Die sächsischen Olympier

„In Luigi Pirandellos unvollendetem Drama 'Die Riesen vom Berge' steigt eine erfolglose Schauspieltruppe in einer Villa ab, in der sonderbare Dinge geschehen. Man fällt in diesen Mauern aus der Zeit. Mythologisches hängt in der Atmosphäre. Ein Zauberer lädt das fahrende Volk ein, bei der Hochzeit eben jener Riesen aufzuspielen. Man nennt sie die 'Könige der Welt', sonst weiß man nicht viel über sie. Und hier bricht das Stück ab, der italienische Nobelpreisträger starb 1936 darüber. Die Riesen haben stets Anlass für wildeste Spekulationen gegeben: Handelt es sich um Faschisten oder sind es Theatergötter, zu denen die Gegenwart den Kontakt verloren hat? Und wer ist dieser einsame Zauberer, der nichts von sich preisgibt? Pirandellos Dramatik und Dramaturgie sind geprägt vom Zweifel an der Idee des Kunstwerks. Es hat sich verflüchtigt, lässt sich, wenn überhaupt, nur noch für Momente fixieren. Pirandello war vieles, vor allem aber war er ein Künstler des 20. Jahrhunderts, der 1920er-Jahre, und daraus ergibt sich ein ebenso einfacher wie schlagender Befund: In seinem letzten Stück beschreibt er den Verlust der Künstlerexistenz, wie sie das 19. Jahrhundert geprägt hat. Die Titanen haben abgedankt, es ist die Epoche der Faschisten und Stalinisten, es sind jetzt Diktatoren, die Welten errichten und vernichten. Kurz: Der Künstler hat sich erledigt.“ (aus „Die sächsischen Olympier“ von Rüdiger Schaper und Christine Lemke-Matwey) „Die Riesen vom Berge“… Dies könnte auch auf das Dreigestirn Richard Wagner, Max Klinger und Karl May zutreffen. Jeder von ihnen „thronte“ gleichfalls auf seine ganz besondere Art auf dem Berge. Sie stammen aus eben jener vorigen Welt, die uns heute wieder so sehr fasziniert und die nur äußerlich untergegangen ist. „Wir gründen, immer noch, immer aufs Neue, aufs 19. Jahrhundert, wir stehen auf ihm. Und was immer die drei unterscheidet und voneinander trennt – sie sind Riesen, Genies, Demiurgen, die imstande waren, nach eigenem Ermessen kohärente Werkzusammenhänge zu schaffen. Sie nahmen den Platz Gottes ein, den andere vom Thron gestoßen hatten, und boten sich als Neu-Götter an: die radikalsten Neuerer sind ja meistens die, die am weitesten in die Vergangenheit zurückgreifen.“, stellen Schaper und Lemke-Matwey treffend fest. Sie waren Spieler, Himmelsstürmer, gierten nach Größe und einer von Menschen gemachten Ewigkeit. Sie drehten am großen Rad. Und um dem Ganzen noch eines obenauf zu setzen: „Das die Trias aus Sachsen stammt, hat eine geradezu antike Wucht: Als wäre vom klassischen Athen die Rede, auch einem vergleichsweise überschaubaren Gebiet, das in kurzer Zeit eine so große Zahl von Weltgeistern hervorbrachte und kaum überschaubare Traditionen und Gegenbewegungen gründete.“
Das Museum der bildenden Künste in Leipzig eröffnete am 16. Mai 2013 eine Ausstellung, die diese drei doch so unterschiedlichen Männer zu einem „Gipfeltreffen“ einlädt, das die Antike mit Christus sowie heidnische und christliche Religion in Dialog treten lassen möchte und sie letztendlich auf einem höher gelegenen Ort, dem „Olymp“, zu vereinen. Das vorliegende Buch ist dabei großartige und hervorragend gelungene Vorbereitung, Ergänzung und exzellente Begleitung dieser „magischen Vereinigung“. Wagner, Ernst und May sind „unterwegs zwischen den mythologischen Welterklärungen und Glaubensbekenntnissen, die Kulturgut definieren und Werke formieren.“, stellt Hans-Werner Schmidt, der Direktor des ausstellenden Museums in seinem Einführungsartikel fest. Ihr Schöpfen wird im ersten Teil der Ausstellung analysiert und zwar anhand von Richard Wagners Interpretationen der Landschaftsmalerei zu einer bühnenartigen Szenerie, die den Ort für dramatische Handlungsabläufe gibt: Das Meer, der Rhein, der Wald, das Hochgebirge, die typisch wagnerschen Landmarken. Zahlreiche Gemälde anderer „Zeitzeugen“ ergänzen das üppige Kompendium. Aber auch der modernen Kunst wird ein Weg eingeräumt. So treten neben den kunsthistorisch, zeitsynchronen Kapiteln zu Wagners Schaffen auch sehr individuelle Sichten von David Timm, Falk Haberkorn oder Clemens Meyer entgegen. „rosalie“ wiederum, eine Künstlerin, die für das Bühnenbild und die Kostüme des „Ring des Nibelungen“ bei den Bayreuther Festspielen (1994-1998) verantwortlich zeichnete, folgt in ihren Rauminszenierungen „Wagners Idee des Gesamtkunstwerks, dem Anspruch, die Sinne anzusprechen in einer ästhetischen Totalen“. Da erscheint Richard Wagner als Heldendisplay in einer Lichtskulptur. Max Klinger trifft man in einer begehbaren Landschaft der Melancholie. Karl May wiederum kann man sich in einer Schlucht nähern, die an ihren Steilwänden in Bildkaskaden die Weite der Landschaft suggeriert und gleichermaßen die Enge der Denkstube spürbar werden lässt. „Der Komponist, der bildende Künstler, der Schriftsteller – sie erfahren ihre Präsenz durch eine mehrfach urige Enkelgeneration im gleichen Fach.“
Fazit: „Weltenschöpfer“ zieht in klugen Beiträgen sowie einer immensen Fülle an hochwertigem Bildmaterial vielfältige Parallelen zwischen dem Komponisten Richard Wagner, dem bildenden Künstler Max Ernst und dem Schriftsteller Karl May, die sich nicht nur auf ihre gemeinsame Herkunft aus Sachsen beschränken – und zwar sowohl in ihrer Kunstauffassung als auch in ihrer biografischen Inszenierung des Künstlertums. Gemeinsamer Ausgangspunkt ist dabei Wagners Landschaftsauffassung, die bezüglich ihrer historischen Bildquellen mit der romantischen Malerei kontextualisiert und zugleich in ein geistesverwandtschaftliches Verhältnis zu Klingers und Mays Bilderwelten gebracht wird. Ein äußerst gelungenes Unterfangen!

Weltenschöpfer
Richard Wagner, Max Klinger, Karl May
Hatje Cantz Verlag (Mai 2013)
232 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3775735372
ISBN-13: 978-3775735377
Preis: 39,80 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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