„Der Ursprung des Daseins ist die Bewegung. Folglich kann es darin keine Bewegungslosigkeit geben, denn wäre das Dasein bewegungslos, so würde es zu seinem Ursprung zurückkehren, und der ist das Nichts. Deshalb nimmt das Reisen nie ein Ende, nicht in der höheren und auch nicht in der niederen Welt.“ – Ibn Arabi
Der Sommer ist die abendländische Reisezeit schlechthin. Studenten strömen mit Rucksäcken in alle Welt und wer es sich als Berufstätiger oder Arbeitsloser leisten kann, nimmt sich Urlaub, um etwas von der Welt zu sehen oder zumindest vom eigenen Garten. Reisen ist aber nicht gleich reisen. Um von der Kunst des Reisens sprechen können, muss man zuallererst die Dinge erwähnen, die der Kunst des Reisens abträglich sind bzw. die Kunst des Reisens erschweren.
Der Begriff „Tourismus“ ist zum Überbegriff des Reisens geworden, obgleich im Deutschen noch im 20. Jahrhundert der Terminus „Fremdenverkehr“ gebräuchlicher war. „Tourismus“ geht auf das französische Nomen „le tour“ zurück, sprich „Rundgang“, „Reise“ und hat sich in der deutschen und internationalen Sprache eingebürgert. Was sind also „Touristen“ per definitionem? Die Welttourismusorganisation der Vereinten Nationen (UNWTO) definiert wie folgt: „Touristen sind Personen, die zu Orten außerhalb ihres gewöhnlichen Umfeldes reisen und sich dort für nicht mehr als ein Jahr aufhalten aus Freizeit- oder geschäftlichen Motiven, die nicht mit der Ausübung einer bezahlten Aktivität am besuchten Ort verbunden sind.“ So weit, so gut, aber das ist nicht alles. Der Tourismus in einer der weltweit größten Wirtschaftszweige; er verwandelt das Unterwegssein in eine Ware, die sich perfekt adaptieren und verkaufen lässt, die den Produzenten enorme Zuwächse beschert und prinzipiell von allen konsumiert werden kann. Der Tourismus verändert nicht nur das Reisen, sondern die ganze Welt samt Industrie, Biologie und Soziologie. Der Tourismus zielt auf das individuelle Bedürfnis nach dem Unbekannten, stimuliert dieses mit immer neuen Attraktoren, um dieses Bedürfnis anschließend befriedigen zu können. Je öfter, desto besser. Billigreisen boomen, Städtereisen, Wochenendausflüge und Last-Minute und All-Inclusive Urlaube erobern selbst Supermarktprospekte von Aldi und Lidl. Wer es sicher und intellektueller mag, kann Studien- und Bildungsreisen buchen – freilich muss man dafür schon tiefer in die Tasche greifen. Aber was tut man nicht alles dafür, um nach dem Urlaub etwas erzählen zu können. Aber was ist „Urlaub“ überhaupt? Woher kommt das Wort?
„Alle Welt reist. So gewiss in alten Tagen eine Wetterunterhaltung war, so gewiss ist jetzt eine Reiseunterhaltung.»Wo waren Sie in diesem Sommer?«“ – Theodor Fontane
Der Begriff „Urlaub“ leitet sich vom alt- bzw. mittelhochdeutschen Wort für „erlauben“ ab. Um an einer Schlacht teilnehmen zu können, mussten die Dienstherren der Ritter um Erlaubnis gefragt werden und „urloup“ gewähren. Heute bezeichnet „Urlaub“ die Zeit, die ein arbeitsfähiger Arbeitnehmer, Beamter oder auch Selbstständiger von seinem Arbeitsplatz fernbleibt, obgleich weder Feiertage noch notwendigerweise Krankheit vorliegen. Man kann den Urlaub zum Reisen nutzen. Was heißt es aber, zu „reisen“? Der Begriff Reise kommt vom Althochdeutschen risan, das aufstehen, sich erheben bedeutet. Generell geht es darum, ein Reiseziel zu erreichen oder mehrere Orte bis zur Beendigung der Reise am Ausgangsort kennenzulernen. Es gibt weiter unterschiedlichste Motive, um eine Reise anzutreten. Dies können einerseits physische und psychische, andererseits spirituelle oder berufliche Motive sein. Man kann reisen, um sich selber zu verwirklichen, sich zu erholen, neue Kulturen kennen zu lernen – und die eigenen Grenzen. Schon Blaise Pascal bemerkte treffend, dass das ganze Unglück der Erde letztlich nur daher rührt, dass es uns nicht gelingt, ruhig in unseren Zimmern zu verharren. Was auch immer Reisende treibt, aufhalten sollte man sie nicht. Um die Kunst des Reisens zu erlernen, muss man schließlich reisen und sich allen Arten von Erfahrungen aussetzen. Ist die Kunst des Reisens also eine unbequeme, vielleicht sogar gefährliche? Selbstverständlich ist sie das und das Reisen muss auch eine persönliche Herausforderung sein und braucht Erfahrung, um kultiviert werden zu können und um es zu einer Kunstform erheben zu können. Mit Peter Bichsel auf den Punkt gebracht: „Ich bin dort zu Hause, wo ich meinen Ärger habe. Nichts fällt mir schwerer, als Tourist sein zu müssen.“ Schließlich besteht Erfahrung bekanntlich zumeist aus den Erfahrungen, die man nicht zu machen wünscht.
Es gibt natürlich auch Erfahrungen, die ich gerne vermeiden würde, die aber trotzdem passieren. Erwähnenswert sind folgende: Da ich gerade im marokkanischen Tanger wohne und auf der Suche nach einer längerfristigen Bleibe sämtliche Unterkünfte der Stadt ausprobiert habe, waren dies für mich solche „Erfahrungen“ wie aggressiv beißende Flöhe im Polster, redundanter Schimmel in Matratzen und auf Wänden, ein des nachts bestialisch riechender Wasserabfluss, ein von oben hin beschmutztes Klo ohne Spülung, ein Muezzin, der glaubt singen zu können und das fünfmal am Tag in ohrenbetäubender Lautstärke tut, zwei Hähne die ab der Morgendämmerung bis Mittag miteinander kompetieren, hyperaktive Moskitos, die keinen Zentimeter meiner Haut verschonen und ein dauergrinsender Vermieter, der mich vor lauter Freude über den deutsch sprechenden Besuch laut mit „Nazi“ begrüßt. All das kann passieren und noch viel mehr. Die Kunst des Reisens ist, dies zu wissen und trotzdem noch zu verreisen. Und wer sich nach meiner Anekdote noch immer fragt, warum er denn überhaupt verreisen sollte, dem antwortet man am besten mit Oscar Wilde: „Reisen veredelt wunderbar den Geist und räumt mit all unseren Vorurteilen auf.“ Und dass dies unserer Zeit not tut, ist wohl schwer zu bestreiten.
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