“Car le tragique n´est pas une épreuve parmi beaucoup d´autres, il est l´épreuve par excellence de l´exister comme homme.”[1] (François Chirpaz)
Dieser Essay behandelt die These, dass eine Renaissance des tragischen Denkens in unserer abendländischen Kultur notwendig ist und dieses Denken allein die nötige Schlagkraft hat, um den Vigor des Abendlandes neu zu entfachen, welcher in Zeiten der allgegenwärtigen Weltwirtschaftskrise besonders leidet. Selbstverständlich stellen sich sogleich Fragen, die geklärt werden sollen: Zum einen, warum und wofür das tragische Denken notwendig sein soll, zum anderen, was das tragische Denken von anderen Arten des Denkens unterscheidet und auszeichnet. Schon eine Definition des „Tragischen“ stellt sich eine große Herausforderung dar. Aus diesem Grund versucht der vorliegende Aufsatz, die Fragestellungenaus einem hermeneutischen Blickwinkel zu erörtern.
Inwiefern ist das tragische Denken für uns (post)modernen Menschen von Bedeutung? Hat es überhaupt eine? Es scheint so zu sein, wenn man sich die Mühe macht, den Blick in diverse philosophische Magazine zu werfen, in welchen doch tatsächlich, in einigen Fällen recht umfangreich, auf die Bedeutung des Tragischen für die bestehende(n) Lebenswelt(en) Rücksicht genommen wird. So findet sich im französischen Philosophie Magazine No. 10[2] ein interessantes Interview zwischen einem Philosophen, Clément Rosset, und einem Kunsthistoriker, Jean Clair, das es wert ist, in diese Diskussion aufgenommen zu werden. Jean Clair eröffnet das Interview mit Clément Rosset:
„Heutzutage ist die Melancholie durch stetiges Klagen ersetzt worden. Da ist, was die Psychoanalytiker den ganzen Tag in ihrem Kabinett hören: von den Leuten, die einen Coach brauchen, um am Morgen aufzustehen! Das verrät eine intellektuell und materiell unterstützte, zu Infantilismus und zur Sterilität verurteilte Gesellschaft. Denken ist schmerzhaft, besser man schaut fern.“
Clément Rosset fährt fort:
„Der Ausgangspunkt meiner Philosophie ist das Bewusstsein des Tragischen der Existenz. Alles ist dazu bestimmt zu verschwinden, der Tod umgibt uns und wir sind durch unsere Inkonsistenz bedroht. Oder man lehnt das Tragische und den Tod ab. Und diese Ablehnung des Tragischen, also der Realität, bezahlt man teuer. Umgekehrt ist die Kapazität, den tragischen Teil des Realen wieder zu etablieren, für mich der Prüfstein der moralischen Gesundheit und der Freude. Man muss mit dem Tragischen zu leben lernen. Man kann übrigens zwei Achsen in der Geschichte der Philosophie unterscheiden, die Philosophen, welche dem Tragischen Recht geben – Pascal, Nietzsche… – und diese, welche alles tun, um es (das Tragische) durch die Rationalisierung der Welt zu beseitigen – Platon, Kant, Hegel…“
Die Philosophie jeder Kultur, vor allem der jeweils bestimmenden, färbt das Denken der Menschen in ihr und so müssen wir fragen, ob wir momentan in einer “èpoque tragique ou antitragique” leben? Das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Das Tragische scheint sich unter den momentanen Lebensbedingungen und der ideologischen Instabilität, sowohl sozial-politisch als auch religiös-moralisch, wieder einen Platz, zumindest im philosophischen Kontext, zu sichern. Zumindest scheinen die neueren Publikationen auf diesem Sektor ein Indiz dafür zu sein. Die Autoren dieses Sektors befinden sich zumeist nahe an Esoterik und New-Age-Philosophy; auf jeden Fall sprechen ihre hohen Verkaufszahlen für ein aufnahmebereites (westliches) Publikum. So kritisiert beispielsweise Charles Pépin, im Citizen K International in seinem Artikel “Contre la philothérapie”[3], die Degradierung der Philosophie zur schlichten Selbst- und Lebenshilfe im Alltag:
“Die offizielle Rede ist, dass die Philosophie “glücklich macht“, nicht dass sie diese komplexe, beschwerliche oder verzweifelte Zerlegung des Rätsels der Wirklichkeit ist, sondern eine Kompilation von Rezepten, die zum Glück führen sollen, eine Art von Philotherapie. […] Sie ist als eine beruhigende Weisheit verkauft worden, währenddessen sie mit einer gefährlichen Praxis des Staunens verwandt sein könnte.Keine Erwähnung, selbstverständlich, von der Definition der Philosophie als Schöpfung von Konzepten oder von den Schicksalen all jener Philosophen, die Selbstmord begangen haben, all jenen depressiven, pessimistischen oder tiefen Schmerz empfindenden Philosophen. […] Sie (die Philosophie) macht vielleicht lebendiger, aber nicht glücklicher. […] und wenn (die Leser) einfach versuchten sich zu kultivieren? Zu entdecken, dass es andere Schicksale, andere Arten zu leben und zu denken gibt? Zu entdecken, dass die Geschichte der Philosophie nicht einfach ein Heilmittel gegen den Stress ist?“
Weiter stellt sich die Frage, ob dem Tragischen überhaupt eine Existenzberechtigung zugesprochen wird oder das “Tragische” geleugnet wird: Wird das Tragische bejaht oder verneint, verdrängt oder akzeptiert? An dieser Stelle möchte ich den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche besonders hervorheben, der sich für eine Renaissance des Tragischen eingesetzt hat und die Bedeutung des Tragischen für die menschliche Existenz hervorgehoben hat. Zahlreiche seiner Schriften beweisen dies, unter anderem Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik aus Nietzsches früher Schaffensperiode. Dieser Philosoph soll deshalb als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen genommen werden.
Nietzsche fasst die Welt als “tragisch” auf; die tragische Weisheit ist wahrhaftig und reflektiert die wahre “Natur” der Wirklichkeit und das “Wesen“ der Welt. Darauf bezogen schreibt Nietzsche in Die Geburt der Tragödie: “Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine Uebersetzung der instinctiv unbewussten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der Held, die höchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht berührt wird.”[4]Nietzsche schreibt weiter: “Wir sollen erkennen wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergang bereit sein muss, wir werden gezwungen, in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken -.”[5] Nietzsche misst den Wert jeder Philosophie, vor allem jedes Philosophen, an der Fähigkeit mit dem Tragischen umgehen und sich dem Tragischen stellen zu können. Daher die Frage und gleichzeitig der Appell: Wo sind die Philosophen der Postmoderne, die sich dem Tragischen stellen können, die eine Renaissance des Tragischen einleiten können – sowohl als Lebensprinzip als auch als Prinzip des künstlerischen Schaffens.
Die Entscheidung, ob das Tragische als ein Lebensprinzip anerkannt oder geleugnet wird, führt Nietzsche zur Auseinandersetzung mit Sokrates und, im weiteren Sinne, mit dem Dramatiker Euripides. Sokrates sowie Euripides negieren beziehungsweise verkennen den Gehalt des “Tragischen”, der (klassischen) Tragödie an sich, also das Ungewisse/Ungeheure/Unaufhellbare der Existenz, das sich in der Tragödie andeutet. “Das Ungeheuere verliert sich in dem euripideisch-sokratischen Glauben an den “Verstand als die eigentliche Wurzel alles Genießens und Schaffens”. Gerade von diesem schlechthin Unaufhellbaren aber bezieht Nietzsches Denken in allen seinen Phasen seine Stoßkraft.”[6]
Schopenhauer ist für diesen Diskurs relevant. Dieser Philosoph ”sieht”, wie Nietzsche, das Tragische, nur ist sein Umgang mit dieser Erkenntnis ausschließlich pessimistisch. Schopenhauer plädiert für die Negation des Willens (zum bloßen Sein)[7], während Nietzsche diesen Willen zu bejahenempfiehlt. Nietzsche bejaht die menschliche Existenz in ihrer umfassenden Tragik, in ihrem Leid und in ihrer Lust. “Viele meinten, Nietzsche sei in seinem ersten Buch ein blinder Anhänger Schopenhauers gewesen – tatsächlich hat er aber in der griechischen Kunst ein Bollwerk gegen den Pessimismus Schopenhauers entdeckt.”[8] Denn die Bändigung des Schreckens, des Leidens, durch die Kunst ist ein weiterer wesentlicher Punkt um Nietzsches ästhetische Konzeptionen verstehen zu können. Es muss betont werden, dass diese “Bändigung” nicht in der schopenhauerischen “Resignation” endet, sondern in einer Affirmation des Lebens “[…] durch die Hervorbringung von Kunstwerken […]”[9]. Der Sinn einer Renaissance des tragischen Denkens ist nicht der Verfall in einen aussichtslosen und passiven Pessimismus, sondern vielmehr der Versuch der Akzeptanz des Tragischen jeder menschlichen Existenz. Durch dessen Annahme können wir viel gewinnen: Zum einen unsere Solidarität, zum anderen unsere individuelle Würde. Alle tragischen Philosophen teilen uns das Folgende mit: Wir müssen uns in unserer Existenz bewähren, wir müssen uns dem Tragischen stellen. Die Renaissance des Tragischen kann den (vor allem in der westlichen Welt) vorherrschenden Nihilismus ausrotten, damit wir eine Welt schaffen können, indem es Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit gibt, und in der wir etwas finden können, wofür es sich zu leben lohnt.
Abschließend ist noch einmal auf das weiter oben zitierte Interview hinzuweisen und dessen Konklusion festzuhalten. Clément Rosset enthält sich im Gespräch mit dem Philosophie Magazine eines Urteils, jedoch nicht eines abschließenden Kommentars, welches Nietzsche entspricht: „Die Augen vor der Tragödie zu schließen ist eine sehr schlechte Methode gegenüber sich selbst. Aber dass das, global, eine heute geläufigere Weise als gestern ist, dessen bin ich nicht sicher. Ich denke, dass man zugleich pessimistisch und vollkommen heiter sein muss.“
[1] CHIRPAZ, Francois: 2003. Dire le tragique. IN: Corinne Hoogaert [Hrsg.]: Rhétoriques des latragédie. S. 13. [Denn das Tragische ist nicht eine Empfindung untervielen anderen, es ist dieEmpfindung des Existierens als Mensch par excellence.]
[2]PHILOSOPHIE MAGAZINE Nr.10, Juin 2007, Crises existentielles. Elles rythment notre vie. Paris:MédiaObs, S. 53.
[3]CITIZEN K INTERNATIONAL, Numéro XLIII, Été 2007, Carla Bruni, L´Ensorceleuse, Paris: LeGrand Kapital SAS, S. 83.
[4]Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 108.
[5]ebda, S. 109.
[6]Ursula Schneider, Grundzüge einer Philosophie des Glücks bei Nietzsche, S. 30.
[7]Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 385-575.
[8]Walter Kaufmann, Nietzsche, S. 152.
[9]ebda, S. 152.
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