In allen Ostgebieten des Deutschen Reiches, die 1945 polnischer Verwaltung unterstellt wurden, blieben Hunderttausende von Einheimischen zurück, die entweder die Flucht vor der „Roten Armee“ nicht angetreten hatten, oder aber unterwegs wieder umkehrten, weil der Winter zu streng war und die Flucht zu gefährlich. Der überwiegende Teil dieser Deutschen wurde in den Jahren 1946/48 ausgesiedelt oder vertrieben, ein kleiner Teil, der, freiwillig oder gezwungen, für den polnischen Nachkriegsstaat optiert hatte, durfte bleiben.
Im ersten Band der Buchreihe „Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950. Dokumente aus polnischen Archiven“ (Verlag Herder-Institut, Marburg 2000), der mit 728 Seiten der heutigen „Wojewodschaft Allenstein“ (Ermland und Masuren) gewidmet ist, kann man nachlesen, dass es dort 1945 noch 145 573 Deutsche gab, die im Sommer und Herbst 1945 als Erntehelfer eingesetzt wurden.
Unter den Deutschen, die 1945 in ihrer Heimat blieben und in den Folgejahren nicht ausgesiedelt wurden, gehörte auch der Landwirt August Roszig (1928-2017) aus dem Dorf Kotzargen bei Rastenburg, der am 10. Oktober 2017, im 89. Lebensjahr, auf dem Bauernhof seiner Eltern verstorben ist. Sein Schicksal steht für das Hunderter Ostpreußen, die auch nach dem Krieg dort geblieben waren, wo sie geboren wurden und aufgewachsen sind. Wer ihn einmal auf den Tagungen der „Masurischen Gesellschaft“ in Sensburg oder Kruttinnen erlebt hat, war begeistert über das breite Ostpreußisch, das er bis ins hohe Alter sprach und wofür er von den in Westdeutschland lebenden Ostpreußen, die nach Masuren reisten, bewundert wurde.
August Roßig (so die deutsche Schreibweise seines Nachnamens!) wurde am 23. Dezember 1928 in Kotzargen geboren. Als am 15. Januar 1945 die Einberufung zur „Wehrmacht“ erfolgte, war er gerade 16 Jahre alt. Die Reise von Sensburg nach Plock an der Weichsel, wo er sich melden sollte, dauerte drei Tage. Nun begann eine Irrfahrt durch das vor der Niederlage stehende Deutschland, die ihn über Thorn, Bromberg, Berlin, den Harz, Sachsen in russische Kriegsgefangenschaft führte, aus der er fliehen konnte. Sein einziges Ziel war, unversehrt heimzukehren nach Kotzargen, wofür er zwei Wochen brauchte und am 10. Juni 1945 eintraf.
Fast ein halbes Jahr war er weggewesen und erkannte sein Dorf kaum wieder. Seine Mutter, von der er erfuhr, dass seine Schwestern Helena (1925) und Irmgard (1926) nach Sibirien verschleppt worden waren, versteckte ihn vorerst in einem Vorratsraum, vor dessen Tür sie einen Schrank schob. Später erfuhr er, dass Schwester Irmgard im Sommer 1945 aus dem Lager entlassen worden war und bei Tante Greta in Berlin lebte. Auf dem Hof lebten jetzt seine Eltern, Bruder Gerhard (1930) und er. Dieser kleine Bauernhof war, so schrieb er in der „Masurischen Storchenpost“ 2008, „meine ganze Welt“. Als er sein Versteck verlassen hatte, fand er Haus, Scheunen und Ställe ausgeplündert, die Tiere bis auf eine Kuh von den Soldaten der „Roten Armee“ weggetrieben. Sie schlachteten auch noch das letzte Schwein, wobei August Roßigs Vater auf dem Klavier Begleitmusik spielen musste, um die Geräusche des Schlachtens zu übertönen.
Fast alle Höfe wurden im Nachkriegssommer 1945 von Frauen geführt. Die Männer waren entweder noch in Gefangenschaft oder im Krieg gefallen. Die im Dorf Kotzargen, das bald in Koczarki umbenannt werden sollte, wohnenden Russen hatten die Einwohner vor Plünderern zu schützen, die bewaffnet durchs Land zogen. Da August Roßig irgendwo auf dem Hof seiner Eltern 20 Spaten gefunden hatte, die zum Ausheben von Schützengräben verwendet worden waren, gruben er, sein Vater und sein Bruder ein beträchtliches Stück Acker um, aber die Arbeit war so schwer, dass sie auch mit der Kuh, die sie vor den Pflug gespannt hatten, nicht vorankamen. Schließlich erinnerten sie sich an den Traktor, der noch bis zum Kriegsende beim Nachbarn in der Scheune gestanden hatte. Er war, mit einem Haufen Reisig bedeckt, noch nicht gefunden und weggebracht worden. Als die Felder fast umgepflügt waren, wurde die Zugmaschine von den Russen beschlagnahmt. Als das Getreide, das man gesät hatte, im Sommer eingefahren war, wurde es wiederum beschlagnahmt.
Vor den ostpreußischen Bauern in Kotzargen standen ein harter Winter und der nackte Hunger. Mit einer russischen Beutewaffe ging August Roßig zum Wildern in die umliegenden Wälder. Mit Milch von ihrer einzigen Kuh, mit Honig, den es reichlich gab, und gewildertem Fleisch überstanden sie die Hungerwochen bis zum Frühjahr 1946. Irgendwo in einem Nachbardorf fand August Roßig dann einen zerstörten Traktor, den er abschleppen ließ und reparieren konnte. Damit konnte er anderen Bauern bei der Ernte helfen und machte sich unentbehrlich. Wären da nicht die Plünderer gewesen, die immer wieder die Dörfer heimsuchten und die Bauern ausraubten, wäre es schneller aufwärtsgegangen.
Als die Bauernfamilie Roßig wieder Kühe, Pferde, Ferkel und Geflügel im Stall hatte, wurde der Hof noch einmal ausgeraubt. August Roßig, der sich verteidigte, wurde mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen. Später im Jahr 1946 wurde den Landwirten von den Behörden befohlen, ihre Kühe, ohne dass Gründe angegeben wurden, zum Landgut zu bringen. Nichtsahnend trieben sie ihre Rinder dorthin und erfuhren, dass sie beschlagnahmt wären, was gegen jedes Recht verstieß. Ohne Kühe aber hätten die Bauern, die alle bis auf eine polnische Familie Ostpreußen waren, nicht überleben können. Darauf wurde ihnen gesagt, wer unterschriebe, die polnische Staatsangehörigkeit anzunehmen, der bekäme seine Kuh zurück. Selbstverständlich beugten sich alle der „offenen Erpressung“
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