Die List der Rishis – Telegrafie im alten Indien

Brighu, der Anführer der 7 Rishis. Bild: Thomas Ritter

Kanchipuram wird auch als die „Stadt der Tausend Tempel“ gerühmt. Zu ihren Glanzzeiten, als sie nacheinander die Hauptstadt der Reiche von Pallava, von Chola und die Residenz der Rajias von Viyajanagara war, traf diese Bezeichnung zweifellos vollkommen zu. Heute sind von den mehr als eintausend sakralen Bauwerken nur noch etwa 120 Tempel übriggeblieben. 

Der Tempelbau ist in Indien auch heute noch eine Form der Puja, also der Verehrung des Göttlichen durch ein Ritual, um den Göttern auf diese Weise näherzukommen. Dabei wird der Tempel gleichsam als eine Art dreidimensionales Mandala angesehen – als ein Mikrokosmos, der das Universum symbolisiert. Im Zentrum des Bauwerkes befindet sich stets das Abbild der zu verehrenden Gottheit, die mit Bildern ihres Gefolges in absteigender Rangfolge von innen nach außen umgeben wurde, so daß zugleich die göttliche Hierarchie sichtbar wird. Über dem Garbhagriha genannten Sitz der Gottheit erhebt sich der zentrale Tempelturm als Symbol des mythischen Berges Meru, der Achse des Universums.

Es heißt, daß vor mehr als tausend Jahren, als die meisten der Tempel erbaut wurden, die Rishis, Schöpfer der geheimnisvollen Palmblattbibliotheken und Erbauer der Vimanas, noch unter den Menschen weilten. In späteren Zeiten verschwanden sie, und mit ihnen ging auch das heilige Wissen um die Konstruktion und die Bedienung der fliegenden Maschinen verloren.

Dennoch ist das Vermächtnis der Rishis noch heute allgegenwärtig in der heiligen Tempelstadt. Der Besucher begegnet ihren Spuren auch im Sri Ekambaranatha Tempel. Dieses Heiligtum gehört zu den größten sakralen Bauten in Kanchipuram. Allein seine Grundfläche bedeckt neun Hektar Land. Der Tempel wird von einer gewaltigen Außenmauer aus Granit umgeben. Auch sein Gopuram, der Torturm, ist äußerst beeindruckend. Mit einer Höhe von mehr als sechzig Metern gehört der aus Granit erbaute, über und über mit Abbildern von Göttinnen, Göttern und Helden der indischen Mythologie bedeckte Koloß zu den größten Tempeltürmen von Kanchipuram. Der aus einem einzigen Granitblock geschnittene, wohl mindestens ein Dutzend Tonnen schwere Schlußstein des Gopuram mit seinen charakteristischen, an überdimensionale Spulen oder Kondensatoren erinnernden Verzierungen, wird nach den Fahrzeugen der indischen Gottheiten Vimana genannt. Im Innern des Tempels umgeben fünf weitere Einfriedungen den Zentralbau des Heiligtums und eine Tausend-Säulen-Halle, wie man sie in allen südindischen Hindu-Tempeln findet. In Wirklichkeit besteht diese Halle allerdings nur aus 540 mit überaus filigranen Steinmetzarbeiten geschmückten Granitsäulen, die allesamt Szenen aus dem Mahabharata, dem Ramajana und einigen weiteren indischen Epen darstellen. Von den Säulen und Erkern lächeln die hinduistischen Götter herab, aus Ecken und Winkeln grinsen fratzengesichtige Dämonen.

In diesem Tempel existiert ein Archiv, in dem Heilige Texte verwahrt werden. Dazu gehören neben historischen Überlieferungen auch yogische Lebensregeln und geheime Manuskripte, die magische Rituale beschreiben. Möglicherweise liegt hier auch immer noch die Urschrift der sagenhaften Palmblattbibliotheken verborgen. Fremden sind diese Bibliotheken verschlossen, ebenso wie Nicht-Hindus der Zutritt zum zentralen Heiligtum des Tempels untersagt ist. Vor gut einhundert Jahren kam ein Mann aus den USA auf seiner Reise durch Indien auch nach Kanchipuram. Er freundete sich mit einem Priester der Tempelschule an, den er während einer der damals recht häufigen Hungersnöte in seinen Bemühungen unterstützte, das schlimmste Leid der Bevölkerung zu lindern. Dieser Amerikaner suchte nach den Spuren einer versunkenen Hochkultur, von der er glaubte, daß sie einstmals im Gebiet des heutigen Pazifik existiert hätte. Als der Priester das überaus große Interesse des Fremden an der Vergangenheit erkannte, lehrte er ihn die alten Sprachen und machte ihm schließlich auch einen Teil jener uralten steinernen Platten zugänglich, deren eingemeißelte Texte vom Untergang jenes Landes berichteten, das der Amerikaner Mu nannte. Dieser Fremde, von dem die Priester des Tempels noch heute gern erzählen, war der Forscher und Schriftsteller James Churchward. Was er in dem geheimen Tempelarchiv zu sehen bekam, war möglicherweise ein Teil der Urschrift der Palmblattbibliotheken.

Ein merkwürdiges Gebilde steht inmitten des Tempelgeländes. Es handelt sich um einen mindestens fünf Meter hohen, mit Messingblech verkleideten Mast, der in seiner Form stark an den Trägermast einer Elektrizitäts- oder Telegrafenleitung erinnert. Selbst stilisierte Kondensatoren an den waagerecht verlaufenden Querträgern sind ohne weiteres erkennbar. Lediglich die Leitungen fehlen, ansonsten ist die Illusion eines technischen Bauwerkes perfekt. Doch winzige Glöckchen imitieren täuschend ähnlich das Klingen von Telegrafendrähten im Wind. Dies ist ein Victory Pillar, eine sogenannte Siegessäule. Sie findet sich in der einen oder anderen Form in jedem Tempel, der dem Gott Shiva geweiht ist. Diese Victory Pillars erinnern an den Sieg der Göttin Durga über die Dämonen. Durga ist im hinduistischen Glauben die Verkörperung der furchterregenden Seite von Parvati, der schönen und gütigen Tochter des Himalaja. Während Parvati als Gefährtin Shivas verehrt wird, handelt Durga selbständig und bekämpft die Dämonen der Unwissenheit und Falschheit mit ihrer ungezügelten Stärke.

Die Legende, welche zu Durgas Verehrung führte, wird auch im Durga Charitra – zu Deutsch „Durgas Taten“ -, einer der berühmtesten Mythen des Hinduismus, überliefert.

Zur Zeit der Götter und Rishis übte der gewaltige Dämon Mahishasura so strenge Askese, daß die Götter ihm fast unbegrenzte Macht verleihen mußten. Diesen Umstand gedachte der Dämon für seine Zwecke zu nutzen, denn er wollte den Göttern die Herrschaft über die Welt entreißen. So nahm er Büffelgestalt an und stürmte gegen die Tore des Himmels. Von seiner schrecklichen Macht und dem nachfolgenden Chaos waren die erzürnten Götter dermaßen überwältigt, daß sie Durga schufen, womit sie all ihre Kraft in einer einzigen Göttin vereinigten. Durga besiegte die Dämonenheere und vernichtete nach mörderischem Kampf schließlich auch Mahishasura.

Es heißt in der Legende, daß Durga und ihre Verbündeten nur deshalb siegten, weil sie sich über weite Strecken verständigen konnten, ohne daß die Dämonen in der Lage waren, diese Gespräche mitzuhören. Überall im Land standen damals diese Masten, die heute Siegessäulen genannt werden. Sie waren der Überlieferung nach durch metallene Drähte miteinander verbunden. Diese Konstruktion nutzen Durga und ihre Verbündeten – die Götter und Rishis -, um sich zu verständigen. So blieben ihre Pläne vor den Feinden geheim, und sie vermochten die entfesselten Dämonen zu schlagen. Die Konstruktion der Siegessäulen und die Idee der Verständigung durch die metallenen Drähte stammte von den Rishis, welche schließlich auch die Siegessäulen schufen. So hatten sie einen wesentlichen Anteil am Sieg über die Dämonen.

Betrachtet man die Konstruktion am oberen Ende des Mastes aus der Nähe, so ist die Ähnlichkeit mit einem modernen Telegrafenmast noch größer. Die beschriebene Legende paßt dazu. Was heute als Symbol des Sieges über einen bedrohlichen und möglicherweise nicht menschlichen Gegner der Menschheit verehrt wird, war einstmals Bestandteil einer technischen Anlage – eines umfangreichen Kommunikationssystemes, das in den Tagen der Vorzeit zumindest ganz Südindien und vielleicht noch weitere Teile des Subkontinentes umspannte.

Am Sockel der „Siegessäule“ sind in steinernen Reliefs Bildnisse der Gottheiten Shiva und Durga sowie Episoden des Kampfes gegen die Dämonenheere eingemeißelt. Wenige Meter davon entfernt findet sich die Darstellung des Dämonenherrschers Mahishasura. In der sakralen indischen Kunst ist die Abbildung Durgas auf ihrem mythischen Reittier, dem Löwen, im Kampf gegen den Büffeldämonen ein recht beliebtes Motiv. Meist erscheint Mahishasura als aggressiver, waffenschwingender Angreifer mit einem wilden, tierartigen Kopf. Auf moderneren Bildern führt der Dämon dann schon einmal ein Gewehr oder gar eine Kanone mit sich. Doch in Kanchipuram ist nichts von all dem zu sehen. Die Darstellung Mahishasuras im Sri Ekambaranatha Tempel ist eher abstrakter, um nicht zu sagen, technischer Natur.

Gegenüber der „Siegessäule“ steht ein etwa ein Meter hoher granitener Sockel, auf dem der Dämon plastisch in der Form einer Flugscheibe aus dem harten Stein modelliert ist.

Bis heute erinnert ein zehntägiges Tempelfest, das jedes Jahr im März abgehalten wird, an die Schlacht Durgas gegen die Dämonen. Während des Festes werden die Statuen von Durga und Mahishasura in einer rituellen Prozession durch den Tempel und die umgebenden Straßen getragen. Zum Abschluß dieses farbenprächtigen Umzuges platzieren die Priester dann die Abbilder des Dämonen und seiner Bezwingerin vis-à-vis im Abstand von mehreren Dutzend Metern an einem exponierten Platz auf dem Tempelhof, ganz in der Nähe des Victory Pillar. Anschließend wird die Schlacht zwischen Durga und den Dämonenheeren in Tänzen und Gesängen sowie durch das Abbrennen zahlloser Feuerwerkskörper dargestellt. Die farbigen Raketen werden solange auf das aus relativ leicht brennbaren Materialien hergestellte Abbild Mahishasuras abgefeuert, bis der Dämon in Flammen aufgeht. Dann feiert die Menge den Sieg Durgas über die Mächte der Finsternis. Besondere Beachtung bei diesem Geschehen verdient die Tatsache, daß jene bei der symbolischen Schlachtdarstellung verwendeten Feuerwerkskörper die mächtigen „Himmelspfeile“ darstellen sollen, welche Durga einst auf ihren Widersacher abfeuerte. In Anbetracht der Darstellung Mahishasuras in Form seiner Vimana fällt es nicht schwer, diese „Himmelspfeile“ als Raketengeschosse zu identifizieren, welche einst jenes Wesen vernichteten, das in die indische Mythologie als „Büffeldämon“ einging.

In den labyrinthischen Hallenkomplexen des Tempels erhellen vereinzelte Fackeln und Öllampen die ewige Dämmerung, und brennende Räucherstäbchen verströmen aromatische Düfte nach Sandelholz, Myrrhe und Amber. Doch im Halbdunkel dieser geheimnisvollen Räume sind die Wände und Säulen aus perfekt aufeinander gefügten zentnerschweren Granitblöcken nicht mehr so reich verziert wie in den äußeren Bereichen. Man hat eher das Gefühl, sich in einer leeren Fabrikhalle als durch die Säulengänge eines sakralen Bauwerkes zu bewegen. Die Hallen, Nischen und Arkaden wirken seltsam funktionell und lassen jede religiöse Prachtentfaltung vermissen. Diese Räume sollen den Bauwerken nachempfunden sein, in denen einst die Vimanas, die Fahrzeuge der Götter und Weisen, konstruiert und gebaut wurden. Tatsächlich lassen sich einige Bereiche des Sri Ekambaranatha Tempels auch ohne große Phantasie als Nachbauten von Verladerampen, Werkstätten und Hangars interpretieren.

In einer langen, vom Glanz zahlreicher Öllampen matt erhellten Galerie erwartet den Besucher dann etwas Besonderes. Entlang der Wände stehen auf niedrigen Sockeln Dutzende halbmeterhohe Statuen in seltsamen Gewändern. Auf den ersten Blick wirken sie alle menschlich – doch eben nur auf den ersten Blick. Es handelt sich um die Abbilder der Hohepriester des Sri Ekambaranatha Tempels. Alle Generationen, die seit dem Beginn des Tempelbaues vergangen sind, sollen hier verewigt sein.. Es sind mehr als siebzig, und die ältesten Darstellungen weisen trotz oder gerade wegen der großen Detailtreue allenfalls menschenähnliche Züge auf. Die Vertreter der ersten Generationen waren Rishis. Die Skulpturen der geheimnisvollen Schöpfer dieses Tempels, der Vimanas und der Palmblattbibliotheken tragen helmartige Kopfbedeckungen, und ihre darunter nur teilweise erkennbaren Gesichter haben etwas seltsam Fremdes an sich. Auch der schlanke und dennoch kraftvolle Körperbau wirkt beinahe reptiloid, ganz so, als ob es sich um amphibische Wesen handelt, deren Heimat das Meer und das feste Land zugleich gewesen ist. Über ihrer modern wirkenden Kleidung tragen sie Tornister geschultert, die entfernt an Sauerstoffgeräte, zugleich aber auch an militärisches Marschgepäck denken lassen. An den Koppeln, die sie um ihre Hüften geschnallt haben, hängen waffenähnliche Gegenstände. Mit dieser Ausrüstung und all den technisch anmutenden Utensilien sehen die Erbauer des Tempels ihren weltabgewandten, asketischen Nachfolgern späterer Priestergenerationen gänzlich unähnlich. Diese sind mit den typischen Abzeichen der Shivaiten – Dreizack, Trommel und den drei waagerechten Streifen auf der Stirn als Zeichen des asketischen Strebens nach Auslöschung der drei Unreinheiten Selbstsucht, eigennütziges Handeln und Maya (Illusion) – dargestellt. Die Rishis hingegen wirken nicht wie Priester, sondern wie Mitglieder einer Expedition, die unter extremen Bedingungen zu operieren gezwungen sind. Möglicherweise hatten diese Angehörigen einer präantiken Hochkultur ihre Heimat durch kriegerische Auseinandersetzungen und Naturkatastrophen verloren. So waren sie gezwungen, in einem fremden, unbekannten Land, bevölkert von Wesen, die ihnen mit Sicherheit nicht immer freundlich gesonnen waren, eine neue Heimat zu finden. Es ist nur allzu verständlich, daß sie sich hierzu all jener Gegenstände bedienten, die ihnen für dieses Unterfangen tauglich erschienen und, daß sie entsprechend ausgerüstet auftraten. In dieser Erscheinung blieben sie den Bewohnern des Landes in Erinnerung, die schließlich auch die Abbilder ihrer neuen Lehrmeister formten und so jene unsterblich werden ließen, die sich aus der Welt der Menschen schon längst wieder zurückgezogen hatten.

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Über Thomas Ritter 110 Artikel
Thomas Ritter, 1968 in Freital geboren, ist Autor und freier Mitarbeiter verschiedener grenzwissenschaftlicher und historischer Magazine. Thomas Ritter hat zahlreiche Bücher und Anthologien veröffentlicht. Außerdem veranstaltet er seit mehr als zwanzig Jahren Reisen auf den Spuren unserer Vorfahren zu rätselhaften Orten sowie zu den Mysterien unserer Zeit. Mit seiner Firma „Thomas Ritter Reiseservice“ hat er sich auf Kleingruppenreisen in Asien, dem Orient, Europa und Mittelamerika spezialisiert. Mehr Informationen auf: https://www.thomas-ritter-reisen.de Nach einer Ausbildung zum Stahlwerker im Edelstahlwerk Freital, der Erlangung der Hochschulreife und abgeleistetem Wehrdienst, studierte er Rechtswissenschaften und Geschichte an der TU Dresden von 1991 bis 1998. Seit 1990 unternimmt Thomas Ritter Studienreisen auf den Spuren früher Kulturen durch Europa und Asien.