1. Das Problem des Relativismus
In diesem Text geht es um einen Mann und um einen Begriff. Der Mann verschwimmt im Dunkel der Vergangenheit, er ist als historische Person nicht mehr zu rekonstruieren. Wir sind angewiesen auf Zeugnisse Dritter, die uns im Grunde nur erlauben, vom literarischen Sokrates zu sprechen. Das Schicksal der Ungreifbarkeit teilt die „Postmoderne“ mit Sokrates. Dieser Begriff wird heute inflationär eingesetzt, hat seine Wurzeln in der Architekturkritik, breitete sich aber bald erfolgreich auf das Gebiet der Literatur, Malerei, Philosophie und des Feuilletonismus aus. Die Schwierigkeit, Postmoderne zu definieren, ist dabei bereits Ausdruck ihrer selbst und gehört, soweit es um die philosophische Variante geht, wesentlich zu ihrer Definition. Denn die erkenntnistheoretischen Grundaussagen der Postmoderne reklamieren die Relativität aller Aussagen, die unintergehbare Subjektivität aller Wahrnehmung und allen Wissens, was bei so verschiedenen Denkern wie Lyotard, Foucault und Derrida zur Infragestellung von Wahrheitssätzen und Definitionen führt. Eine Definition der philosophischen Postmoderne kann aber zumindest festhalten, daß Postmoderne für Pluralilät steht, daß sie in der Einheit die Gefahr des Totalitarismus sieht, da Konsens ihrer Auffassung nach nur durch den erzwungenen Ausschluß dissonanter Positionen hergestellt wird. Der Gedanke der objektiven Wahrheit wird in der philosophischen Postmoderne daher durch die Kategorien Sprachspiele, Difference oder Ordnung der Diskurse verdrängt. Das führt in eine Aporie des Handelns, die im folgenden theoretisch herzuleiten und praktisch zu skizzieren ist, bevor in der „Apologie“ des Sokrates nach einer Lösung gesucht werden kann.
Wenn es erkenntnistheoretisch nicht mehr möglich ist, die Wahrheit festzustellen, sondern immer nur noch die subjektive Auffassung von Wahrheit, geht Wahrheit als Unterscheidungskriterium für gerechtes oder ungerechtes Handeln verloren. An ihre Stelle tritt das subjektive Urteil, das zwar von mehreren geteilt werden, aber keinen Verbindlichkeitscharakter beanspruchen kann. Unterschiedliche Handlungsziele, mit denen sich unterschiedliche subjektive bzw. kollektive Wahrheiten gegenübertreten, sind dann im Heterogenitätsgrundsatz gleichermaßen aufgehoben. Ein Konfliktlösungsmodell, wie es Habermas mit seinem Ansatz der kommunikativen Vernunft entwickelt, wird in der postmodernen Perspektive nicht akzeptiert. Habermas geht in seiner „Diskursethik“ zwar ebenfalls von der Kontextabhängigkeit und Relativität von Bedeutungskonstitution aus, glaubt jedoch, der Relativität mit der vollständigen Rationalisierung diskursiver Interaktion begegnen zu können. Der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ soll subjektive bzw. kontextuale Verzerrungen vermeiden und die Errichtung eines universellen Konsens ermöglichen. Aber auch das Laß-uns-drüber-Reden-Modell entkommt dem Makel eines prädiskursiven Reglements nicht, denn der Prozeß der kommunikativen Konsensfindung setzt zumindest den Konsens über die Kommunikationsregeln schon voraus. (1)
Vom postmodernen Standpunkt aus kann es kein „unschuldiges“ Konfliktlösungsmodell geben. Jeder Versuch, Konsens herrschaftsfrei herzustellen, benötigt Regeln, die ihrerseits zunächst herrschaftsfrei erstellt werden müßten. Das erfordert einen Konsens vor dem Konsens. Dieser mag in vielen Fällen bestehen, kann aber nicht vorausgesetzt werden. In der Diskussion um den Paragraphen 218 stößt das prinzipiell konsensfähige Argument der Abtreibungsgegner „Du sollst nicht töten“ z. B. auf den Dissens in der Definition der Leibesfrucht vor dem Fetusstadium. Um sie als eigenständiges, rechtsfähiges Leben definieren zu können, muß auf Definitionen zurückgegriffen werden, über die keineswegs Konsens besteht. Ein anderes Beispiel wäre die juristische Behandlung Homosexueller. Wie soll auf den Wunsch homosexueller Paare nach formaler Gleichstellung oder nach der Adoption von Kindern reagiert werden? Die dabei eingesetzten Argumente berufen sich auf eine ganz unterschiedliche Beantwortung der entscheidenden Fragen wie: Was ist eine Familie? Ist sie geschlechtsspezifisch oder generationsspezifisch zu bestimmen? Ist Geschlechtsidentität biologisch oder kulturell konstituiert? Es ist nicht abzusehen, wie in dieser Frage Konsens hergestellt werden kann und wie es zu allgemeinverbindlichen, gerechten Bewertungskriterien als Grundlage juristischer Entscheidungen kommen soll. Die Entscheidung wird sich maximal auf das positive Recht berufen können, womit sie den Konflikt administrativ löst. Gerechtigkeit ist damit noch nicht gegeben.
Der Begriff der Gerechtigkeit zielt (in einer aktuellen Definition) auf ein „zeitlos gültige[s] Maß richtigen Verhaltens“, auf ein „universales Prinzip humaner Sittlichkeit“, das „dem positiven Recht vor- und übergeordnet“ ist und „im jeweils geltenden positiven Recht verwirklicht werden“ soll (Deutsches Rechtslexikon, 119). Wie aber kann Gerechtigkeit als ein universales Prinzip im positiven Recht verwirklicht werden? Man hat in diesem Zusammenhang seit Aristoteles immer wieder auf das Naturrecht als einer Art nichtrelativen Rechts verwiesen. Um heute einen Bezugspunkt für das Naturrecht zu haben, muß allerdings ein Naturzustand konstruiert werden. In welche Schwierigkeiten man damit für die Gerechtigkeit als überpositivem Recht heute käme, zeigt sich nicht nur am Beispiel der Homosexualität, sondern auch der medizinischen Forschung und Praxis. Beide scheinen natürliche Gegebenheiten und Zusammenhänge außer Kraft zu setzen: nicht nur Homosexualität auch Penizillin müßte „gerechtermaßen“ verboten werden. Aber dieser Einwand setzt selbst schon eine bestimmte Aussage über den Naturzustand voraus, die als objektive Wahrheit akzeptiert werden muß, ehe sie als Kriterium für juristische und schließlich ethische Fragen dienen kann. Ohne den Konsens über die Objektivität eines rekonstruierten Naturzustandes wird es keinen Konsens über Gerechtigkeit und Ethik geben. Mit dem Verlust der objektiven Wahrheit ist keine Gerechtigkeit denkbar, die ohne die Qualität der Universalität und Zeitlosigkeit einfach auf den Begriff des positiven Rechts schmilzt. Die Kategorien Universalität und Zeitlosigkeit indes gehen bereits verloren, wenn Ethnologen uns gelegentlich die Beispiele dafür liefern, wie in verschiedenen Teilen der Erde unterschiedliche Wahrheitsvorstellungen die Begriffe Gerechtigkeit und Ethik unterschiedlich füllen. Dabei bleibt der für die Differenz verantwortliche andere Kontext noch an den anderen Kulturraum gebunden. Die Kontextualität der Definitionen muß jedoch auch zeitlich gedacht werden: Aussagen verändern sich in der Zeit. Das zielt nicht auf die Banalität, daß man heute anderer Meinung zu einer Sache sein kann als vor oder in zwei Jahren, sondern darauf, daß schon die Sekunde den Kontext ändert. Dies führt zu Jacques Derrida, der die Unmöglichkeit einer objektiven Wahrheit sprachphilosophisch begründet.
2. Die Aporie der Gerechtigkeit
Das Wort, mit dem Derrida seine Philosophie auf den kürzesten Ausdruck bringt, heißt différance. Es verweist auf die Doppeldeutigkeit des lateinischen Wortes „differre“, das sowohl für Aufschieben, Verzögern wie für sich unterscheiden, nicht identisch sein steht. Der Begriff der différance vereinigt beide Bedeutungen (Aufschieben und Unterschiede setzen) und zeigt an, daß Aufschub Veränderung ist (Derrida, Die différance, 83-85). Für die Unmöglichkeit einer objektiven Wahrheit steht dieser Begriff insofern, als er für die Unmöglichkeit endgültiger Bedeutungskonstituierung eines sprachlichen Zeichens steht. Dies soll kurz erläutert werden.
Derrida richtet sich gegen die Auffassung, daß die Sprache aus Zeichen bestehe, die eine substantielle Bedeutung haben und mit diesen ihnen zugehörigen Bedeutungen eine Beziehung zueinander herstellen. Darin folgt er Saussure, der bereits argumentierte, das Zeichen sei nur durch die Differenzen definiert, die es von anderen Zeichen unterscheiden, es sei also das, was die anderen Zeichen nicht sind. (2) Saussure orientierte damit auf die relationale Bedeutung der Zeichen. Allerdings ist nach seiner Voraussetzung der Vorgang der Differenzierung, die Bewegung des Bezeichnens, abschließbar. Der Signifikant kommt schließlich bei „seinem“ Signifikaten an. Derrida sieht darin das Festhalten an einem „transzendentalen Signifikat“. (3) Für ihn vollzieht sich mit dem zweiten Aspekt der différance, der Veränderung, auch ein Spiel zwischen den Elementen des sprachlichen Zeichensystems. Für ihn ist nicht nur die konkrete Signifikation eines Signifikanten nicht substantiell, sondern auch nicht die Trennung in Signifikat und Signifikant: das Signifikat eines Signifikanten wird selbst wieder zum Signifikanten. Um es an dem für uns wichtigen Begriff zu illustrieren: Der Signifikant „Gerechtigkeit“ erhält im Rechtslexikon die Signifikation: „universales Prinzip humaner Sittlichkeit“. Diese Signifikation verweist auf vier Signifikanten (universal, Prinzip, human, Sittlichkeit), die wiederum für je mindestens einen Signifikaten stehen. Diese neuen Signifikate werden über neue Signifikanten auf weitere Signifikate verweisen. Der Prozeß ist unabschließbar, er vollzieht sich nicht in einer Tiefenbewegung hin zu einem endgültigen Signifikat, sondern in einer Kreisbewegung. Durch diese Zirkularität kann man nie an den Ursprung/Anfang gelangen, von dem her entlang der Signifikantenkette und zurück zum Ausgangssignifikanten „Gerechtigkeit“ dessen Signifikation abgeschlossen werden könnte. Die Konsequenz: das Signifikat des Signifikanten „Gerechtigkeit“ wird niemals präsent sein. Ohne den Anfang gibt es kein Ende. Der „absolute Ausgangspunkt“ wäre aber zugleich der Ort, von dem her die „prinzipielle Verantwortung“ sich ableiten ließe. Man müßte nur von ihm ausgehen und mit bestimmten Prinzipien, Axiomen und Definitionen (die sich alle wiederum auf ihren absoluten Ausgangspunkt würden berufen müssen) unter Beachtung einer Ordnung von Begründungen seine Rede entwickeln, um zu einem prinzipiell verantwortbaren Ergebnis zu gelangen. Die Möglichkeit der transzendentalen Letzbegründung fällt mit der Idee vom „absoluten Ausgangspunkt“. (4)
Derridas sprachphilosophischer Ansatz zeigt nur eine Möglichkeit, die Kategorien „objektive Bedeutung“ und „objektive Wahrheit“ zu demontieren. Foucault und Lyotard kommen in ähnlicher Weise, aber mit anderer Perspektive, zu gleichen Ergebnissen. Prinzipielle Aussagen (wie: was ist Wahrheit, was ist Gerechtigkeit) können nur noch für den Moment des Sprechens getroffen werden, womit sie nicht mehr prinzipiell, sondern subjektiv, situationsbedingt, vorläufig sind. Die Beantwortung einer solchen Frage ist niemals abschließbar. Anders formuliert: die Antwort liegt darin, daß es keine Antwort gibt. Die Konsequenz aus dieser Unabschließbarkeit zeigt sich denn auch in Derridas Beantwortung der Frage, was ist Gerechtigkeit: „Die Gerechtigkeit ist eine Erfahrung des Unmöglichen. Ein Gerechtigkeitswille, ein Gerechtigkeitswunsch, ein Gerechtigkeitsanspruch, eine Gerechtigkeitsforderung, deren Struktur nicht in der Erfahrung einer Aporie bestünden, hätten keine Chance jenes zu sein, was sie sein wollen: ein gerechter, angemessener Ruf nach Gerechtigkeit“ (Derrida, Gesetzeskraft, 33). Daraus schlußfolgert er: „man kann die Gerechtigkeit nicht thematisieren oder objektivieren, man kann nicht sagen 'dies ist gerecht' und noch weniger 'ich bin gerecht', ohne bereits die Gerechtigkeit, ja das Recht zu verraten“ (ebd., 21).
Die praktischen Konsequenzen eines solchen Theorems sind äußerst prekär. Sie führen genaugenommen zu völliger Lähmung, denn aufgrund der Unabschließbarkeit des Signifikationsprozeßes dürfte ein Wort niemals als Sprache öffentlich erscheinen, geschweige denn, in eine Handlung übergehen. Manfred Frank wirft dem postmodernen Denken deswegen Konservatismus vor, denn: wer „nichts mehr zu behaupten beansprucht, der kann auch nichts bestreiten – seine Rede entbehrt des logischen 'Bisses'; sie ist dennoch fatal, weil sie auf einen radikalen Nicht-Interventionismus gegenüber dem Weltlauf und auf ein laisser faire hinausläuft, in dem das Subjekt eingeladen wird, gegenüber dem Seinsgeschick oder dem 'diffèreance'-Geschehen abzudanken oder in die Unmündigkeit/Verantwortungslosigkeit abzutauchen“ (Frank, 138). (5) In der Praxis innerhalb eines Staatsgebildes muß die Wissensunsicherheit tendenziell dazu führen, daß positive Gesetzgebung von vornherein keinen Anspruch mehr auf die Wahrheit erhebt. (6) Andererseits kann man dem postmodernen Denken ebenso Anarchismus vorwerfen. Da es auf der Inkommensurabilität der verschiedenen Wahrheiten besteht, muß es auch auf den Minimalkonsens verzichten, den die wehrhafte Demokratie mit bestimmten unveräußerlichen Regeln (wie der Intoleranz gegen undemokratische politische Strömungen) einklagt. Regellosigkeit aber führt zu Anarchie und Bürgerkrieg, was das Recht des Stärkeren an die Stelle gegenseitiger Akzeptanz treten läßt. Die Forderung nach herrschaftsfreier Kommunikation wäre dann weit weniger erfüllt als in Habermas' „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“. Während das Modell der kommunikativen Vernunft nicht „unschuldig“ genannt werden kann, muß das Modell der Sprachspiele und des „Widerstreits“ (Lyotard) als naiv bezeichnet werden.
3. Die Postmoderne und Sokrates
Die postmoderne Philosophie scheint eine „Gut-Wetter-Philosophie“ zu sein, die bei der Lösung konkreter Interessenkonflikte versagen muß. Derridas Aussage: Ich bin nur gerecht, wenn ich weiß, daß ich nicht gerecht bin, führt ins juristische und politische Patt. Vor diesem Hintergrund wird nun Sokrates in zweifacher Hinsicht interessant. Zum einen, weil er in einem Prozeß vor dem Gericht Athens um Gerechtigkeit kämpft, zum anderen, weil sein philosophischer Grundsatz sich unter Derridas Aussage legen läßt: Ich bin nur weise, insofern ich weiß, daß ich nichts weiß. Die Nähe zum Wissen und die Nähe zur Gerechtigkeit resultiert jeweils aus der Distanz. Beide machen über ihren Gegenstand die eine Aussage: daß keine prinzipielle Aussage zu machen ist.
Als Sokrates 399 v. u. Z. in Athen des Frevels angeklagt wurde, nicht an die alten Götter zu glauben und die Jugend zu verderben, hatte er drei prinzipielle Möglichkeiten, darauf zu reagieren.
1. Er konnte sich dem Prozeß und der Gefahr einer Verurteilung durch die Flucht entziehen.
2. Er konnte sich der Anklage stellen und versuchen, die Richter von seiner Unschuld zu überzeugen und einen Freispruch zu erwirken.
3. Er konnte das berühmte Prinzip seines Fragens nach den Gewißheiten des Wissens auch auf den Gegenstand Gerechtigkeit anwenden und damit die Möglichkeit der Rechtssprechung überhaupt problematisieren.
Sokrates hat sich für die zweite Variante entschieden. Er hat sich den Vorwürfen, die ihm gemacht wurden, gestellt. Er hat mit seiner forschen und stolzen Verteidigungsstrategie immerhin 220 der 500 Richter auf seine Seite gebracht, hat nicht um sein Leben gebettelt, hat als Verurteilter die Möglichkeit der Flucht ausgeschlagen und ging erhobenen Hauptes in den Tod. Dafür ist ihm die Bewunderung der Nachwelt zuteil geworden. Aber es drängt sich die Frage auf, warum er in dieser Situation nicht das tut, was er immer tat: die Frage nach der Gewißheit des Wissens stellen. Denn es ist durchaus damit zu rechnen, daß Sokrates, wie Gernot Böhme vermutet, durch eine „radikale Durchführung seiner Methode“ die bestehenden Gesetze „als grundlos und damit als unberechtigt erweisen könnte“ (Böhme, 167). Gerade die Abwesenheit dieser Frage, gerade diese Leerstelle wird vor dem Hintergrund des Wirkens Sokrates' unübersehbar zum springenden Punkt dieses Textes. Denn die Frage nach den Sicherheiten des Wissens, nach dessen Vorraussetzungen, ist es ja, was ihn als Philosophen eigentlich berühmt gemacht hat: Da er weiß, daß er nichts weiß, ist er der weiseste von allen. „Das sokratische Nichtwissen besteht in dem Bewußtsein, in den wichtigsten Fragen des Lebens kein geprüftes Wissen zu haben“, faßt Franz Josef Weber zusammen (Weber, 9) – Sokrates führt „die Wahrheit des Objektiven aufs Bewußtsein, auf das Denken des Subjekts zurück“, kommentiert Hegel (Hegel, 442f.).
Das Denken wird an das Subjekt als Maßstab der Wahrheit zurückgebunden. Das bedeutet die Aufklärung des Denkens über sich. Sokrates fragt seinen Gesprächspartner nach dem Grund der Gewißheit seines Wissens und deckt dabei immer weitere Vor-Urteile auf. Er demontiert, ohne eine neue Wahrheit angeben zu können. So entzieht er sich im „Menon“-Dialog schließlich der Klärung der Frage „Was ist Tugend?“, nachdem er eine Reihe von Ansichten darüber als falsche aufgedeckt hat. Die Antwort wird auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben, die Ungewißheit ist gewachsen, nicht ausgeräumt. Der einzige Wahr-Satz des Sokrates, man könne nur wissen, daß man nichts weiß, ist vergleichbar dem einzigen Wahr-Satz der Postmoderne, daß es gibt keine objektive Wahrheit gebe. Beiden gemeinsam ist damit natürlich auch das Problem der Gewißheit der Ungewißheit. Woher weiß man, daß man nichts weiß? Wie kann man sagen, daß es keine objektive Wahrheit gebe?! In der Selbstanwendung muß diese Aussage ihren eigenen Wert zerstören, und diesem performativen Widerspruch, der den postmodernen Denkern so gern vor Augen gehalten wird, entkommt auch Sokrates nicht. Denn sein Satz ist kein ihm von den Göttern gegebener und damit über allen Zweifel erhabener Satz. Das Orakel sagt in der Überlieferung des Platons nur, Sokrates sei der weiseste aller Menschen. Die bekannte Formulierung jedoch ist Ergebnis seiner eigenen Interpretation – also eines Wissenseinsatzes. Es kommt in unserem Zusammenahng allerdings nicht darauf an, das Problem der Objekt- und Metasprache zu klären. Wichtiger als die Frage, wie ist eine solche Aussage zu machen, ist für uns die Frage, wie nach einer solchen Aussage noch Handeln möglich sein kann.
4. Sokrates' Schweigen
Warum also versucht Sokrates nicht, jene, die über ihn zu Gericht sitzen, in ihrer Gewißheit, die Gerechtigkeit zu vertreten, in die Aporie zu führen? Warum verschweigt er diese prinzipielle Frage? Da sein dekonstruktives Fragen den scheinbar wissenden Gesprächspartner bisher regelmäßig zum Wissen des Nichtwissens führte, wäre in diesem Fall nicht auszuschließen, daß die Richter die Unmöglichkeit, gerecht zu sein, einsehen und das Verfahren einstellen. Menon vergleicht im Gespräch mit Sokrates über die Tugend dessen Wirkung mit der eines Krampfrochens: „Denn auch dieser macht jeden, der ihm nahekommt und ihn berührt, erstarren. Und so dünkt mich, hast auch du mir jetzt angetan, daß ich erstarre. Denn in der Tat, an Seele und Leib bin ich erstarrt und weiß dir nichts zu antworten, wiewohl ich schon tausendmal über die Tugend gar vielerlei Reden gehalten habe vor vielen und sehr gut, wie mich dünkt. Jetzt aber weiß ich überall nicht einmal, was sie ist, zu sagen“ (Menon. 80a – b). Hätte Sokrates mit dieser Methode nicht auch vor seinen Richtern Erfolg haben können? Umsomehr als es sich um zufällig ausgewählte Richter handelt, die noch keine Abwehrmechanismen gegen ein solches Fragen entwickelt haben?
Sokrates hätte die Fähigkeit der Richter, gerecht zu sein, in zweifachem Sinne hinterfragen können. Zum einen mit Blick auf den Begriff Gerechtigkeit als „universales Prinzip humaner Sittlichkeit“, zum anderen bezüglich der Urteilsfindung gemäß dem positiven Recht Athens. Auf beiden Ebenen ist das Wort problematisierbar. Auf der ersten wäre im konkreten Fall z. B. die Norm, daß die Jugend nicht verführt werden soll, zu diskutieren, auf der zweiten die Frage, was den Tatbestand einer Verführung der Jugend erfüllt. Nach Derridas und Sokrates' theoretischen Voraussetzungen wäre die Frage auf beiden Ebenen nicht objektiv beantwortbar. Ein verbindliches Urteil hätte nicht gefällt werden können. Sokrates jedoch stellt die Frage nach der Gerechtigkeit weder auf der einen noch auf der anderen Ebene.
Diese Behauptung stimmt auf den ersten Blick nicht ganz. Sokrates macht durchaus einige Vorstöße, um die Urteilsfindungskompetenz seiner Richter in Frage zu stellen. So spielt er auf die Manipulierbarkeit der Meinungsbildung an, wenn er seine Richter darauf hinweist, daß sie schon lange vor diesem Prozeß durch Sokrates' Feinde gegen ihn eingenommen worden seien; in einer Zeit, da sie z. T. noch Kinder und das heißt, da sie am vertrauensseligsten waren (Apologie. 18c). An anderer Stelle sagt er seinen Richtern ins Gesicht: jeder könne die Weisheit des Sokrates erlangen, sofern er einsieht, „daß er in der Tat nichts wert ist, was die Weisheit anbelangt“ (Apologie. 23c). Dann spricht Sokrates jenen Vorgang unter der Herrschaft der 30 Tyrannen an, da die zehn Strategen von den Athenern zu Unrecht verurteilt wurden. Später haben die Athener dieses Urteil bereut und wiederum diejenigen, die den Prozeß angestrebt hatten, zur Verantwortung gezogen. Unsicherheit und Veränderung des Gerechtigkeitsempfindens innerhalb weniger Zeit werden, wenn auch indirekt, angesprochen als eine Erfahrung jener, die nun erneut Gerechtigkeit ausüben sollen (Apologie. 32b). Aber erst in seiner Rede nach der Verurteilung thematisiert Sokrates ausdrücklich die Möglichkeit, gerechte Urteile zu sprechen. Er kritisiert die Verfahrensweise der athenischen Rechtsfindung: „wenn ihr ein Gesetz hättet, wie man es anderwärts hat, über Leben und Tod nicht an einem Tage zu entscheiden, sondern nach mehreren, so wäret ihr wohl überzeugt worden“ (Apologie. 37a – b). Zwar will Sokrates keinen Zweifel darüber lassen, daß bei einer längeren Verhandlung ein „gerechtes“ Urteil (also seine Freisprechung) möglich geworden wäre, aber das kann den archimedischen Punkt, den Sokrates hier ungewollt freilegt, nicht mehr überdecken. Es ist einmal auf das hingewiesen, was Derrida mit dem Begriff „différance“ faßt: Aufschub ist Veränderung. Die Verlängerung des Prozesses auf eine endliche Zeit kann unter dieser Maßgabe jedoch nur eine relative Vermeidung des Irrtums sein, keine absolute. Auch dazu noch einmal Derrida: „Der Augenblick der Entscheidung ist, wie Kierkegaard schreibt, ein Wahn. Dies trifft vor allem auf den Augenblick der gerechten, angemessenen Entscheidung zu, die die Zeit zerreißen und den verschiedenen Dialekten trotzen muß. Ein Wahn (ist's). Auch wenn man von der Hypothese ausgeht, daß die Zeit und die Überlegenheit, die Geduld des Wissens und die Meisterschaft unbegrenzt sind, ist die Entscheidung in ihrer Struktur endlich, so spät sie auch getroffen werden mag: dringliche, überstürzte Entscheidung, in der Nacht des Nicht-Wissens und der Nicht-Regelung“ (Derrida, Gesetzeskraft, 54).
Aber in diese Richtung will Sokrates offenbar nicht vordringen. Er geht jedesmal, wenn er die Möglichkeit der Rechtsprechung kritisch befragt, an der Abzweigung zur Aporie vorbei. Er bleibt bei der prinzipiellen Anerkennung des Sytems Ankläger-Angeklagter-Richter-Gesetz-Gerechtigkeit. So ist seiner Meinung nach ein Tag zur Rechtsfindung zwar zu wenig, n Tage aber würden durchaus genügen. Auch wenn er von der Voreingenommenheit der Richter spricht, zielt er nicht auf eine prinzipielle Dekonstruktion ihrer Rolle als Rechtssprecher, sondern auf eine „kosmetische Operartion“ auf dem Weg zur Rechtssprechungskompetenz: sie können der Manipulation entgehen und gerecht sein, aber unter diesen und jenen Voraussetzungen; er sagt nicht: sie können nie gerecht sein. Die Voraussetzungen jedoch gibt er selbst an: sofern die Richter seiner Argumentationfolgen, werden sie gerecht urteilen können. Ist eine stärkere Zurücknahme des sokratischen Satzes vom Wissen des Nichtwissens denkbar?
Sokrates wird sich auch in anderer Hinsicht untreu. Während seine Dialoge auf der Suche nach der Wahrheit der Begriffe regelmäßig mit der Vertröstung auf die spätere Fortführung der Suche enden, beginnt seine Verteidigungsrede mit der Suggestion, daß er in der Wahrheit spreche. Am Anfang seiner Rede reagiert er zunächst auf die Warnung seiner Ankläger an die Richter, Sokrates sei gewaltig im Reden. Sokrates nennt das eine Verleumdung. Er verspricht, sie zu widerlegen, wenn er sich „nun auch im geringsten nicht gewaltig zeige im Reden […] wofern diese nicht etwa den gewaltig im Reden nennen, der die Wahrheit redet“ (Apologie. 17b). Da Sokrates den Vorwurf, ein guter Redner zu sein, gerade nicht dadurch entkräften kann, seine Zuhörer zu überzeugen, es nicht zu sein, bringt er eine moralische Kategorie ins Spiel: Seine Überzeugungskraft beruhe nicht auf rhetorischem Vermögen, sondern darauf, daß sich in ihm die Wahrheit zum Ausdruck bringe. Er beginnt seine Verteidigung mit einem Wahrheitspostulat. Statt die Definierbarkeit des Tatbestandes „Verderben der Jugend“ zu problematisieren, erklärt er den zu Recht erzürnten Athenern, nicht die Jugend verdorben, sondern veredelt zu haben (Apologie. 36c). (7) Sokrates hat seine Perspektive vollends zum Ort der Wahrheit erhoben.
5. Sokrates' Wende
Hier deutet sich der Widerspruch an, in dem Sokrates steht: in der Verteidigung seines Philosophierens gibt er seinen eigenen philosophischen Grundsatz auf. In der Verteidigung seines Philosophierens hat Sokrates offenbar keine Ähnlichkeit mehr mit der postmodernen Philosophie, die, wie Paul Veyne mit Blick auf Foucault bemerkt, nach ihrem Grundsatz der Unsicherheit des Wissens niemals sagt: „Ich bin im Recht und die anderen irren sich“, sondern nur: „Die anderen behaupten zu Unrecht, daß sie im Recht sind“ (Veyne, 214). Diese Trennung zwischen Theorie und Praxis scheint Hegels Worten über Sokrates, „Sein Leben und seine Philosophie sind aus einem Stück“, zu widersprechen. Aber mit dem zweiten Teil des Hegel-Zitats deutet sich schon an, inwiefern in Sokrates' „Selbstverrat“ das historische Vorbild für jedes postmoderne Denken liegt: „sein Philosophieren ist kein Zurückziehen aus dem Dasein und der Gegenwart in die freien reinen Regionen des Gedankens“ (Hegel, 455).
Sokrates verrät seine eigenen philosophischen Grundsätze, indem er für sich die Wahrheit beansprucht. Das ist nur auf den ersten Blick Ausdruck von Willkür. Genau besehen versteckt sich dahinter ein Disziplinierungsmodell, das Kant 1784 mit Blick auf den Gebrauch der kritischen Vernunft als Verhaltensregel anbieten wird. In seiner „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ differenziert er den Gebrauch der kritischen Vernunft in einen öffentlichen und einen privaten. „Der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern.“ Kant versteht „unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf“ (Kant, 55). Der Mensch ist zum einen öffentlich (an seinem Schreibtisch als Teilnehmer am gesellschaftlichen Diskurs), zum anderen privat (als „Platzhalter“ einer bestimmten Position in der Gesellschaft). (8) Noch einmal Kant: „So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinem Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter über die Fehler im Kriegsdienste Anmerkungen zu machen und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen“ (ebd., 56). In anderer Terminologie bedeutet dies: Kritik ist möglich nur an dem Gegenstand, dem ich im Augenblick der Kritik gegenüberstehe. Sie ist nicht mehr möglich, sobald ich mich selbst im Gegenstand der Kritik befinde. Nach diesem Modell etwa verhält sich Sokrates: Als Privatperson in einer Strafsache vor die staatliche Institution des Gerichts zitiert, „vernünftelt“ er nicht über die „Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit“ dessen, was dort geschieht und von ihm verlangt wird. Er akzeptiert seine ihm nun zukommende Rolle innerhalb dieser Institution und liefert die von ihm erwartete Verteidigungsrede.
Aber auch damit hat man Sokrates' Handlungsmotiv noch nicht vollständig erfaßt. Denn das Kantsche Modell läuft auf der praktischen Ebene nur auf den Gehorsam hinaus. Daß Sokrates nicht bereit ist, gegen seine bessere Einsicht Befehlen zu gehorchen, zeigt jedoch jenes schon erwähnte Ereignis der verurteilten zehn Strategen in der Zeit der 30 Tyrannen. Damals hatte sich Sokrates nicht an den Befehl gehalten, einen dieser Strategen dem Gericht zuzuführen. In seiner Verteidigungsrede erwähnt Sokrates dieses Ereignis, um die Athener daran zu erinnern, daß er nicht bereit war, aus Todesfurcht das gesetzwidrige Verfahren der Diktatoren zu unterstützen. Dies ist um so bedeutsamer, als Sokrates im Athenischen Kampf der Demokraten gegen die Aristokraten als Sympathisant der Aristokraten galt. Sokrates hatte also seine Vorstellung von Gerechtigkeit und vertrat diese – auch als Privatperson. Das Kantsche Modell erweist sich als ungenügend zur Beschreibung.
Ein anderes Modell der Unterscheidung von theoretischer und praktischer Ebene läßt sich 200 Jahre nach Kant bei einem postmodernen Denker erkennen. Foucault kann nach seinen eigenen theoretischen Grundsätzen niemals sein Handeln als Handeln aus der Wahrheit heraus begründen. Die erkenntnistheoretische Aporie, in die er mit seiner Philosophie führt, macht jedes objektiv gerechtfertigte Handeln unmöglich. Die Folge müßte der schon angesprochene „Nicht-Interventionismus“ sein. Dem begegnet Foucault mit dem Interesse. Paul Veyne beschreibt Foucaults Haltung folgendermaßen: „wenn es eine Sache gibt, die das Denken Foucaults von einigen anderen unterscheidet, dann ist es die feste Absicht, keine doppelte Buchführung zu betreiben, nicht unsere Illusionen zu verdoppeln, nicht letzten Endes das als wahr zu begründen, was jeder zu glauben wünscht, und nicht zu beweisen, daß das, was ist oder sein sollte, alles Recht auf seiner Seite hat. Etwas äußerst Seltenes: Das ist einmal eine Philosophie ohne happy end; nicht weil es schlecht ausgeht: nichts kann 'zu Ende gehen', da es ja Ursprung und Ziel nicht mehr gibt“ (Veyne, 213). Und dennoch äußert Foucault Zustimmung und Ablehnung, hat er Interessen, zu denen er sich bekennt. Er vertritt seine Präferenzen, aber unter dem Motto: „Ja zum Krieg, Nein zur patriotischen Indoktrination.“ – Paul Veyne: „Die Menschen können ebensowenig darauf verzichten zu werten, wie sie darauf verzichten können, zu atmen oder für ihre Werte zu kämpfen. Foucault wird also versuchen, eine seiner Präferenzen durchzusetzen […] er beansprucht dabei nicht, recht oder unrecht zu haben, sondern er möchte gewinnen und hofft, aktuell zu sein.“
Dieses Modell der Unterscheidung von theoretischer und praktischer Ebene ordnet den beiden Ebenen nicht wie bei Kant Widerspruchsrecht und Gehorsamspflicht zu, sondern Bewußtsein (im Sinne einer theoretischen Einsicht) und Interesse (als ein dieses Bewußtseins suspendierendes praktisches Sich-Verhalten). Vergleichbar aber bleibt die Trennung: in beiden Fällen sieht der Handelnde auf der praktischen Ebene von dem ab, was er als Diskursteilnehmer zum Thema Wahrheit, Tugend, Gerechtigkeit usw. zu sagen hat. Es handelt sich jeweils um die Verwandlung des theoretischen in den praktischen Menschen. Im zweiten Modell vertritt der „praktische“ Mensch dabei allerdings Präferenzen, die er nicht als wahr und gerecht begründen kann oder will, die er aber vertritt. Im „Menon“-Dialog erwies sich tugendhaftes Handeln schließlich als nicht auf Wissen beruhend also auch nicht lehrbar. Sokrates' letzte Worte im „Menon“: „Zufolge dieser Untersuchung also, o Menon, scheint die Tugend durch eine göttliche Schickung denen einzuwohnen, denen sie einwohnt“ (Menon. 100b). Das richtige Verhalten wird damit zur Frage der eigenen Empfindung. Ebenso tritt im Begriff des Interesses an die Stelle der Argumentation die innere Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen Präferenzen: ein Gefühl also, eine Ahnung – so unbestimmt und unabweisbar wie die Autorität eines Orakels und die Zeichen einer inneren Stimme.
6. Die Moral der Schizophrenie
Die innere Überzeugung beruft sich bei Sokrates, wie wir anhand seiner Rede sehen, auf das Orakel, auf Träume oder auf die innere Stimme (Apologie. 33c, 40a, 31d). In diesem Zusammenhang wagt er wieder Definitionen und Wahr-Sätze, rekurriert auf Wissbares (z. B. zur Frage, was ist „Verderben der Jugend“), das über den einen Wissenssatz (das Wissen des Nichtwissens) hinausgeht. Mit der Berufung auf die innere Stimme, auf sein Daimonion als sein „ureigenstes Irrationales“ (Böhme), verläßt er den rationalen Argumentationsrahmen. (9) Zum anderen zeigt er Gehorsam, indem er, vor die staatliche Institution des Gerichts zitiert (und zwar nicht als Diskursteilnehmer, sondern in der Rolle des Angeklagten), nicht dessen Rechtsprechungskompetenz prinzipiell in Frage stellt. Dieser Gehorsam hat seinen Grund allerdings zugleich auch wieder im Interesse.
Böhme bemerkt: „Bezogen auf den Typ Sokrates erscheint eine Anerkennung von bestehenden Gesetzen einfach, weil sie bestehen, paradox. Denn es liegt in seiner dialektischen Praxis etwas Subversives, das alles Bestehende auflöst.“ Böhme erklärt Sokrates' konservatives Verhältnis zu den Gesetzen damit, daß dies „zur hybriden Freiheit der Gesetzlosigkeit führen“ würde (Böhme, 167). In der Mißachtung der Gesetze, wie es sich in einer Flucht nach der Verurteilung ausdrücken würde, sieht Sokrates den Anfang der Staatszerrüttung, die er nicht will. (10) Aber – der Anfang vor dem Anfang liegt in der Infragestellung dessen, worauf die Gesetze sich berufen und woraus sie ihre Legitimation ziehen: Gerechtigkeit. Die Hinführung dieses Begriffs zur Aporie ist tausendmal mehr Staatszerrüttung als die Flucht aus dem Gefängnis. Am Anfang der Anarchie steht das Wort. Dieses Wort ist das Wort vom prinzipellen Nichtwissen, das der angeklagte Sokrates vor dem Gericht verschweigt.
Sein Schweigen ist paradoxerweise seine eigentliche Verteidigungsrede. Wenn ihm vorgeworfen wird, die Grundfeste der Athenischen Polis in Frage zu stellen, so zeigt er gerade durch dieses unüberhörbare Schweigen, daß er ihre Autorität nicht antasten und Athen nicht der Gefahr einer Anarchie aussetzen will. Denn was würde geschehen, wenn er mit einer solchen Fragestellung Erfolg hätte? Er würde das Athenische Gericht zur „Erstarrung“ bringen, wie es der Krampfrochen mit seinem Gegenüber zu tun pflegt. Das Gericht wäre als Institution paralysiert, seiner Legitimation beraubt, müßte das Verfahren einstellen, sich selbst auflösen. Der eingestellte Prozeß gegen Sokrates würde zugleich der letzte Prozeß in Athen sein; die Dekonstruktion des Begriffs Gerechtigkeit hätte in die Aporie der Rechtssprechung geführt. Man kann sich vorstellen, wie leicht in diesem rechtsfreien Raum das durch den Peloponnesischen Krieg und die Zeit der 30 Tyrannen ohnehin angeschlagene Athen in eine Anarchie oder in einen Bürgerkrieg geraten würde. Es wäre damit auch nicht mehr das möglich, wofür Sokrates steht, wofür er gelebt hat und nun zu sterben bereit ist: das Philosophieren auf dem Marktplatz, das Fragen nach den Gewißheiten des Wissens und der Kampf gegen die Vorurteile. Die politische Anarchie würde den Wirkungsort des skeptischen Philosophierens zerstören.
Sokrates' theoretischer Anarchismus hat seine Grenzen, wenn es um die demokratiche Grundordnung Athens geht. Seine Haltung zur Anarchie läßt sich wohl ganz gut mit einem Zitat von Friedrich Schlegel umschreiben: „Als vorübergehender Zustand ist der Skeptizismus logische Insurrektion; als System ist er Anarchie“ (Athenaeum-Fragment Nr. 97). Man sollte mit Blick auf Sokrates von eben diesem Skeptizismus als vorübergehender logischer Insurrektion sprechen, denn Sokrates arbeitet in seinen Dialogen zwar auf die Erkenntnis des Nichtwissens hin, aber dieses soll offenbar nicht der Endpunkt sein. Den Ertrag der Aporie bzw. des „Erstarrens“ sieht er im Menon-Dialog darin, daß der Mensch, der sich zuvor als Wissenden empfand, durch das erweckte Gefühl seines Nichtwissens von der Sehnsucht nach dem Wissen ergriffen worden ist (vgl. Menon. 84c). Der Gedanke des Wissens wird insofern aufrechterhalten als Ertrag der Zukunft, der nicht vor der Erfahrung des Nichtwissens erreichbar ist. Der Aporie kommt, so könnte man sagen, die Funktion eines reinigenden Gewitters zu, einer „Fastenzeit“, die den Verstand von Vorurteilen „entschlackt“ und zu neuen Fragestellungen befähigt.
In dieser Perspektive sollte man auch das postmoderne Denken sehen. Statt selbstgerecht das Scheitern, den Tod oder die Fiktivität der Postmoderne auszurufen, ist danach zu fragen, wie das postmoderne Denken aufgehoben und in praktikable, praxisfähige Konzepte integriert werden kann. In einem mit dem Schlagwort „Nach der Postmoderne“ betiteltem Buch von 1992 heißt es im Vorwort sehr euphorisch: „Die 'Postmoderne' ist nicht erreicht, 'Postmodernität' als Katalysator der Denkanstrengungen, mit diesen Wirklichkeiten fertig zu werden, sehr wohl – 'Nach der Postmoderne' kommt ein Denken, das diese Differenzierung als seine Basis versteht: die Rückkehr zur geduldigen Arbeit unaufgeregter Reflexion. […] 'Nach der Postmoderne' heißt mithin: 'inmitten der durch sie geklärten Situation'. Wie gehen wir nun also mit unseren Wirklichkeiten um, nachdem wir haben lernen müssen, daß und wie sie nicht die sind, als die wir sie so lange verstanden wissen wollten“ (Steffens, 12f.). Wohin die „unaufgeregte Reflexion“ auf der „Basis“ der „geklärten Situation“ führen wird, wie die „neue Verbindlichkeit von Philosophie für die Existenz des einzelnen“ (Caysa, 104) konkret aussehen kann und inwiefern sie sich mit neuen Wertsetzungen und Handlungskonzepten von ehemals gemachten Aussagen trennen muß, ist noch kaum abzusehen. Aber auch Sokrates konnte das Nach der Aporie nicht genauer bestimmen. Er beendete das Gespräch im „Menon“, als die Frage nach der neuen Definition der Tugend unabweisbar wurde. Er verschob es auf einen späteren Zeitpunkt. Aber Aufschub ist Veränderung, und was morgen oder nachher ist, wissen wir nicht.
Was wir jedoch mit einiger Sicherheit wissen, ist, daß man von Sokrates eben jene Trennung zwischen Theorie und Praxis lernen kann, die er in der „Apologie“ vorführt. Und dies wird und wurde auch gelernt, denn die zitierten postmodernen Denker haben das Bewußtsein um die relative Trennung der theoretischen und praktischen Sphäre nie wirklich verloren. Franks Vorwurf, der postmoderne Relativismus führe zu „Nicht-Interventionismus“ und „laisser faire“, übersieht, daß Foucault z. B. trotz seines spekulativen Skeptizismus' in konkreten politischen Auseinandersetzungen handlungsfähig blieb und sein Interesse vertrat. (11) Auch Derrida zeigt außerhalb seiner Rede von der Unmöglichkeit der Gerechtigkeit noch das pragmatische Bewußtsein um Ungerechtigkeit, wenn er den Aufruf französischer Intellektueller zur Wachsamkeit gegen Rechts unterzeichnet, und damit die Unterstützung aller wie auch immer gearteter Aktivitäten und Organe der Rechtsextremen ablehnt. Mit dieser partiellen Trennung zwischen Theorie und Praxis, Wissenschaft und Interesse knüpfen sie an Sokrates an, mit dessen Philosophie sie soviel Gemeinsames haben und dessen Leben und Philosophie gerade deswegen „aus einem Stück“ ist, wie Hegel sagte, weil sich sein Philosophieren nicht „aus dem Dasein und der Gegenwart in die freien reinen Regionen des Gedankens“ zurückzieht, sondern die Möglichkeit des Philosophierens gegen die überzogenen Konsequenzen der eigenen Philosophie verteidigt.
Bibliographie
-Böhme, Gernot, Der Typ Sokrates, Frankf./M. 1992 (11988)
-Brandt, Richard B., Drei Formen des Relativismus, Auszug in: Texte zur Ethik, hg. v. Dieter Birnbacher und Norbert Hoerster, München 81991, S. 42-51
-Caysa, Volker, Ethik im 'Nach' der Postmoderne, in: Nach der Postmoderne, hg. v. Andreas Steffens, S. 85-114
-Derrida, Jacques, Die différance, in: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, hg. v. Peter Engelmann, Sttg. 1990, S. 76-113
-Derrida, Jacques, Gesetzeskraft, Der „mystische Grund der Autorität“, Frankf./M 1991
-Derrida, Jacques, Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, hg. v. Peter Engelmann, Sttg. 1990, S. 140-164
-Deutsches Rechtslexikon, hg. v. Horst Tilch, Bd. 2, München 1992
-Eagleton, Terry, Einführung in die Literaturtheorie, Sttg. 1988
-Frank, Manfred, Politische Aspekte des neufranzösischen Denkens, in: ders., Conditio moderna. Essays, Reden, Programm, Lpz. 1993, S. 119-139
-Hegel, Werke, Bd. 18, Frankf./M. 1971
-Kant, Immanuel, Werke in sechs Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. 9, Darmstadt 1983
-Steffens, Andreas, in: Nach der Postmoderne, hg. v. ders., Düsseldorf und Bensheim 1992
-Veyne, Paul, Der späte Foucault und seine Moral, in: Denken und Existenz bei Michel Foucault, hg. v. Wilhelm Schmid, Frankf./M. 1991, S. 208-219
-Weber, F. J., Platons Apologie des Sokrates, Padeborn 51990
Anmerkungen
(1) Die Problematik verbindlicher Kommunikationsregeln wird sehr gut in der Diskussion um Interkulturalität deutlich. In einem Text von 1961 unterscheidet z. B. Richard B. Brandt zwischen einem „kulturellen Relativismus“ und einem „ethischen Relativismus“. Demnach geht zwar auch der „kulturelle Relativismus“ von der Möglichkeit fundamentaler Widersprüche in den moralischen Grundsätzen verschiedener Individuen oder Gruppen aus (Brandt, 44), aber erst der „ethische Relativismus“ zieht daraus die Schlußfolgerung der Gleichwertigkeit der einander widersprechenden ethischen Normen (48). Brandt orientiert dagegen auf eine Rationalisierung der Ethik. Indem mittels einer „überzeugenden Methode“ ethische Aussagen auf ihre „Gültigkeit“ oder „Korrektheit“ geprüft werden (49), soll schließlich wieder eine qualitative Bewertung verschiedener Kulturen und die Postulation verbindlicher Verhaltensformen möglich werden. Entscheidend ist allerdings die Frage, wie und durch wen eine solche Methode aufgestellt werden kann. Wenn dazu, wie Brandt vorschlägt, eine so „unzweifelbare“, praktisch erprobte Grundlage wie die moderne Naturwissenschaft herangezogen wird, wird untergründig bereits auch das abendländische Ethik-Modell gegenüber allen anderen begünstigt. Denn den auf verschiedenen religiösen Annahmen basierenden Ethik-Modellen anderer Kulturkreise (mit ihren Witwenverbrennungen, ihrem „Aberglaube“, Totenverzehr u. ä.) würde durch diese Rationalisierung die Rechtfertigungsgrundlage entzogen werden. Die Rationalisierung der Ethik entkommt mit der Metapräskription der abendländischen Ratio gerade nicht einer ethnozentrierten Doktrin.
(2) Eagleton erklärt die Arbitrarität des Zeichens populär: Das physische Geschöpf Hund trägt nicht in sich selbst schon seine Bezeichnung als Hund. Die Beziehung zwischen den Chiffren H-U-N-D als Signifikanten und dem Signifikat „Hund“ entsteht nur aus der Verschiedenheit von anderen Zeichen, resultiert daraus, daß „Mund“, „rund“, „Hand“ usw. schon für etwas anderes stehen (Eagleton, 74f.).
(3)“Durch das Beibehalten der im wesentlichen und im rechtlichen Sinn strengen Trennung zwischen signans und signatum sowie der Gleichstellung von signatum und Begriff bleibt von Rechts wegen die Möglichkeit offen, einen Begriff zu denken, der in sich selbst Signifikat ist, und zwar aufgrund seiner einfachen gedanklichen Präsenz und seiner Unabhängigkeit gegenüber der Sprache, das heißt gegenüber einem Signifikantensystem. […] Er [Saussure] erfüllt die klassische Forderung nach einem, wie ich es genannt habe, 'transzendentalen Signifikat', das von seinem Wesen her nicht auf einen Signifikanten verweist, sondern über die Signifikantenkette hinausgeht, und das von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr die Funktion eines Signifikanten hat. In dem Augenblick dagegen, wo man die Möglichkeit eines solchen transzendentalen Signifikats in Frage stellt und wo man erkennt, daß jedes Signifikat auch die Rolle eines Signifikanten spielt, wird die Trennung von Signifikat und Signifikant – das Zeichen – von ihrer Wurzel her problematisch“ (Derrida, Semiologie und Grammatologie, 142f.).
(4) Eagleton beschreibt einen weiteren Aspekt der Nicht-Präsenz, der Nicht-Endgültigkeit eines Zeichens folgendermaßen: „In einem weiteren Sinne ist Bedeutung niemals mit sich selbst identisch, weil Zeichen immer wiederholbar oder reproduzierbar sein müssen. Wir würden eine Markierung, die nur einmal auftrat, nicht ein 'Zeichen' nennen. Die Tatsache, daß ein Zeichen reproduziert werden kann, ist deshalb ein Teil seiner Identität; aber dadurch wird die Identität des Zeichens zugleich aufgesplittert, da es immer wieder in einem neuen Kontext reproduziert werden kann, der seine Bedeutung verändert“ (Eagleton, 112).
(5) Dieser Vorwurf hat inzwischen Tradition. Mit Blick auf Lyotards Bekenntnis zur postmodernen Differenz als Quelle eines liberalen Pluralismus gibt Seyla Benhabib schon 1984 zu bedenken: „Aber das Insistieren auf der Inkommensurabilität der Sprachspiele im Namen des Polytheismus kann auch moralische und politische Gleichgültigkeit bewirken. Der Ruf nach Innovation, Experiment und Spiel kann völlig von sozialer Reform und institutioneller Praxis abgelöst werden“ (Kritik des 'postmodernen Wissens' – eine Auseinandersetzung mit Jean-Francois Lyotard, in: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, hg. v. Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe, Hamburg 1986, S. 120). Bei dem laisser-faire-Vorwurf handelt es sich jedoch um ein viel älteres Phänomen. In der Spannung der Nichtlösbarkeit des ethischen Rechtfertigungsproblems und der praktischen Äußerung moralischer Wertmaßstäbe stehen ja im Grunde alle nonkognitivistischen Varianten der metaethischen Theorien, wenn sie die Wahrheitsfähigkeit moralischer Sätze bezweifeln. Insofern im Bereich der Moral die Begriffe Erkenntnis, Wahrheit und Allgemeinverbindlichkeit abgelehnt werden, insofern die ethische Argumentation nicht als logische Ableitung und nicht als Deskription, sondern lediglich als Emotion betrachtet wird, ergibt sich die Frage nach dem moralischen Urteilsvermögen und nach der Gefahr „moralischer Laxheit“ zwangsläufig (vgl. Alfred J. Ayer, Die praktische Funktion moralischer Urteile [1954], Auszug in: Texte zur Ethik, hg. v. Dieter Birnbacher und Norbert Hoerster, München 81991, S. 55-67, hier: 65f.). Neu an diesem alten Phänomen scheint mir jedoch der Niederschlag der „Wahrheitsunfähigkeit“ moralischer Sätze auf der praktischen Ebene. Die 60er und 70er Jahre vertraten mit der Gegenmoral der verschiedenen Subkulturen immerhin noch einen messianischen Geltungsanspruch; die späten 80er und die 90er Jahre leisten größtenteils widerstandslos den Verzicht auf Verbindlichkeit – ausgenommen erschreckenderweise gerade die Gegenkultur des Neonazismus'.
(6) Die seltsame Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Paragraphen 218 wäre ein Beispiel dafür. Die Unsicherheit, Recht zu sprechen, drückt sich hier bereits darin aus, daß ein Gesetzesverstoß als rechtswidrig und straffrei gilt. In anderen Fällen (wie der medizinischen Forschung) wird aufgrund des in der Gesellschaft bestehenden Wertepluralismus die Einführung staatlicher Richtlinien, die ja von einem bestimmten moralischen Grundsatz ausgehen müßten, abgelehnt.Vgl. „Freitag“ Nr. 11/1994: „Freiheit der Forschung oder Schutz der Patienten“.
(7) Auch Hegel hatte in Sokrates' Einmisching in den traditionellen Generationenzusammenhang innerhalb der Familie einen tatsächlichen Verstoß gegen das athenische Leben gesehen und damit auch die Anklage durch die Athener als „vollkommen begründet“ und die Verurteilung des Sokrates als folgerichtig (Hegel, 503-508). Da für ihn im Prinzip der Selbstreflexion gegenüber dem der traditionellen Sittlichkeit die bessere Rechtsordnung vertreten ist, kann er Sokrates' Position jedoch gegen seine Ankläger verteidigen.
(8) Kants Gedanke läßt sich mit anderen Begriffen in Mendelsohns Aufsatz „Über die Frage: was heißt aufklären?“ (1784) finden, wo die Differenzierung des Menschen als Mensch (Allgemeinwesen) und Bürger (das Individuum im sozialen Kontext) mit ähnlichen Freiheitseinschränkungen einhergeht.
(9) Gernot Böhme nennt das Daimonion zu recht das zweite Proprium des Sokrates neben dem Nichtwissen (Böhme, 160). Es ist aber fraglich, ob es genügt, das Daimonion nur als Hindernis gegen Sokrates' Handlungsimpulse zu verstehen (ebd. 164f.). Böhme bezieht sich auf Sokrates`eigene Auskunft, die Stimme seines Daimonions habe ihm immer nur von etwas abgeraten, nie zu etwas zugeredet (Apologie. 31c-d). Wenn das Daimonion solcherart eine Entscheidungsinstanz für Sokrates ist, kann er sich freilich nicht nur auf dessen Nein, sondern ebenso auf das Nein zum Nein als ein Ja berufen. Sokrates tut dies auch, indem er am Ende des Prozesses das Ausbleiben dieser widersprechenden Stimme während der Verhandlung als Zustimmung zu allem, was er an diesem Tag tat und sagte, versteht (Apologie. 40a-b). Ich sehe gegen Böhme im Daimonion nicht ein Handlungshindernis, sondern eine Handlungslegitimation bzw., wie Böhme auch nahelegt, das „Gewissen“ (125).
(10) Sokrates läßt in einer Fiktion für den Fall seiner Flucht die Gesetze ihn fragen: „Ist es nicht so, daß du durch diese Tat, welche du unternimmst, uns, den Gesetzen, und also dem ganzen Staat den Untergang zu bereiten gedenkst, soviel an dir ist? Oder dünkt es dich möglich, daß jener Staat noch bestehe und nicht in gänzliche Zerrüttung gerate, in welchem die abgetanen Rechtssachen keine Kraft haben, sondern von Einzelmännern können ungültig gemacht und umgestoßen werden?“ (Kriton. 50a-b).
(11) Als Foucault 1967 als Professor in Tunis Augenzeuge der propalästinensischen Studentenbewegung und der antisemitischen Unruhen wird, sieht er die Wahrheit durchaus nicht eindeutig auf der Seite der marxistischen/trotzkistischen Studenten. Dennoch protestiert er gegen die Verhaftung und Folterung seiner Studenten, gewährt ihnen Unterschlupf, läßt sie in seinem Haus Flugblätter herstellen und setzt sich für sie ein, so daß die tunesische Polizei ihm auflauert und ihn zusammenschlägt. (Vgl. Didier Eribon, Michel Foucault. Eine Biographie, Frank./M. 1993, S. 273-277.)
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