht gab; diese Information ist das Ergebnis eines informationserzeugenden Prozesses.
Das Labyrinthbeispiel kann uns noch zu einer weiteren wichtigen Erkenntnis führen, daß nämlich in einem informationserzeugenden Prozeß zwei kategorial unterschiedliche Elemente zusammenwirken müssen: ein der menschlichen Ratio zugängliches Element, welches als „Notwendigkeit“ bezeichnet werden kann, und ein irrationales Element, der Zufall. Der Verstand gebietet uns, am Ende einer Sackgasse umzukehren, zum Ausgangspunkt zurückzukehren und den noch nicht begangenen Weg weiterzugehen. Weiterhin sagt uns der Verstand, daß zur Ermittlung des wünschenswerten kürzesten Weges vom Ziel zurück zum Eingang der mitgeführte Ariadnefaden gestrafft werden muß. Eine ganz andere Situation tritt auf, wenn wir vor einer Wegegabelung stehen. Hier kann uns unser Menschenverstand nicht weiterhelfen, hier hilft keine Statistik, keine Chaostheorie, hier müssen wir eine reine Zufallsentscheidung treffen.
Jede Erzeugung von Information ist aus dem Zusammenwirken von Zufall und Notwendigkeit hervorgegangen. Ohne das Modell eines informationserzeugenden Prozesses vor Augen zu haben, ist die Entstehung von Leben in all seinen Ausformungen nicht zu verstehen.
E. Die Erfindung weiterer informationserzeugender Prozesse durch die Natur
Die Evolution als Ganzes gesehen ist ein informationserzeugender Prozeß, der zur Entstehung einer Vielzahl verschiedenartiger Lebewesen geführt hat. Bisher wurde davon ausgegangen, daß das Spielmaterial, welches von der Evolution benutzt wird, die an einen materiellen Träger gebundene genetische Information ist. Damit ist aber nur die Entstehung der einzelligen Lebewesen und der vielzelligen Pflanzen, nicht aber das Entstehen der Tiere und des Menschen zu verstehen. Damit Tiere und Menschen entstehen konnten, mußte die Evolution außer der erwähnten genetischen Information noch zwei andere, als Spielmaterial verwendbare Informationskategorien und damit auch zwei neue Träger zur Informationsspeicherung erfinden.
Bei der niederen Gehirntätigkeit der Tiere werden zur Informationsspeicherung anstelle von Molekülen Zellen verwendet, nämlich die im Gehirn miteinander vernetzten Neuronen. Die Gehirntätigkeit ist ein der biologischen Evolution analoger informationserzeugender Prozeß; auch hier ein Spiel von Versuch und Irrtum, verbunden mit der Abspeicherung günstiger Varianten im Gedächtnis als neuronale Information. Das Verhalten eines Tieres wird wesentlich durch die niedere Gehirntätigkeit bestimmt. Diese ist als informationserzeugender Prozeß nicht formalisierbar und voraussagbar und damit ist auch das Verhalten eines Tieres – anders als das einer Coli-Zelle – nicht voraussagbar.
Das Verhalten des Menschen wird wesentlich durch die nur bei ihm realisierte höhere Gehirntätigkeit bestimmt, welche die auch bei ihm vorhandene niedere Gehirntätigkeit überlagert. Dazu mußte eine weitere neue Qualität der Informationsspeicherung hinzukommen, nämlich die Speicherung von durch Sprache und Schrift vermittelter begrifflicher Information. Mit seiner im Vergleich zum Tier „höheren“ Gehirntätigkeit besitzt der Mensch die Fähigkeit des begrifflichen Denkens und damit auch die Fähigkeit, das in seinem individuellen Leben Gelernte mit Artgenossen auszutauschen, d.h. er besitzt die Fähigkeit zum gesellschaftlichen bzw. kulturellen Lernen. Natürlich gilt das für das Tier hinsichtlich der Nichtvoraussagbarkeit seines Verhaltens Gesagte in noch höherem Maße für den Menschen.
F. Interpretation der Hauptbegriffe der aristotelischen Seelenlehre durch Erkenntnisse der modernen Wissenschaft
Unausweichlich stellt sich nun die Frage, in welcher Beziehung die drei von Aristoteles postulierten Seelenteile – vegetative Seele, sensitive Seele und Geistseele – zu den drei Kategorien der in der Natur vorkommenden informationserzeugenden Prozesse – biologische Evolution, niedere und höhere Gehirntätigkeit – stehen.
Die vegetative Seele ist nach Aristoteles das Lebensprinzip für ein Lebewesen bzw. für dessen Art. Nach dem Verständnis der Wissenschaft ist ein Lebewesen (bzw. dessen Art) ein Fixpunkt des als Evolution bezeichneten informationserzeugenden Prozesses, dessen Spielmaterial die auf einem materiellen Träger (DNA) befindliche genetische Information ist. In einem Lebewesen laufen Prozesse in zwei Ebenen ab, auf der materiellen Ebene und auf der hierarchisch höheren Informationsebene. Von der Informationsebene aus gesehen stellt ein Lebewesen ein informationsverarbeitendes System dar, welches die in dem Lebewesen ablaufenden materiellen Prozesse im Interesse des Lebewesens steuert; ein Charakteristikum des Systems ist die Konstanz der auf einem DNA-Makromolekül gespeicherten genetischen Information. Somit ist die vegetative Seele der philosophische Begriff für das Prinzip eines informationsverarbeitenden Systems (Lebewesen), der wissenschaftliche Begriff für dieses Prinzip ist „systemische Information“ [7].
Während sich die vegetative Seele nicht auf den informationserzeugenden Prozeß „Evolution“ selbst, sondern auf dessen Produkt (Lebewesen) bezieht, besteht zwischen der sensitiven Seele bzw. der Geistseele einerseits und den informationserzeugenden Prozessen „niedere“ bzw. „höheren Gehirntätigkeit“ andererseits eine direkte Beziehung. Die beiden genannten Seelenteile sind die philosophischen Begriffe für die Prinzipien, denen die informationserzeugenden Prozesse niedere bzw. höhere Gehirntätigkeit gehorchen. Die beiden Prozesse unterscheiden sich kategorial durch die Art des von ihnen benutzten Spielmaterials, im ersten Falle ist es die neuronale, im zweiten Falle die begriffliche Information.
G. Die Seelenlehre als Fundament für ein ganzheitliches Weltbild
Aristoteles hat mit seiner Seelenlehre ein in sich abgeschlossenes Weltbild von unerhörter Reife geschaffen, das in seiner Vollendung bis heute nicht wieder erreicht wurde. Er unterscheidet vier Stufen, das Körperlich-Materielle als Stufe des Unbelebten und die drei Stufen des Lebendigen, das Vegetative, das Sensitive und das Geistige, wobei jede höhere Stufe durch ein neu hinzukommendes Prinzip ausgezeichnet ist. Nach Aristoteles besteht die ganze Wirklichkeit aus vier Teilwirklichkeiten mit eigenen Prinzipien. Er hat damit die einseitige Erklärung der Wirklichkeit durch seine Vorgänger Demokrit und Platon, die alles aus den Prinzipien des Atomistisch-Materiellen bzw. Geistig-Ideellen ableiten wollten, aufgehoben und durch eine ganzheitliche Erklärungsart ersetzt..
In der Metaphysik des Aristoteles finden sich zahlreiche Warnungen vor den Versuch einer einseitigen Erklärung der Welt. So heißt es: „In der Suche nach den Elementen für alles Seiende und in der Behauptung, daß man sie habe, ist keine Wahrheit zu finden“ [12] und „Es ist klar, daß die einseitigen Aussagen, die für alle Dinge gelten sollen, unmöglich zutreffen“ [13]. Die Warnungen des Aristoteles vor einseitigem Denken sind von den Hauptströmungen des abendländischen Denkens, die auf die griechische Philosophie folgten, negiert worden, so versucht die christliche Theologie mit einem Geist-Prinzip und die moderne Naturwissenschaft mit einem Materie-Prinzip die ganze Wirklichkeit zu erklären. In beiden Fällen wird die Mehrdimensionalität der Weltwirklichkeit (in Bezug auf die wirkenden Prinzipien) auf eine einzige Dimension zusammengeschrumpft.
Bei einem Vergleich der aristotelischen Seelenlehre mit dem Erkenntnis- und Lehrgebäude der modernen (Natur)Wissenschaft stößt man auf ein Paradoxon. Einerseits lassen sich die drei von Aristoteles postulierten Seelenteile mit Hilfe von Erkenntnissen, die die Wissenschaft gewonnen hat, interpretieren und als Prinzipien für informationsverarbeitende Systeme (vegetative Seele) bzw. für informationserzeugende Prozesse (sensitive Seele, Geistseele) erkennen. Andererseits hat die Wissenschaft jeden Begriff davon verloren, was Aristoteles „Seele“ nannte, d.h. sie hat für die drei Prinzipien keinen Namen [14]. Da die Begriffssysteme der Einzelwissenschaften dafür nicht ausreichen, muß eine auf rationaler Ebene erfolgende Weltbild-Diskussion wieder dort stattfinden, wo sie hingehört: auf den Boden der Philosophie.
Nachdem die Hauptbegriffe der Seelenlehre – vegetative Seele, sensitive Seele, Geistseele – mit Begriffen der heutigen Wissenschaft umschrieben werden können, ist es möglich, die Aussagen dieser Lehre zu präzisieren bzw. zu ergänzen. Im Folgenden sollen die Prinzipien, die die drei Seelenteile repräsentieren, hinsichtlich ihrer Unterscheidbarkeit, Besonderheit, Formalisierbarkeit und Vollzähligkeit untersucht und eine Definition des Begriffs „ganzheitlich“, der das aristotelische Weltbild charakterisiert, gefunden werden.
1. Unterscheidbarkeit und Irreduzibilität der Seele-Prinzipien
Aristoteles ist von den verschiedenen, menschlichen Sinnen zugänglichen Äußerungen oder Vermögen der Seele (Ernährung und Fortpflanzung, Wahrnehmung, Denken) ausgegangen und hat auf die unsichtbaren Ursachen geschlossen. Er hat drei Seelenteile postuliert, die sich nicht graduell, sondern prinzipiell voneinander unterscheiden. Mit dem heutigen Wissen ist es möglich, die (unsichtbare) Ursache für diese prinzipiellen Unterschiede anzugeben. Die drei Seelenteile korrespondieren mit drei informationserzeugenden Prozessen (die vegetative Seele kann als Fixpunkt des „Evolution“ genannten informationserzeugenden Prozesses interpretiert werden), die sich in der Art der Informationsspeicherung unterscheiden, die Evolution bedient sich der genetischen Information, die niedere Gehirntätigkeit der neuronalen Information und die höhere Gehirntätigkeit der begrifflichen Information als Spielmaterial. Die genannten, als Spielmaterial verwendeten Informationsarten unterscheiden sich qualitativ und können nicht ineinander überführt werden. Die prinzipiellen Unterschiede zwischen den drei Seelenteilen sind daher auf die prinzipiellen Unterschiede zurückzuführen, die zwischen den drei korrespondierenden informationserzeugenden Prozessen auftreten. Das heißt aber auch, daß die drei Seele-Prinzipien nicht aufeinander reduziert werden können.
2. Besonderheit der Seele-Prinzipien gegenüber dem Materie-Prinzip
Aristoteles hat erkannt, daß die für das Seelische gültigen Prinzipien eine Besonderheit aufweisen. „Jede Seele muß den Körper haben, den sie braucht“ und „Jeder Körper hat seine eigene Form und Gestalt (Seele)“, heißt es. Jedes Lebewesen (bzw. jede Art) hat die ihm gemäße Seele. Bezogen auf den allgemeinsten Seelenbestandteil, die vegetative Seele, heißt das: Es gibt so viele vegetative Seelen, wie es Lebewesen (Arten) gibt. Das Prinzip „vegetative Seele“ ist somit nicht für alle Lebewesen (Arten) identisch, sondern hat bei jedem Lebewesen eine spezifische Ausformung erfahren. Dies ist in Übereinstimmung mit der Erkenntnis, daß die der vegetativen Seele analoge systemische Information und die darin enthaltene genetische Information für jedes Lebewesen (Art) unterschiedlich ist [7].
Durch die Vielfalt, die den Prinzipien des Seelischen eigen ist, unterscheiden sich diese fundamental von dem für das Körperlich-Materielle gültige Prinzip. Bei diesem Prinzip, repräsentiert durch die „Naturgesetze“ [15] der Physik, gibt es eine solche Vielfalt nicht. In der Physik deutet vieles darauf hin, daß die Theorien, die verschiedene materielle Phänomene beschreiben, zu einer einheitlichen Theorie konvergieren.
3. Frage nach der Formalisierbarkeit der Seele-Prinzipien
Die Prinzipien für die vier Teilwirklichkeiten unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Formalisierbarkeit und der damit verbundenen Voraussagbarkeit. Das Materie-Prinzip (Gesetze der Physik) ist ein formalisierbares Prinzip. Es muß davon ausgegangen werden, daß die vegetative Seele, die der systemischen Information analog ist, ebenfalls ein formalisierbares Prinzip ist – jedenfalls, solange die genetische Information in dem Lebewesen und dessen Nachkommen konstant ist und der Zufall keine Rolle spielt [10]. Im Gegensatz dazu sind die sensitive Seele und die Geistseele als Prinzipien von informationserzeugenden Prozessen, bei denen der Zufall eine Rolle spielt (Versuch und Irrtum), nichtformalisierbare Phänomene.
4. Vollzähligkeit der Seele-Prinzipien
Es stellt sich die Frage, ob es außer den von Aristoteles postulierten Seelenteilen: vegetative Seele, sensitive Seele und Geistseele, weitere Teile gibt, die sich von den genannten im Prinzip unterscheiden. Der Befund, daß es die (vegetative) Seele nicht ohne Körper, die sensitive Seele nicht ohne vegetative Seele und die Geistseele nicht ohne sensitive Seele gibt, deutet schon an, daß in dieser Folge kein Platz für ein weiteres Zwischenglied ist. Beim Übergang von den drei Seelenteilen zu den drei informationserzeugenden Prozessen, mit denen diese korrespondieren, wird die Nichtexistenz weiterer Seelenteile (Prinzipien) noch deutlicher. Die biologische Evolution, deren Produkt die vegetative Seele ist, verwendet Materielles als Träger für die genetische Information (Spielmaterial), die niedere Gehirntätigkeit (Sensitives) verwendet Vegetatives (Nervenzellen) als Träger für die neuronale Information und die höhere Gehirntätigkeit (Geistiges) verwendet Sensitives (wahrnehmungsbedingte Lautfolgen) als Träger für die begriffliche Information. Sieht man die Teilwirklichkeiten: Materielles, Vegetatives, Sensitives und Geistiges, in denen jeweils eigene Prinzipien gelten, als Seinsschichten [16] an, so liegen diese Schichten übereinander, wobei das für die höhere Schicht geltende Prinzip unmittelbar in der darunterliegenden Schicht verankert ist. Der Träger für die dem Prinzip zugeordnete speicherbare Information gehört jeweils der darunterliegenden Schicht an. Daraus folgt, daß die vier Teilwirklichkeiten zusammen die ganze Wirklichkeit bilden, in der kein Platz für weitere Teilwirklichkeiten ist.
5. Was bedeutet „ganzheitlich“?
Nicht immer, wenn aus der Verbindung von Teilen etwas Neues entsteht, ist dieses Neue eine Ganzheit. Wenn chemische Elemente eine Verbindung eingehen, so entsteht zwar etwas Neues, aber sowohl die Teile (Atome) als auch die Verbindung derselben (Moleküle) lassen sich mit Hilfe der Quantentheorie, d.h. einem für die Materie geltenden Prinzip verstehen. Ganz anders ein Lebewesen. Ein Lebewesen ist nicht eine Verbindung (Summe) seiner Teile, sondern eine Ganzheit, die mehr ist als die Summe der Teile. Dieses „Mehr“ wird repräsentiert durch ein für das Lebewesen gültiges Lebensprinzip, das einer anderen Kategorie angehört als das für die Materie gültige Prinzip . Das Lebensprinzip setzt nicht etwa das Materie-Prinzip außer Kraft, sondern im Gegenteil, es „benutzt“ dieses Prinzip „im Interesse“ des betreffenden Lebewesens. In einem einfachen Lebewesen gelten zwei Kategorien von Prinzipien, wobei das hierarchisch höhere Prinzip (Lebensprinzip für das Vegetative) sich das niedere Prinzip (für das Materielle) zunutze macht, indem es in das materielle Geschehen organisierend eingreift. Noch höherrangigere Prinzipien treten auf beim Tier (für das Sensitive) und beim Menschen (für das Geistige).
Eine Ganzheit läßt sich derart definieren, daß in ihr ein neues (höherrangiges) Prinzip wirksam wird, das für die von der Ganzheit abgetrennten Teile keine Wirksamkeit besitzt; umgekehrt besitzt aber das für die Teile geltende (niederrangige) Prinzip auch für die Ganzheit Gültigkeit.
H. Naturwissenschaft und Weltbild
Ein großer Humanist unserer Tage, der Biochemiker Erwin Chargaff, wirft der modernen Naturwissenschaft den Verlust der Wirklichkeit vor, da sie nur diejenigen Teile der Natur als wirklich ansieht, die erforschbar sind. Chargaff sieht in der „Wiederentdeckung der Wirklichkeit“ die einzige Alternative, um zu einer neuen Art von Naturwissenschaft zu kommen und die verheerenden Folgen, welche die jetzige nach sich zieht, zu verhindern [17].
Aus der Sicht der Erkenntnistheorie ruht die moderne Naturwissenschaft auf drei Säulen, die mit den Schlagworten Empirie, Theorie und Weltbild bezeichnet werden können. Die Generalrichtung, in der sich diese Wissenschaft vorwärts bewegt, wird nicht von dem empirisch Erforschten oder den darauf gegründeten Theorien bestimmt, sondern von dem materialistischen Weltbild, dem sie sich verpflichtet hat. Ein Wissenschaftler mit materialistischem Naturverständnis kann gar nicht auf den Gedanken kommen, eine Forschung zur Auffindung und Untersuchung eines übermateriellen Prinzips zu betreiben. Bildlich gesprochen hat die heutige Naturwissenschaft keine Flügel mehr, mit deren Hilfe sie die ganze Wirklichkeit erkunden kann, sie hat die Flügel durch Räder ersetzt, mit denen sie sich nur noch auf festgelegten Geleisen fortbewegen und nur noch eine einzige Teilwirklichkeit (die materielle) erforschen kann.
Wenn die heutige Naturwissenschaft ihre Selbstblockade durch die Bindung an das materialistische Weltbild aufheben und anerkennen würde, daß es außer dem Prinzip für das Materielle noch weitere Prinzipien (für das Organisch-Vegetative, das Sensitive und das Geistige) gibt, dann hätte dies eine neue Art von Naturwissenschaft zur Folge. Zwei wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Arten von Naturwissenschaft, der materialistischen und der ganzheitlichen, lassen sich sofort angeben.
Da Materie unzerstörbar ist (Erhaltungssätze der Physik) ist die heutige materialistische Naturwissenschaft nicht in der Lage, Werte zu begründen. Nun hat Leben in all seinen Ausformungen mit Information zu tun und Information kann erzeugt und auch wieder zerstört werden; Information stellt somit einen Wert an sich dar. Eine ganzheitliche Naturwissenschaft, die die Existenz übermaterieller Prinzipien für das Lebendige anerkennt, kann daher Werte begründen.
Auf die Frage, was ist wert, gewußt bzw. erforscht zu werden, gibt die heutige Naturwissenschaft die Antwort: alles was gemessen, formalisiert und reproduziert werden kann. Die Erkenntnisse, die auf diese Weise über den materiellen Teil der Natur gewonnen wurden, haben den Menschen in die Lage versetzt, die Natur zu beherrschen, für seine Ziele auszubeuten und – wie sich in unseren Tagen immer deutlicher herausstellt – zu zerstören. Da die moderne Naturwissenschaft das Phänomen „Leben“ und damit auch den Menschen mit seiner existentiellen Problematik aus ihrer Erkentnissuche ausgeschlossen hat, weiß sie auch keine Antwort, wie der Mensch von der Zerstörung seiner eigenen Lebensgrundlagen abgehalten werden kann. – Eine ganzheitliche Naturwissenschaft wird sich als erstes das Ziel stellen, das eklatante Mißverhältnis zwischen dem unüberschaubar gewordenen Wissen über das Materielle und dem Nichtwissen über das Übermaterielle zu beseitigen. Sie wird die Frage, was ist wert gewußt zu werden, völlig neu beantworten: An erster Stelle wird das Wissen stehen, das zur Selbsterkenntnis des Menschen beiträgt. Die Selbsterkenntnis des Menschen ist Voraussetzung dafür, daß er in der Lage ist, sich selbst zu beherrschen, und die Selbstbeherrschung des Menschen ist wiederum die Voraussetzung für die Verwirklichung einer überlebensfähigen Zivilisation.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich das Weltbild des Aristoteles auch nach einer Konfrontation mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft als das erwiesen hat, was es schon immer war: als das einzige, aus menschlicher Erfahrung heraus begründbare ganzheitliche Weltbild, das wir kennen. Eine Entscheidung der Naturwissenschaft zugunsten dieses Weltbildes ist daher überfällig. Erst danach wird der Weg frei sein, das materialistische Weltbild aus seiner beherrschenden Position, die es in unserer Zivilisation einnimmt, zu verdrängen. Die entscheidende Frage, die bleibt: Wird dem Menschen die Zeit vergönnt sein, den gewaltigen Umdenkprozeß weg von einem einseitig materialistischen Denken und hin zu einem ganzheitlichen Denken zu vollziehen mit allen Konsequenzen, die sich daraus für menschliches Handeln ergeben? Noch glimmt ein Fünkchen Hoffnung, daß die Prophezeiung von Erwin Chargaff nicht eintrifft: „Wenn wir unseres Irrtums gewahr werden, wird es zu spät sein. Der Mittelpunkt unserer Welt ist nicht dort, wo wir nach ihm gesucht haben“ [18].
I. Anmerkungen
[1] Vgl. vom Verf.: Das ganzheitliche Weltbild des Aristoteles
[2] Elsasser, W. M.: Reflections on a Theory of Organisms. Quebec 1987.
[3] Driesch, H.: Philosophie des Organischen. Leipzig 1928.
[4] Ebd. S. 178.
[5] Ebd. S. 183.
[6] Ebd. S. 378.
[7] Bleecken, S.: Naturwissenschaften 77 (1990) S. 277 – 282.
[8] Vgl. Ebd. Abb. 1.
[9] Die genetische Information als invarianter Anteil eines Prinzips (systemische Information) weist eine Analogie auf zur Gravitationskonstanten, letztere ist der invariante Anteil des Gravitationsgesetzes
[10] Bleecken, S.: Merkur Heft 12. Stuttgart 1992. S. 1096 – 1108.
[11] Das Wort „Labyrinth“ wird hier im Sinne von „Irrgarten“ verwendet, im sog. „klassischen“ Labyrinth des Theseus hat es keine Sackgassen gegeben.
[12] Aristoteles: Metaphysik A 9, 992 b.
[13] Aristoteles: Metaphysik 8, 1012 a.
[14] Die „systemische Information“, deren Existenz mit wissenschaftlichen Mitteln nachgewiesen und die mit der vegetativen Seele gleichgesetzt werden kann, hat als Begriff praktisch noch keinen Eingang in die Wissenschaft gefunden.
[15] Der allgemein verwendete Begriff „Naturgesetze“ ist irreführend, es muß richtiger „Materiegesetze“ heißen.
[16] Hartmann, N.: Neue Wege der Ontologie. Stuttgart 1947.
[17] Chargaff, E.: Kritik der Zukunft. Stuttgart 2002.
[18] Chargaff, E.: Das Feuer des Heraklit. Stuttgart 1988.. S. 277.
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