Die Ostdeutschen und Russland

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In den Medien wird in aus meiner Sicht unerträglicher, penetranter Weise nahezu ununterbrochen beschrieben, „warum viele Menschen im Osten sich Russland offenbar noch immer so nah fühlen“ (TLZ vom 24.10. 22.). Dabei werden keine konkreten fachlichen, politischen, persönlichen oder anderen Argumente angeführt, die eine solche Aussage rechtfertigen. Mein Eindruck ist, dass aus mir nicht erschließbaren Gründen die nur wenigen Prozentpunkte ausmachende unterschiedliche Meinung zwischen den Deutschen in Ost und West genutzt wird, um eigene politische Interessen voranzubringen und den objektiv schwierigen Weg der Gestaltung einer weitgehend angeglichenen Arbeits- und Lebenswelt zu stören, Öl ins Feuer zu gießen, auch wenn die Flamme nur klein ist. Ich glaube ohnehin, dies ist ein Generationenproblem.

Ich habe 1945 als 8-jähriger Junge das Ende des Krieges in einem kleinen Ort im Spreewald erlebt; wir standen auf der Straße und hofften, dass „die Amerikaner“ kommen, es kamen jedoch die sowjetischen Truppen, die das Land besetzten und bis 1994 blieben. Wir hatten damals Angst.

Nach Angaben der Zeitschrift „Welt“ vom 29.3.2019 befanden sich in den späten 1980er-Jahren in den etwa 620 Standorten in der DDR rund 340.000 Soldaten und etwas mehr als 200.000 zivile Angehörige. Diese Personen verhielten sich sehr unauffällig, waren im Stadtbild weitgehend nicht sichtbar, sie haben uns nichts getan, manchmal geholfen. Das durch sie gefestigte politische System hat allerdings maßgebend zu einer Beeinflussung des täglichen Lebens in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht geführt. Zunehmend galten Einschränkungen bzw. Verbote für Literatur, Musik, Radio und Fernsehen, Gestaltung und Inhalte von Veranstaltungen, Reisen etc .

Die Panzer der Sowjetarmee verhinderten am 17. Juni 1953 (ich war in der 10. Klasse der Oberschule) in Berlin und vielen anderen Städten der DDR eine von der Bevölkerung gewünschte gesellschaftliche Veränderung; Ähnliches geschah 1956 in Ungarn und 1968 in Prag („Prager Frühling“).

Ab der 5. Klasse erfolgte bis zum Abitur ein Unterricht in russischer Sprache, der wenig beliebt war, auch weil eine aktive Anwendung nicht möglich war. Wir lasen in der Schule „Neuland unterm Pflug“, „Wie der Stahl gehärtet wurde“ u.a. Später haben wir nicht staatlich verordnet, sondern im familiären und privaten Kreis die klassische russische Literatur, Theater, Musik etc. kennen und lieben gelernt und viel Verständnis und Mitgefühl für die russischen Soldaten in Deutschland wie auch für die Menschen in ihrer Heimat aufgebracht, das politische System und seine 6 Führer während der 45 Jahre Besatzungszeit haben wir außer Herrn Gorbatschow jedoch verachtet und abgelehnt.

Wir wurden, wie die meisten Menschen, fast gezwungen, Mitglied der „Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft“ zu sein. Freundschaftliche Begegnungen, Gedankenaustausch auf der privaten Ebene gab es aber für uns nicht, die Reisemöglichkeiten in die Sowjetunion waren sehr begrenzt und standen unter Aufsicht. Wie sollte die Freundschaft lebendig entwickelt und gelebt werden?

Im Folgenden führe ich einige Argumente aus unseren Erfahrungen an, die belegen sollen, dass von einem „noch immer so nah fühlen“ (was heißt das eigentlich!) keine Rede sein kann, da dieses Gefühl eigentlich nie bestanden hat und, soweit ich das beurteilen kann, aus meiner Sicht nicht erwünscht war.

-Mit großen Anstrengungen und nur mit externer Hilfe haben wir es geschafft, dass unsere Tochter ab der 3. Klasse in die Russisch-Spezialschule in Jena aufgenommen wurde. Unsere Bemühungen, in den folgenden Jahren einen Austausch mit einem russischen Kind zu bewerkstelligen, waren ergebnislos. Meine Frau und ich sind deshalb aus der „Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft“ ausgetreten.

-Eine russische Ärztin, Ehefrau eines hohen Offiziers der Jenaer Garnison, kam in meine Behandlung und es entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung. Dieses Ehepaar durfte weder uns zu Hause noch wir sie in ihrer Wohnung in Jena besuchen, wir trafen uns auf neutralem Boden.

Ein Kontakt ihrer mit unserer gleichaltrigen Tochter war nicht erlaubt. 1990 habe ich der Tochter mit großen Mühen einschließlich eines Briefes an den damaligen Außenminister Genscher und den deutschen Botschafter in Moskau ein Visum und ein Semester des Studiums der Germanistik in Jena auf meine Kosten ermöglicht.

-Die Fußballmannschaft der Ärzte des Universitätsklinikums Jena, der ich angehörte, durfte zweimal gegen eine Mannschaft der sowjetischen Garnison spielen. Ein anschließendes, kurzes, gemütliches Beisammensein mit Bratwurst und Bier war nur möglich, wenn der verantwortliche Offizier es gestattete, der dann außerhalb der Gaststätte mit Schnaps versorgt wartete.

-Ab Anfang der 1980er Jahre wurde nach der Habilitation zum Erhalt der Dozentur, wie wir damals ironisch sagten eine „Adelung“, ein Aufenthalt in einer wissenschaftlichen Institution der Sowjetunion erforderlich. Einer meiner Mitarbeiter ging nach einem mehrmonatigen Russisch-Intensivkurs an eine renommierte Nephrologische Klinik in Moskau unter der Leitung von Frau Prof. Maria Rattner, einer klugen, kulturvollen Dame mit guten Deutschkenntnissen. Eine fachliche oder wissenschaftliche Bereicherung war dieser Aufenthalt nicht, da die internationale Verflechtung, Zugang zur Literatur und Teilnahme an internationalen wissenschaftlichen Veranstaltungen wie bei uns sehr begrenzt war. Eine wissenschaftliche Kooperation zwischen unseren beiden Einrichtungen konnte nicht entwickelt werden.

-Ab Mitte der 1950er Jahre wurden in Lübbenau und Vetschau 2 große Kraftwerke gebaut, die auf der Grundlage von russischem Erdöl die Wärme und Energie in der Region absichern sollten. Von sowjetischer Seite wurden jedoch kurzfristig die Erdöllieferungen drastisch reduziert und, wie Eingeweihte mitteilten. auch von minderer Qualität („im Winter mussten wir das Erdöl fast aus den Rohren hacken“), geliefert, sodass diese Kraftwerke mit lokaler Braunkohle betrieben werden mussten, wodurch die Lausitz zu einem ausgedehnten Kohlerevier wurde, das in der Perspektive eine Ausdehnung bis Cottbus und Leipzig vorsah. Es entstand der Energiebezirk Cottbus.

Uns haben diese Erlebnisse nicht zur Missachtung verleitet oder gar zu Gegnern „der Russen“gemacht. Die „sowjetischen Freunde“, Menschen, deren Namen und Beruf wir nicht kannten und die keineswegs als Feinde, aber „von oben“ gewollt auch nicht als Freunde mit uns verkehrt haben/verkehren durften wie auch die in deren Heimat lebenden Menschen, deren Lebensstandard wir durch Besuche und Berichte einigermaßen kannten, haben uns leidgetan.

Aber wir waren auch nicht willens, diese aufgezwungene politische Unmündigkeit und die Lebens-und Handlungseinschränkungen zu bejubeln und zu akzeptieren, vielmehr wollten wir insbesondere für unseren Nachwuchs ein besseres, freies Leben in der Gemeinschaft der Völker ermöglichen. Dies ist „Gott sei Dank“ 1989 gelungen.

Ein friedliches und möglichst freundschaftliches, vor allem frei von Kriegen geführtes Zusammenleben mit allen Völkern, die dies auch wünschen, war und ist unser Ideal und war unsere große Hoffnung nach 1989. Dieses ist leider nicht zu verwirklichen, wenn autoritäre Regierungen dies verhindern und sogar mit Gewalt und Krieg ihre Ideologie durchzusetzen versuchen. In diesem Sinne haben die „Ostdeutschen“ vielleicht etwas mehr Verständnis für die russischen Menschen als die „Westdeutschen“, sie sind jedoch in der Mehrzahl keineswegs „Putinversteher“ (ein fürchterliches Wort!), also Befürworter der von ihm dem Volk aufgezwungenen Lebensweise und schon gar nicht mit dem von ihm veranlassten militärischen Überfall auf ein freies Land wie die Ukraine.

Autoritäre Herrscher wie Herr Putin dienen nicht dem Wohl ihres Volkes und dem friedlichen Zusammenleben der Völker, sondern befriedigen ihr pathologisches Ego, missbrauchen die Macht und bereichern sich auf Kosten ihrer Bevölkerung. Dafür haben wir auch als „Ostdeutsche“ kein Verständnis!

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