Die neue Unübersichtlichkeit – Zwischen Seelenheil undemotionaler Verdammung

Eine Anmerkung zu Frank Schirrmachers „Payback“

Nicht nur Jürgen Habermas beklagte einst die neue Unübersichtlichkeit, die reklamierte, daß die Zeit von einfachen Problemlösungen vorüber sei. Auch im neuen Buch von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher geht es um eine neue Form der Unübersichtlichkeit, nur eben nicht um eine politische, sondern um eine mediale. Und keineswegs liest sich sein neues „Payback“ so, wie einst noch Martin Heidegger, Hölderlin zitierend, glaubte, daß mit der Gefahr auch das Rettende wächst. Schirrmachers Prognose für die Welt im medialen Zeitalter ist bisweilen düster, tritt in die Nachfolge von Huxley und Orwell, ja, schreibt gewissermaßen Huxleys dystoptischen Roman „Schöne neue Welt“ bis in die Gegenwart hinein fort.
Nur sind es nicht physische Manipulationen, die, wie Huxley meinte, den Weg in eine utopische Gesellschaft, wo Stabilität, Frieden und Freiheit gewährleistet werden, bahnen, sondern ein bisher nie da gewesenes Urvertrauen in die Welt der digitalen Medien, das um den Preis der eigenen Freiheit erkauft wird. Dieses Sich-Überantworten an ein mediales Über-Ich, das sowohl die Freizeit, den freien Willen als auch die selbstbestimmte Existenz reguliert, zeitlich limitiert und in radikalste Abhängigkeiten wirft, liegt quasi in der Selbst-Verortung des modernen Subjektes, das gar nicht (oder meint dies) anders kann, als sich medial zu bestimmen.
Für Schirrmacher ist das moderne Ich dann auch ein Informationsmessi oder „Informationsfresser“, der sich quasi aus freiem Willen auf die Fremdbestimmung seitens des World Wide Webs einläßt, wobei ihm sein antrainiertes, vor Jahren noch als Merkmal des „idealen Menschen“ gepriesenes Multitasking permanent in die Freiheitsfalle führt. Multitasking sieht dann Schirrmacher auch als eine Art Körperverletzung, die nicht nur zu Selbstüberforderung und chronischen Konzentrationsstörungen führt, sondern gerade das zerstört, was immer noch zum ureigenen Wesenskern des Individuums gehört – seine Empathie, die Gabe der Überraschung und vor allem seine Unberechenbarkeit, die ihm seine Überlegenheit über die gestrenge Algorithmen-Welt sichert. Allein diese Unberechenbarkeit und kritische Distanz vermögen dem digital gestreßten Menschen allein noch das Gefühl seiner Autonomie zu sichern, sonst verkommt er in der Informationsflut.
Anstatt die mediale Welt zu beherrschen, sich, wie Jahrhunderte lang, über die Maschinen zu stellen, reißt sich das moderne Subjekt zusehend in den Strudel oft sinnloser Informationen, wobei es nichts anderes wird, als die reproduzierende Maschine, was letztendlich dazu führt, daß nicht mehr das Ich den Computer regiert, sondern vielmehr von diesem aufgefressen und manipuliert wird. Aus diesem Befund zieht Schirrmacher dann folglich den Schluß, daß die menschliche Kreativität, Spontaneität, Toleranz, Geistesgegenwart und Individualität sukzessive einem Menschenbild Platz machen, durch das nicht nur alle Individualität verlustig geht, sondern wodurch sich das Individuum bewußt als L`homme maschine begreifen will, ja, in diesem Maschinensein, wie noch einst von Gilles Deleuze und Félix Guattari programmatisch für den künftigen Menschen gefordert, seine ganz neue Weise der Existenz feiert.
Wurde im Industriezeitalter des 19. und 20. Jahrhunderts diese Tendenz zur Maschinisierung des Subjektes schon vorbereitet, wird das Computerzeitalter – und in naher Zukunft das Echtzeit-Internet – diese multidimensionale Einbahnstraße weiter fortführen, bis – im extremsten Fall – zur Selbstaufgabe des Menschen. Diese Reduktion auf eine von Algorithmen durch funktionalisierte Welt schließt zwangsläufig mit ein, daß die Seele und der Intellekt immer mehr verkümmern und letztendlich nur das abgerufen wird, was mit der Welt der Rechner kompatibel ist. Schließlich, und darauf weist Schirrmacher in aller Deutlichkeit hin, führt die mediale Anbiederung an das Informationssystem zu einer sukzessiven Anpassung des Gehirns an die mechanisierte Welt der Computer. Die Informationsüberflutung impliziert nicht nur eine Veränderung unserer Gedächtnisleistungen, zerstreut und vermindert die Aufmerksamkeit des Klienten, die vom System existentiell strapaziert werden, sondern führt zu einer strukturellen Umformung des Gehirns selbst, was schließlich eine neue und unbekannte Art von Intelligenz hinaufbeschwören wird, eine Intelligenz von bisher unbekanntem Maßstab, der neue Gott als Programmierer und der Computer als sein williger Vollstrecker, eine Intelligenz aber auch, die, wie Schirrmacher in seiner „Heuristik der Furcht“ hervorhebt, gar nicht wünschenswert sein kann. „Was wir im Augenblick als geistige Überforderung mit den neuen Technologien bei gleichzeitiger körperlicher Lust an ihnen erleben, sind nur die physischen Schmerzen, die uns die Anpassung an diese neue Intelligenz zufügt“.
Der neue Informationshimmel, die Google-Kathedrale des Wissens, ist letztendlich zum neuen Götzen geworden, der rückhaltlos angebetet, verehrt und mit immer neuen Informationen gefüttert wird. Der metaphysische Ideenhimmel ist schon längst durch diese neue Intelligenz verdrängt, die aber eine derartige Faszinationskraft auf das Individuum auszuüben vermag, daß sich dieses seinerseits geradezu wetteifernd auf die neue Technik einläßt, ein Darwinismus ganz anderer Art wird damit mit impliziert.
Schirrmacher spricht daher immer wieder von Taylorismus, jenes legendären Arbeitsoptimierens samt seiner inhumanen Effizienzmethoden, von Marxismus und Darwinismus, denn der Kampf ums Wissen ist ein Kampf um Leben und Tod, letztendlich einer, um in der medialen Welt bestehen und Überleben zu können. Der Bestinformierte ist nicht selten der Mächtigste, zumindest aber der Angepaßteste und damit der Überlebensfähigste. Doch mit diesem Darwinismus verbunden geht der Wahn des Kontrollverlustes einher, ein medial vermittelter Sozialstreß, der darauf hinausläuft, immer am besten informiert zu sein, die Angst aus der Kathedrale des Wissens verstoßen zu werden, „unser Wahn, aus Angst vor Kontrollverlust die Welt der Formeln, Systematiken und Algorithmen, kurzum in Mathematik zu verwandeln. Wir werden immer unfähiger, mit Unsicherheiten und Unwahrscheinlichkeiten umzugehen“, was auch eine permanente Alarmbereitschaft nach sich zieht, die aber, um ja nichts zu verpassen, um informell en vogue zu sein, eine freiwillige Unterwerfung unter die Befehle der Mikroprozessoren mit in Kauf nimmt. Diese Unterwerfung führt dann zwangsläufig zu einer Unterordnung des Menschen unter die Maschine, denn der „Angriffspunkt im heutigen, digitalen Taylorismus ist unser Gehirn“.
Wohin diese Angst vor Kontrollverlust, das ständige Online-Sein führt, hat nicht nur Miriam Meckel in „Glück der Unerreichbarkeit“ drastisch beschrieben, sondern dies zeigt sich überall dort, wo die Schnelligkeit der Informationen, an die „Dromologie“ des Paul Virilio sei erinnert, zum geistigen Infarkt der Suchmaschine Hirn führt. Für Meckel war ihr Burnout der einzige Weg aus der Informationsfalle, wie sie es in ihrem neuen Buch „Brief an mein Leben, Erfahrungen mit einem Burnout“ in aller Dramatik beschreibt.
Das Glück zeitigt sich eben nur in der Unerreichbarkeit, nur muß dieses Glück gegen die Erreichbarkeit erkämpft, dieser abgerungen werden, worauf auch Schirrmacher hinweist, wenn er im Anschluß an Friedrich Schiller und an Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ auf den spielenden Umgang mit der medialen Technikwelt verweist. Wird die Informationsflut nicht von einem reflektierenden Ich dauernd gebremst, führt dies nicht nur zum krankhaften Ausbrennen, eben zum Burnout, sondern auch zu jener durch Multitasking gänzlich sich zerfasernden Persönlichkeit, die unkonzentriert sich in tausend Nebensächlichkeiten verliert, und die auch dann vor den Leistungsanforderungen kapituliert – also auch hier wieder Heidegger, nur diesmal die Technik und die Kehre.
Derzeit aber, so der kritische Befund Schirrmachers, laufe alles auf einen reinen Medienverzehr und -verkehr in diese Richtung hinaus, der bestürzende Folgen für den Menschen hat, und der sich in seiner radikalsten Form oft oder ausschließlich darauf beschränkt, daß einzig und allein der MacLuhansche Slogan, „Das Medium ist die Botschaft“, zum ultimativen Wegweiser durch die Irrungen und Wirrungen des Internets hochstilisiert wird. Was aber noch schlimmer als die bloße Message ist, ist die damit verbundene Selbstaufgabe des denkenden Ich, die sich sowohl im Verlust von Aufmerksamkeit als auch von Selbstbestimmtheit äußert. Maschine-Sein und Maschine-Werden, einst von eben jenem Deleuze als Begriffspersonen erfunden, zeigen nunmehr letztendlich, wohin ein rhizomatisches Denken führen kann, für Schirrmacher, soviel ist sicher, nicht zum Heil, denn der emotionale Gehalt verkürzt sich letztendlich nur auf die Botschaft, auf einen reinen Konsum, der sich medial veräußern läßt. Man lebt nicht, weil man dies oder jenes erfahren könnte, sondern weil sich dies oder jenes am besten zum medialen Ereignis hochgooglen läßt, der page rank liefert das neue Selbstbewußtsein, die Anerkennung im Netz der anonymen User. Blogger wie Airen und das Plagiat Hegemann wissen nur zu gut, wie sich derartige „Erfahrungen“ im Netz vermarkten lassen. Diese „Erfahrungen“ werden aber nicht gemacht, weil sie einem im Verlauf des Leben zustoßen, sie werden geradezu initiiert, weil sie von der Community vorgelebt, erwartet und letztendlich auch goutiert werden, man ist „in“, die mediale Welt bestimmt das Selbst-Bewußtsein.
Letztendlich zeigt Schirrmacher anschaulich, daß die in „Payback“ beschriebene kognitive, und durch das Internet eingeleitete Revolution, keineswegs Science-Fiction ist, denn wir sind bereits inmitten dieses Verwandlungsprozesses angekommen, wie einst Gregor Samsa in Kafkas „Die Verwandlung“. Die desaströsen Folgeerscheinungen einer auf die Onlinemedien zugeschnittenen Existenz sind auch nicht übersehbar – Ablenkung um jeden Preis, reduzierte Aufmerksamkeit und Interesse, die zunehmende Flucht in die Skipte, in die Regularien und Algorithmen, die Mathematisierung des Lebens, die Umstrukturierung des Denkens in den berechenbaren Algorithmus.
Um dem Desaster des Aufgefressenwerdens zu entkommen, empfiehlt dann Schirrmacher auch in Anschluß an Roger Penrose die Konzentration auf jene menschlichen und diesem unveräußerlichen Eigenschaften, auf das Moment der Überraschung, auf das Sich-Einlassen auf das Ungewisse und die Nichtberechenbarkeiten, auf das, was der Computer nicht verarbeiten kann. Bereits der Computerpionier John von Neumann wußte: „Wir müssen die Tatsache wieder und wieder betonen, daß kein existierender Computer zuverlässig auf einem so niedrigen Präzisionsniveau arbeiten kann, wie das menschliche Hirn.“ Und Schirrmacher fügt an: „Es kann deshalb – anders als der Computer – eben auch viel besser auf Unerwartetes reagieren.“ Es bleibt dabei: Vor der Google-Manie, Facebook und Twitter kann man sich entsagend nur distanzieren, wenn man ganz kantisch wieder den Mut aufbringt, seinem eigenen Verstand zu folgen. Das probate Heilmittel, um aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu fliehen, ist auch im 21. Jahrhundert nicht anders denn, als Aufklärung zu leisten.

Frank Schirrmacher, Payback, Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, war wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen, Karl Blessing Verlag München, München 2009, ISBN: 978-3.89667-336-7, Preis: 17,95 Euro.

Miriam Meckel, Brief an mein Leben, Erfahrungen mit einem Burnout, Rowohlt VerlagGmbH, Reinbek bei Hamburg 2010, ISBN: 978-3-498-04516-6, Preis: 18,95 Euro.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2157 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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