Die Rückkehr der Religion in die Politik


André Malraux meinte: „Das 21. Jahrhundert wird religiös sein, oder es wird nicht sein“. Klassisch wird das Religiöse unter anderem deshalb als „rechts“ bezeichnet, weil es „irrationale“ metaphysische Voraussetzungen annimmt, die durch die Aufklärung, als deren Erbe sich die Linke, ob nun zurecht oder nicht, sieht, rational „überwunden“ wurden. Das Diktum Malrauxs ist in Deutschland auf ganz eigene Weise wahr geworden. Nicht nur hat die rasante Zunahme muslimischer Einwanderer zu einem Boom an Sakralbauten geführt, beeinflusst das tägliche Leben bis in die Optik des öffentlichen Raums und führt zu immer mehr vehement eingeforderten Rücksichtnahmen auf religiöse Empfindlichkeiten, sondern auch die klassische Religionskritik ist bei der „von ihrem grundsätzlichen Antirassismus gelähmten“ (Michel Houellebecq) Linken durch eine beispiellose Toleranz gegenüber dem Islam abgelöst worden. Die atheistische Linke, die den christlichen Religionsunterricht zugunsten eines Lebenskunde- oder Ethikunterrichts abgeschafft hat, fordert nun einen islamischen Religionsunterricht.

Selbst Slavoj Žižek wird mit seiner marxistisch-atheistischen Islamkritik nie so grundsätzlich wie es Necla Kelek oder Hamed Abdel-Samad sind, die mindestens im radikalen Islam eine rechts-faschistische Bedrohung erkennen, die dieser mit seinem Führerkult, der totalen antipluralistischen Gleichschaltung der Gesellschaft, dem Glauben an eine antiindividualistisch gesehene Gemeinde (umma) und dem antidemokratisch-militaristischen Habitus, von seinem Rassismus und Antisemitismus ganz abgesehen, tatsächlich ist. Die in der Rezeption vernachlässigte neomarxistische Islam-Analyse des Sozialwissenschaftlers Hartmut Krauss zeigt in die gleiche Richtung. Das Erstarken des Islam in Deutschland ist also mindestens ein rechts-konservatives, potentiell rechtsextremes Phänomen. Parallel läuft noch ein anderes Szenario.

Die „Moralhypertrophie“ (A. Gehlen), die in unseren Tagen die deutsche Politik bestimmt, ist typisch für Staaten, die sich mit der Endgültigkeit ihrer Niederlage abgefunden haben. Sie sind fremdbestimmt und gehen mit einer Gesinnungsmoral hausieren, um eine Atmosphäre der Schonung zu verbreiten. So behauptet die Bundesregierung im Einklang mit der Opposition, gegen die muslimische Völkerwanderung aus Asien und Afrika sei sowieso nichts zu machen, womit sie im Grunde als handelnder Akteur ausgedient hat. Die Idee ist also, aus der Sache das Beste zu machen und durch maximales Entgegenkommen wenigstens einen sozialen Nimbus zu erlangen, der auf die Einwanderer positiv zurückwirkt.

Schon seit längerem ist in Deutschland durch den Sozialstaat die Vermischung von Staat und Gesellschaft vielleicht mit am weitesten gediehen – ein sozialistisches Ergebnis, das hierzulande sozialdemokratisch genannt wird. Laut dem Staatsrechtler Forsthoff ist „nicht das finanzielle Leistungsvermögen des Staates, sondern das Volumen des Bruttosozialprodukts zum Maßstab der sozialen Umverteilung genommen worden“, wodurch der Staat sich den Bedingungen des Wirtschaftens unterworfen hat und von organisierten Teilinteressen (Lobbys) erpresst werden kann. Der kürzlich verstorbene Roger Willemsen hat das in seinem letztlich erschreckenden Buch über das Hohe Haus traurig bestätigt. Gleichzeitig ist die Funktion des Staats als Garant der Sicherheit immer mehr geschwunden, nach außen bis hin zur Aufgabe der Grenzen und neuerdings auch was die innere Sicherheit angeht. Beides, Übermacht der Gesellschaft und staatliche Schwäche, gehört also zusammen. Die genuine Politik hat abgedankt. An ihre Stelle tritt ein „politischer Gottesdienst“ (Karl Barth).

Denn zwar ist Deutschland das Land, in dem durch die Aufklärung das metaphysische Element am weitesten zurückgedrängt wurde, doch erlaubte dies dem ethischen Element, in den Vordergrund zu kommen. „Die Religion“, sagt Arnold Gehlen, „wurde immer ausschließlicher bloß humanitär und die Säkularisation neuen Stils verläuft heute nicht mehr über die Verführung der Weltlichkeit und der Macht, sondern über die Moral und das Soziale.“ Deshalb kann auch aus dem „Nächsten“ die gesamte Menschheit werden, weil angeblich alle Menschen gleich seien, was natürlich nur biologisch stimmt und alles andere, was Menschen ausmacht, ausblendet. Manche Kirchenmänner und -frauen versprechen sich nun aus der Verbindung von dieser humanitär-optimistischen Ethik mit sozialistischen Kategorien eine gestaltungsfreudige und herrschaftskräftige Zukunft. Die berühmte evangelische Theologin Dorothee Sölle propagierte denn auch eine Art „atheistischen Christentums“, indem sie „eine Art Leben ohne metaphysischen Vorteil vor den Nicht-Christen“ suchte, in dem dennoch „an der Lehre Christi in der Welt festgehalten wird“, wobei also das Reich Gottes doch von dieser Welt ist. Von dieser Art zu denken sind alle Appelle der Kirchen in Deutschland, vor allem der evangelischen, zur Flüchtlingskrise geprägt; sie predigen nicht etwa missionarisch, was als „hegemonial“ verpönt ist, sondern weltlich im Sinne des erwähnten sozialen Nimbus, der im Hier und Heute nicht etwa Erlösung, sondern bei den Beschenkten Dankbarkeit und bei den Schenkenden froh geteilte Armut erzeugen soll.

Obwohl man für eine solche Argumentation kein Christentum braucht, hat zumindest die evangelische Kirche damit einen Einfluss auf die Politik bekommen, der nur erklärbar ist aus dem Gleichklang gesellschaftlicher und kirchlicher Säkularisation mit einer sozialistischen Ethik, die das Christentum beerbt hat. Nirgendwo ist diese moralistische Denkungsart intensiver gepflegt worden als im deutschen evangelischen Pfarrhaus. Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Nietzsche, Gottfried Benn, Albert Schweitzer und Friedrich Dürrenmatt sind nur einige der Beispiele für Menschen, die aus dieser die deutsche Geistesgeschichte prägenden Institution hervorgingen; nicht alle Genannten sind mehr als „Christen“ zu bezeichnen. Das evangelische Pfarrhaus kann aber nach Ausweis von Michael Hanekes Films „Das weiße Band“ zu einem echten Schicksal werden, wenn es im 20. Jahrhundert in Preußen gestanden hat. Der prägende moralische Terror, den der Pfarrer im Film gegenüber seinem Kind entfaltet, ist konsequent und grausam. Noch weiter nördlich angesiedelt zeigte Ingmar Bergmans „Fanny und Alexander“ in der Figur des lutherischen Bischofs einen Mann voller Idealismus, aber bar jedes familiären Humanismus; offenbar eine in ihrer Selbstgerechtigkeit typische Gestalt. Noch der Werdegang Gudrun Ensslins und Elisabeth Käsemanns beweist, dass auch im Schwäbischen und im Ruhrgebiet das Milieu des evangelischen Pfarrhauses moralisch hochstehende Personen hervorbringen kann, die aber in der praktischen Umsetzung ihrer Überzeugungen merkwürdig engherzig sind.

Das jüngste Exemplar dieser konsequenten und unerbittlichen Moralhypertrophie, dieser Verquickung einer ehemals christlichen, jetzt säkular-humanistischen Ethik und Sozialismus ist jene Tochter aus ostdeutschem evangelischem Pfarrhaus, die seit über zehn Jahren immer autoritativer die Geschicke Deutschlands lenkt. Wie die Pfarrer in den genannten Filmen gegenüber ihren Kindern, so selbstgerecht agiert diese Frau gegenüber ihrem Volk, dessen Nutzen sie zu mehren geschworen hat. Dies verbindet sich bei ihr mit der beschriebenen Auffassung vom Staat, dessen immer amorphere Gestalt es in Wahrheit ist, was zurecht „Staats- und Politikversagen“ genannt wird. Nach innen ist er nur noch eine Umverteilungsmaschine, die beliebig viele Menschen alimentieren kann – jedoch: Wie lange noch? In der Außenpolitik wäre diese Frau der Regierung Bush jr. ohne zu zögern in den Irakkrieg gefolgt und stationiert heute untertänig wieder Atomraketen auf deutschem Boden, die für sie weniger schlimm als Atomkraftwerke zu sein scheinen.

Jedenfalls hat die evangelische Kirche über sie, den Pastor und Bundespräsidenten Joachim Gauck, eine Grünen-Vorsitzende und die medial überpräsenten EKD-Vorsitzenden nun einen Einfluss auf die Politik, wie er in einem angeblich religionsneutralen Land bis vor kurzem kaum denkbar war. Ob dieser Einfluss „christlich“ ist, wage ich zu bezweifeln. Aber er ist wie auch immer geartet eine Rückkehr zur Religion, die dem 21. Jahrhundert vorhergesagt worden ist und tatsächlich weltweiter Trend zu sein scheint. Mit seinem Vorrang der Moral vor dem Recht hat dieser „politische Gottesdienst“ quasi-revolutionäre Züge. Dieser Wandel kann nur „rechts“ genannt werden, so geschickt er sich auch tarnt.

Über Adorján F. Kovács 37 Artikel
Prof. Dr. mult. Adorján Ferenc Kovács, geboren 1958, hat Medizin, Zahnmedizin und Philosophie in Ulm und Frankfurt am Main studiert. Er hat sich zur regionalen Chemotherapie bei Kopf-Hals-Tumoren für das Fach Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie habilitiert. Seit 2008 ist er für eine Reihe von Zeitschriften publizistisch tätig. Zuletzt erschien das Buch „Deutsche Befindlichkeiten: Eine Umkreisung. Artikel und Essays“.

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