„Das Böse ist der Stuhl des Guten.“ Diese Worte von Israel ben Elieser, genannt Baal Schem Tow, der als Begründer der chassidischen Bewegung innerhalb des religiösen Judentums gilt, hat Rebecca Miller ihrem Roman voran- und – das wird nach Zuschlagen der letzten Seite deutlich – auch als Leitmotiv gesetzt. Dies klingt zunächst recht streng und unheilverkündend, zumal auch das zweite Eingangszitat aus Tennessee Williams Theaterstück „Orpheus steigt herab“ etwas dunkel Bedrohliches in seinem tieferen Sinn offenbart. Wer die Aufführung dieses Stückes kennt oder darüber gelesen hat, der weiß um den düsteren Einstieg, in dem zwei weiße Männer in einem Kramladen, tief im amerikanischen Süden, stehen. Der eine von ihnen sucht einen soliden Strick, kräftig genug, um einen Menschen daran aufzuhängen. Der andere beruhigt ihn: „Die Bluthunde werden ganze Arbeit machen.“ Man wird den Strick nicht brauchen.
Ganz anders beginnt das jüngste – vorab: großartige – Werk der Tochter des wohl wichtigsten gesellschaftskritischen Dramatikers der neueren Zeit, Arthur Miller. Bei Rebecca Miller fliegt der Leser – im wahrsten Sinne des Wortes – nahezu insektenleicht durch die Seiten und erzeugt bei ihm, trotz aufziehender düsterer Wolken mit voranschreitendem Plot, immer wieder ein Schmunzeln…
Zum Inhalt: Ein junger Manns wird nach knapp dreihundert Jahren als zunächst nicht näher bestimmtes Wesen mit großen Facettenaugen wiedergeboren. Ursprünglich mit nur 31 Jahren 1773 in Paris gestorben, darf er nun durch das „gerissene Gewebe der Zeit“ steigen – Verzeihung, ich meinte natürlich fliegen – und wieder unter Menschen weilen. Im New York der Gegenwart schwebt er mehr oder weniger sanft herab, um sich fortan an die Fersen bzw. unter den Kragen zweier auserwählter Personen zu heften, deren zuvor recht beschauliche und solide Lebenswege er nicht immer zum positiven, sondern nahezu dämonisch-fatal beeinflussen wird. Letztendlich stellt man sich beim Zuschlagen der letzten Seite nicht zu unrecht die Frage, inwiefern es um unseren freien Willen tatsächlich bestellt ist.
In wechselnden Kapiteln rollt die Autorin ein ganzes zeitgeschichtliches Panorama aus, das vor allem dem Leben der Pariser Juden im 18. Jahrhundert, aber auch der Entstehung eines Seitenzweiges – dem Chassidismus – bis hinein in deren zuweilen immer noch bestehende enge Traditionsverwurzelung in der heutigen Moderne gewidmet ist. Mit jeder Menge Esprit und Witz und – so gar nicht typisch amerikanisch – auch ab und an ziemlich derber und anzüglicher Direktheit, frei von jeglicher Prüderie, changiert sie gekonnt durch die Zeiten und gibt einen interessanten Einblick in vergangenes wie heutiges Leben. Ihre zwei Hauptprotagonisten – die einer traditionsreichen jüdischen Familie entstammende Masha Edelmann und der zuverlässig-rechtschaffene Feuerwehrmann Leslie Senzatimore – trudeln nach Aufschlagen der ehemaligen jüdischen Straßenhändlers und später in diverse Verstrickungen geratenen Jacob Cerf zunehmend konfuser, labiler und ratloser durch das Leben.
Rebecca Millers, durch Reinhild Böhnke flüssig und sehr gut lesbar ins Deutsche übertragenes „Jacobs wundersame Wiederkehr“ entpuppt sich als kaleidoskopische Geschichtenmaschine jüdischen, aber auch konfessionslosen Lebens. Ein Panorama unserer vielfältigen menschlichen Welten im Äußeren wie auch im Inneren. Denn letztendlich hat wohl ein jeder von uns einen Hang zum Bösen und einen mehr oder weniger schlummernden, selbstsüchtigen Teil im Inneren. Liebe, Vertrauen und Glaube stellt die Autorin gekonnt der Gier, dem Verlangen und dem Eigennutz gegenüber. Über allem schwebt das Damoklesschwert der Selbstbestimmung und die Macht des Schicksals, die beide in Gestalt des wiedergeborenen Jacob Cerf wie ein Paar Augen, zu einem protokollierenden Bewusstsein werden.
Fazit: Ein erfrischendes, charmant-witziges, aber auch emotional-aufwühlendes und vor allem herrlich unkompliziert-intelligentes Buch einer Autorin, mit einer unglaublich lebhaften und sensiblen Beobachtungsgabe. Erzählt mit Empathie und großem Einfühlungsvermögen entpuppt sich Rebecca Millers Roman als DIE Entdeckung im Frühjahr. Um noch einmal den eingangs erwähnten Tennessee Williams aufzugreifen, der sein Orpheus-Schauspiel einmal mit folgenden Worten kommentierte: „Ich habe niemals über ein Laster geschrieben, das ich nicht in mir selbst beobachtet habe“. Ob dies auch für Rebecca Williams gilt, darf spekuliert werden.
Rebecca Miller
Jacobs wundersame Wiederkehr
Aus dem Amerikanischen von Reinhild Böhnke
Titel der Originalausgabe: „Jacob's Folly“
S. Fischer Verlag (April 2015)
430 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100490215
ISBN-13: 978-3100490216
Preis: 22,99 EUR
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