Die Schätze der traditionellen Heiler von Bali

Bali. Bild von David Mark auf Pixabay.

Neben der modernen, westlich geprägten Medizin existiert auf der Insel Bali in Indonesien bis heute eine eigenständige Form des Heilens, die im besten Sinne des Wortes ganzheitlich genannt werden kann. Sie ist das Ergebnis einer mehr als anderthalb Jahrtausende andauernden Wechselwirkung zwischen den Erkenntnissen der urbalinesischen Bali Aga* und dem Hinduismus. In dieser Weise wird sie von den traditionellen balinesischen Ärzten, den Balyans** bis heute angewandt und in der örtlichen Fachliteratur beschrieben. Eine solche Literatur existiert tatsächlich, wenn sie auch lange Zeit von den niederländischen Kolonialherren ignoriert und negiert worden ist. Sie besteht aus den sogenannten Lontar-Schriften. Es sind dies auf den getrockneten und entsprechend präparierten Blättern der Rontal Palme (Borassus labelliformis) eingeritzte Urkunden, die ein umfangreiches Material zum Studium der Geschichte, Kultur, Rechtswissenschaften, Verfassung, des Gottesdienstes und aller Bereiche des täglichen und Geisteslebens der Balinesen enthalten. Ihre Entstehung verdanken sie hinduistischen und hindu-javanischen Einwanderern, die diese Art der Schreibkunst zur Bewahrung wichtiger Geistesgüter mitbrachten. Das Vorhandensein einer im Gegensatz zur benachbarten Insel Java erheblichen Anzahl von Lontars verdankt Bali wahrscheinlich dem Umstand, dass es von der islamischen Flut verschont blieb, welche im 15. Jahrhundert Java überschwemmte. Dadurch unterblieb hier die Zerstörung, der auf Java die meisten Lontarschriften anheim fielen.

Unter diesen Lontars gibt es eine ganze Anzahl, die sich mit der Medizin und ihren Grenzgebieten beschäftigen. Auch sie verdanken ihre Entstehung den bereits erwähnten Einwanderern, denn sie sind in der Anordnung und der Wahl des Stoffes ein Abbild indischer Schriften, und man kann unschwer die medizinisch-philosophischen Systeme des alten Indiens darin entdecken. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die balinesischen Schriften lediglich ein Abklatsch der indischen Originale wären. In ihnen finden sich auch recht viele original urbalinesische Bestandteile. Das traditionelle medizinische System der Balinesen besteht daher aus zwei Grundeinheiten:

  1. den urbalinesischen, sich größtenteils mit alt-javanischen Vorstellungen deckenden Auffassungen
  2. den importierten, hinduistischen und hindu-javanischen Anschauungen.

Die medizinischen Lontars werden in zwei Gruppen eingeteilt. Da gibt es die Usadas (Vorschriften, Rezepte, Arzneimittel) und dann die Tuturs (Lehren, Kommentare). Während die Usadas jedermann frei zugänglich sind, erfordert das Lesen der Tuturs spezielle Kenntnisse des Alt-Javanischen (Kawi). Außerdem gibt es darin zahlreiche symbolische oder geheime Ausdrücke, deren Sinn sich nur dem Eingeweihten erschließt. Nicht selten besteht ein medizinischer Lontar aus zwei Teilen – der Usada und der Tutur. Ein solches Lontarbuch überdauert im Normalfall zwischen 300 und 800 Jahre. Wenn es alt und brüchig geworden ist, wird eine Abschrift des Textes auf neuen Lontarblättern angefertigt.

Die bedeutendste medizinische Usada ist offenbar Budha kecapi, ferner werden noch Kalimo usada und Kalimo usadi genannt, welche grundlegende Angaben über die Herkunft der ärztlichen Wissenschaften, Vorschriften für das Verhalten des Arztes und Erläuterungen über das Wesen der Krankheiten enthalten. In hohem Ansehen stehen auch Usada sari und Dharma usada, die aber als Ableitungen aus den erstgenannten Werken charakterisiert werden. Jeder balinesische Arzt kennt diese hervorragendsten und wichtigsten medizinischen Schriften. Nach der Überlieferung sind die Usadas göttlichen Ursprungs. Die hinduistischen Götter Brahma***, Vishnu**** und Iswara***** sollen sie einst geschaffen haben. Manchmal wird auch der Rishi Kasyapa als Schöpfer der Usadas genannt. Er gehört zu den Sapta Rishis******, den sieben Weisen oder Sehern der Vorzeit, welche bis heute in Indien und Bali als Kulturbringer verehrt werden.

Kasyapa war der Arzt und Heiler unter den sieben Rishis. Auf ihn beziehen sich die balinesischen Ärzte noch heute. Sie werden Balyan usada, Heilkundige, genannt. Sowohl Männer als auch Frauen können traditionell diesen Beruf ausüben. Ihr Wissen umfasst eine an das indisch-ayurvedische System angelehnte Kräuterheilkunde ebenso wie Kenntnisse der Energieübertragung und Geistheilung. Elemente der traditionellen chinesischen Medizin hingegen werden nur in äußerst geringem Umfang angewandt. In den traditionellen Lontars findet sich lediglich eine Schrift von zweifelhaftem Inhalt. Hier geht es vor allem um die Herstellung von Giften zwecks Schädigung oder Tötung von Mitmenschen. Glücklicherweise ist dieses Traktat den meisten Balinesen unbekannt.

Auch der nach dem Wuku System******* strukturierte altbalinesische Kalender spielt vor allem bei den Diagnosen der Balyan Usada eine entscheidende Rolle. Die Balinesen kennen eine Dreitageswoche, eine Fünf- und eine Siebentageswoche. Das balinesische Wuku System dient nicht primär der Messung der Zeit, wie unser westliches Kalendersystem. Es markiert im Gegensatz dazu bestimmte Tage. Damit wird der Zeit im Wuku System eine eigene Qualität zugesprochen. Dies ist vergleichbar mit dem Kalendersystem, welches die Maya für ihre prophetischen Berechnungen benutzten. Dabei wird im Wuku Kalender die jeweilige Qualität des Tages durch die Angabe der Kombinationen der einzelnen Tagesnamen der verschiedenen Wochen bestimmt. In der Fünftagewoche etwa tragen die Tage folgende Namen: umanis, paing, pong, wage und kliwon. Jeder Tag steht für bestimmte positive oder negative Ereignisse bzw. Eigenschaften. Diesen Umstand machen sich die Balyan usada zunutze. Insbesondere die Fünftageswoche wird von ihnen bei Diagnosen zu Rate gezogen, da hinter dieser Wocheneinteilung das fünfgliedrige Kosmogramm erkennbar ist. Die fünffache Gliederung der kosmischen Mächte bildet also die Basis der Diagnose, welche von ihrer fünffachen Erscheinungsweise in der Zeit die Daten ihrer Berechnung herleitet. Für die Diagnose bedeutet dies konkret, wie im folgenden aus dem pancawaratanya, dem „Orakel der Fünftageswoche“ zitiert:

Kommt am umanis jemand, der wegen einer Krankheit fragt, 

und kommt er aus dem N, dann stirbt der Kranke;

O, dann wird er gesund;

S, dann wird er gesund;

W, dann bleibt er krank.

Er ist einem Baum begegnet, der von einem Blitz getroffen worden ist. Das ist die Ursache seiner Krankheit. Es folgen Anweisungen für die Opferzeremonien zur Entsühnung.

Kommt am paing jemand, der nach einer Krankheit fragt, und kommt er aus dem

O, dann stirbt der Kranke;

S, dann wird er gesund;

W, dann wird er gesund;

N, dann bleibt er krank.

Er ist durch den sumpfigen Einfluß eines Naßreisfeldes verzehrt. Das ist die Ursache seiner Krankheit. Auch hier müssen Opfer gebracht werden.

Kommt am pon jemand, der wegen einer Krankheit fragt, und kommt er aus dem

S, dann stirbt der Kranke;

W, dann wird er gesund;

N, dann wird er gesund;

O, dann bleibt er krank.

Bei den Eltern liegt die Ursache seiner Krankheit. Sie müssen durch Opfer versöhnt werden.

Kommt am wage jemand, der wegen einer Krankheit fragt, und kommt er aus dem 

W, dann stirbt der Kranke;

N, dann wird er gesund;

O, dann wird er gesund;

S, bleibt er krank.

Eine „Einklemmung“ ist die Ursache seiner Krankheit. Die Einklemmung bedeutet eine Störung des natürlichen Energieflusses im menschlichen Körper durch energetische Blockaden. Diese können ihren Ursprung in einem Trauma, aber auch in der Anwendung von Schwarzer Magie haben. In diesem Fall sind ebenfalls Opferzeremonien erforderlich.

Kommt jemand am kliwon und fragt wegen einer Krankheit, und kommt er aus

N, dann stirbt der Kranke;

O, dann wird er gesund;

S, dann wird er gesund;

W, dann bleibt er krank.

Im Norden liegt die Ursache seiner Krankheit.

Soweit also die Diagnose nach dem „Orakel der Fünf Lehrer“.

Obwohl noch heute zahlreiche Balyan usada auf Bali praktizieren, ist es doch für den Fremden schwierig, während seines allgemein eher kurzen Aufenthaltes mit ihnen in Kotakt zu kommen. Die traditionellen Heiler üben ihre Kunst bescheiden, und ohne großes Aufsehen aus. Zu sehr wurden sie in den Zeiten der holländischen Kolonialherrschaft als Quacksalber und Scharlatane diffamiert, als dass sie heute ohne Weiteres Weißen ihre Dienste anbieten würden.

Ich hatte das Glück, auf meinen Reisen nach Bali die Bekanntschaft des inzwischen über achtzigjährigen Balyan usada Tschakorda Rai machen zu dürfen. Er praktiziert seit mehr als vierzig Jahren in der Nähe des Künstlerortes Ubud, und gehört zu den wenigen Balyans, die auch Weiße behandeln. Doch Tschakorda tut noch mehr – er gibt sein umfangreiches Wissen an ausländische Schüler weiter. Diese müssen jedoch bereit sein, eine längere Zeit, meist einige Monate, bei ihm zu leben und zu lernen. Der Grund für dieses ungewöhnliche Verhalten mag die Tatsache sein, dass bislang keines seiner neun leiblichen Kinder in Tschakordas Fußstapfen zu treten bereit ist. Wie überall, gehört auch auf Bali zum Beruf des Heilers eben auch die Berufung.

Tschakorda hat sich sein Wissen autodidaktisch durch die Lektüre der Usadas und Tutures angeeignet, eine medizinische Akademie oder gar Universität sah er nie von innen. Dennoch sind seine medizinischen Erfolge beeindruckend. Ich bin in den vergangenen Jahren mehrfach Zeuge geworden, dass er Menschen mit verschiedenen Leiden, von psychischen Problemen über quälende Rückenschmerzen bis hin zu Krebserkrankungen in fortgeschrittenem Zustand, erfolgreich heilte. Seine Diagnose stellt Tschkorda, in dem er zunächst bestimmte Meridiane und Energiepunkte an Kopf und Körper des jeweiligen Klienten untersucht. Danach prüft er mit Hilfe einer Art miniaturisierter Wünschelrute noch einmal die Meridiane an den Füßen seines Klienten. Aus den Reaktionen des auf diese Weise Untersuchten kann der Balyan auf mögliche Erkrankungen und / oder energetische Blockaden im Körper seines Klienten schließen. Während der Diagnose und des nachfolgenden Heilungsrituals steht Tschakorda Rai nach eigener Aussage mit den kosmischen Heilenergien des Universums in Verbindung. Er würde sich aber nie als Wunderheiler bezeichnen, sondern sieht sich eher als eine Art Medium, durch das die universelle Heilenergie auf den Erkrankten lindernd und heilend wirkt. Zumeist ist es dem Balyan möglich, auf diese Weise seinen Besuchern schon bei der ersten Sitzung zu helfen. In besonders schwierigen Fällen, etwa Krebsleiden oder Erkrankungen des Immunsystems, können mehrere Heilsitzungen erforderlich sein.

Tschakorda Rai

Wie die meisten guten und angesehenen Balyans ist Tschakorda Rai eine Persönlichkeit von ausgesprochen positiven Charaktereigenschaften. Er hat ein würdiges, freundliches Benehmen und verbindet mit angenehmer philosophischer Ruhe den Eindruck einer großen Menschenkenntnis. Gern ist er bereit, sein umfassendes Wissen zu teilen, und beantwortet mit großer Freundlichkeit die Fragen seiner Besucher. Als Bezahlung für seine Dienste akzeptiert Tschakorda Rai lediglich Spenden nach dem Gutdünken seiner Klienten. 

Es steht zu hoffen, dass auch die nachfolgende Generation junger Balyans mit dem gleichen Eifer und der gleichen Ausdauer die Lehren der Lontar-Bücher studiert, um so das umfassende altbalinesische Heilwissen vor dem Vergessen zu bewahren. Vielleicht gehören zu diesen neuen Balyans dann auch einige Weiße – die Schüler Tschakorda Rais aus Ubud.

Begriffserklärungen

*Bali Aga:

Wörtlich für „die alten Balinesen“. Damit ist eine Volksgruppe gemeint, die sich der Einführung des Hinduismus und insbesondere des Kastensystems hinduistischer Prägung im 12. und 13. Jahrhundert widersetzten. Sie pflegen bis heute ihre eigenen Rituale und Gebräuche, die sich von denen der übrigen Balinesen unterscheiden. Die Bali Aga sind in verschiedenen Regionen der Insel beheimatet, so im Dorf Trunyan am Batur-See und in Tenganan. Tenganan gilt als reichster und mächtigster Ort der Bali Aga. Seine Einwohner sind als geschäftstüchtige Kaufleute bekannt.

**Balyans:

Traditionelle balinesische Ärzte und Heilkundige

***Brahma:

Hinduistischer Schöpfergott, der das gesamte bekannte Universum geschaffen haben soll.

****Vishnu:

Einer der drei hinduistischen Hauptgötter. Er gilt als der Hüter der Schöpfung. Vishnu erscheint auf dieser Welt nie in seiner eigentlichen Form, sondern immer in einer Gestalt, die seiner jeweiligen Aufgabe angemessen ist. Daher spricht man von den 10 Reinkarnationen oder Avataren Vishnus. Neun dieser Avatare sind bereits erschienen. Die bekanntesten von Ihnen sind Krishna und Rama.

*****Iswara:

Wird in Südindien auch Iswari genannt. Sie ist ebenfalls bekannt als Parvathi, die Gattin des Hindugottes Shiva. Iswara oder Parvathi gilt im Hinduismus als die Göttin der Familie und der Gesundheit.

******Sapta Rishis:

Die Sieben Heiligen Rishis. Der Begriff Rishi  bedeutet wörtlich „Rasende“ oder besser „Seher“. Die Rishis waren die Heiligen des vedischen Zeitalters in Indien. Das Sternbild „Großer Wagen“ steht mit seinen Sternen für die Sieben Rishis.

*******Wuku Kalender

Traditioneller balinesischer Kalender, der sich am Mondjahr orientiert. 

www.Thomas-Ritter-Reisen.de

E-Mail: ritterreisen@aol.com

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Über Thomas Ritter 111 Artikel
Thomas Ritter, 1968 in Freital geboren, ist Autor und freier Mitarbeiter verschiedener grenzwissenschaftlicher und historischer Magazine. Thomas Ritter hat zahlreiche Bücher und Anthologien veröffentlicht. Außerdem veranstaltet er seit mehr als zwanzig Jahren Reisen auf den Spuren unserer Vorfahren zu rätselhaften Orten sowie zu den Mysterien unserer Zeit. Mit seiner Firma „Thomas Ritter Reiseservice“ hat er sich auf Kleingruppenreisen in Asien, dem Orient, Europa und Mittelamerika spezialisiert. Mehr Informationen auf: https://www.thomas-ritter-reisen.de Nach einer Ausbildung zum Stahlwerker im Edelstahlwerk Freital, der Erlangung der Hochschulreife und abgeleistetem Wehrdienst, studierte er Rechtswissenschaften und Geschichte an der TU Dresden von 1991 bis 1998. Seit 1990 unternimmt Thomas Ritter Studienreisen auf den Spuren früher Kulturen durch Europa und Asien.