Die Konstitution der Zeit im Leben des Menschen

Der Satz Alles fließt wird Heraklit um 500 v. Chr. zugeschrieben. Diese Aussage interpretiere ich so, dass alles, was uns Menschen begegnet einschließlich unserer selbst durch Veränderung gekennzeichnet ist.

Wir sind es gewohnt, nach Ursachen von Erscheinungen zu fragen. Fällt ein Stein, so schließen wir auf die Schwerkraft, beim Umkreisen der Erde um die Sonne schließen wir auf Gravitations- und Zentrifugalkraft, finden wir eine Tonscherbe in der Erde, so vermuten wir, dass Menschen sie anfertigten. Diese Vorgehensweise übertragen wir dann auf so komplexe Erscheinungen wie den Menschen, dessen erstes Exemplar Adam ein Schöpfergott aus Lehm geformt haben soll. Bei komplexen Erscheinungen wie dem Leben auf der Erde, beispielsweise der Lebensgemeinschaft des Waldes, bei der Kunst, der Zahlentheorie, der Zeit ist dieses Vorgehen nicht sinnvoll. Es sollte für die Philosophie irrelevant sein, ob die Welt durch einen Schöpfergott erschaffen oder wie bei Heraklit unerschaffen ist, denn belegen lassen sich beide Aussagen nicht. Man beschränke sich auf das Offensichtliche: die Veränderungen. Als fundamental betrachte ich Veränderung, Schwung, Entwicklung; dabei umfasst Entwicklung ebenso die Entwicklung von Strukturen wie die Entwicklung zum Chaos.

Dem Menschen Begegnendes ist nicht seiend, sondern während. Weder gibt es dimensionslose Raumpunkte, noch dimensionslose Zeitpunkte. Das Sprechen von Zeitpunkten stellt eine Idealisierung dar, die ihre Grenzen hat, wie schon das Sophisma des Zenon vom fliegenden Pfeil zeigt: ein fliegender Pfeil ruhe in jedem dimensionslosen Zeitpunkt in einem dimensionslosen Raumpunkt; folglich ruht er auch im Ganzen. Dieser Antinomie entgeht man, indem man dem Jetzt außer der Richtung eine Erstreckung zuordnet.

Dass die Zeit fließt, beinhaltet auch, dass wir in der Außenwelt nur Dinge erkennen, die wenigstens eine kurze Zeitspanne anwesen. Als Beispiel nenne ich das grüne Leuchten. Wenn in südlichen Gefilden der letzte Sonnenstrahl der ins Meer versinkenden Sonne ins Auge des Betrachters fällt, so ist dieser Strahl grün, denn in der Atmosphäre wird durch Brechung auch der letzte Strahl in seine Spektralfarben zerlegt, und während das blaue Licht gestreut wird (Himmelsbläue), gelangt der am zweitstärksten gebrochene grüne Strahl zuletzt ins Auge. Beobachtbar ist das grüne Leuchten nur deshalb, weil es während des Bruchteils einer Sekunde anwährt.

Ich behaupte also, alles Seiende sei Währendes. Entgegen dem Beispiel möchte ich Währendes aber nicht in Seiendes und Zeitliches zerlegen, sondern als unzerlegbaren Begriff betrachten.

In Analogie zu Heidegger, der das Sein als Lichtung des Seienden im Menschen definiert, definiere ich die Lichtung des Währenden im Menschen als Währen. Mit dem Ausdruck Währen als Lichtung des Währenden im Menschen bin ich nicht ganz zufrieden, weil das veränderliche Seiende, im Extremfall das Verschwindende, nur schlecht durch den Ausdruck beschrieben wird.

Bezeichnet man wie die Griechen das Seiende als Anwesendes, so ist auch die Zeit enthalten, nämlich die Gegenwart. Dies ist in Übereinstimmung mit dem Währenden, sofern man der Gegenwart eine Erstreckung und eine Richtung zuordnet. Auch Heidegger sieht den Zusammenhang des Seins mit der Zeit von vornherein, indem er das Sein vor dem Horizont der Zeit betrachtet, d.h. den Sinn von Sein als Zeit voraussetzt. Ich möchte Sein und Zeit nicht erst als zwei einzelne Entitäten betrachten, denn dann ist es schwer, sie wieder zu verschmelzen.

In der Physik ist die Zeit eine Grundgröße, die Geschwindigkeit eine abgeleitete Größe. Dass auch in der Physik die Bewegung ursprünglich ist, sieht man an der Festlegung der ursprünglichen Zeiteinheiten. Ein Tag ist die Zeit der Rotation der Erde um ihre Achse, ein Jahr die Zeit für einen Umlauf der Erde um die Sonne.

Die Entwicklung des Planetensystems, die Entstehung der Lebensgemeinschaft des Urwalds, die Welt der Dinosaurier sind Beispiele für Entwicklungen unabhängig vom Menschen. Dagegen sind der Zahlbegriff, die Kunst, der Zeitbegriff vom Menschen mitbestimmt.

1. Die Zahl als Konstrukt Ob man als Realist die Zahl 5 als gewisses Abstrakt der Finger aller Menschenhände setzt oder als Idealist als reine Konstruktion des menschlichen Geistes als Nachfolger der vorher konstruierten 4 betrachtet, beiden Auffassungen gemein ist der Dualismus von Ich und Außenwelt. Voraussetzung für die Zahlen und deren Operationen wie die Addition ist, dass das Selbstbewusstsein, das „ich denke“, das nach Kant all mein Urteilen begleitet, sich von der Außenwelt isoliert hat. Unabhängig vom Menschen existieren die Zahlen nicht, abgesehen davon, dass der Realist, wenn er die natürlichen Zahlen über die Mächtigkeit von Mengen definiert, immer nur endlich viele Zahlen erhält.

Da jede natürliche Zahl nach Definition einen Nachfolger besitzt, sagt man, es gäbe unendlich viele. Nach konstruktivistischer Auffassung, die beispielsweise die Intuitionisten vertreten, sind dies potentiell unendlich viele, da man immer nur endlich viele konstruiert hat, und nicht aktual unendlich viele vorliegen. Da sich auch die ganzen und die rationalen Zahlen nummerieren, das heißt aufzählen lassen, besitzen diese denselben Grad der Unendlichkeit. Aufzählen lassen sich die reellen Zahlen nicht, es gibt „mehr“ als abzählbar unendlich viele.

Für überabzählbare Mengen schlage ich vor, die Termini „für jede“ und „für alle“ nicht mehr zu identifizieren. Für endliche Mengen haben wir logische Äquivalenz: „Alle Menschen sind sterblich“ ist genau dann richtig, wenn gilt: „Jeder Mensch ist sterblich“. Für unendliche Mengen gilt diese Äquivalenz nicht mehr uneingeschränkt. Nach dem Prinzip der vollständigen Induktion ist eine Aussage für alle natürlichen Zahlen gültig, wenn sie für die erste natürliche Zahl 0 gilt und aus der Gültigkeit für eine beliebige natürliche Zahl n die Gültigkeit für die nachfolgende Zahl folgt. Die Identifizierung von „für alle“ mit „für jede“ ist akzeptabel für alle abzählbaren Mengen. Für überabzählbare Mengen gilt dies nach meiner Auffassung nicht mehr. Man kann eine Aussage für jede algorithmisch vorgelegte reelle Zahl bewiesen haben, ohne einen Überblick für alle reellen Zahlen zu haben, weil es mehr reelle Zahlen als die algorithmisch gegebenen gibt.

Bei dem Sophisma des Zenon über den Wettlauf des Achill mit der Schildkröte wird die Problematik des Aktualunendlichen der Infinitesimalrechnung besonders deutlich. Achill laufe mit einer Schildkröte um die Wette. Er laufe 10mal schneller als die Schildkröte, weshalb er ihr 1 Stadion Vorsprung gebe. Die Argumentation des Zenon läuft folgendermaßen:

Hat Achill 1 Stadion durchlaufen, so hat die Schildkröte noch einen Vorsprung eines Zehntel Stadion, hat Achill dieses Zehntel Stadion durchlaufen, so hat die Schildkröte einen Vorsprung eines Hundertstel Stadion, durchlief Achill auch dieses, so hat die Schildkröte den Vorsprung eines Tausendstel Stadion, usw. ad infinitum. Folglich, so Zenons Argumentation, könne Achill die Schildkröte nicht überholen. Es ist klar, dass Achill die Schildkröte bereits nach 2 Stadien weit hinter sich gelassen hat. Trotzdem ist die Zenonsche Argumentation stichhaltig, wenn Achill die unendlich vielen Zenonschen Markierungen vornimmt, da ein Mensch in seiner Lebenszeit niemals unendlich viele Striche machen kann.

Hier stößt die klassische Infinitesimalrechnung an eine Grenze. Diesem Mangel tragen die Intuitionisten Rechnung, bei denen die Argumentation nicht durchführbar ist, da die Entscheidung des Überholens nach endlich vielen Schritten stehen muss. Für eine ausführliche Darstellung verweise ich auf meine Dissertation.1

2. Die Kunst DasWesen derKunst ist nach Heideggers Kunstwerkaufsatz2 das Sich-ins-Werk setzen der Wahrheit als Schönheit, Wahrheit im Sinne von Unverborgenheit interpretiert. Der Genitiv ist zugleich genitivus subiectivus und genitivus obiectivus. Das bedeutet, dass das Kunstwerk Wahrheit erzeugt und zugleich, dass die Wahrheit im Kunstwerk zum Scheinen kommt. Aktiv und Passiv sind aufgehoben. Heidegger betont, dass die Wahrheit nicht irgendwo in den Sternen vorhanden sei. Mit meinen Worten: Wahrheit ereignet sich im Kunstwerk; dabei ist die Wahrheit nicht als schon vorher existierend am platonischen Himmel gedacht. Im Kunstwerk kommt Wahrheit zum Scheinen. Nach Heidegger ist die Zerlegung des doppelten Genitivs in die zwei angegebenen Aussagesätze allerdings ungemäß.

Die Verschmelzung von Aktiv und Passiv findet sich auch bei Hölderlin: Immer die gegenwärtige Stunde, das ist die Gottesstunde, das ist das Stück Ewigkeit, das um Gestaltung ringt in Dir durch Dich. Dieser Satz beschreibt sehr gut den gedehnten Augenblick, der im Sinne einer Säkularisierung die Attribute der Ewigkeit und Gottesstunde enthält, den man genießt, in dem man schöpferisch die Zukunft gestaltet oder den man im Zustand der Uneigentlichkeit verschläft. Die Gottesstunde bezieht sich auf den Menschen als eines schöpferischen bzw. weil in ihm ein schöpferisches Wirken stattfinden kann.

Friedrich Beissner3 hält Hölderlins kleinen Aufsatz Urteil und Sein für so etwas wie ein philosophisches Programm. Hier führt Hölderlin das Wort Urteilung auf Ur-Teilung zurück, nämlich auf die Teilung, durch die Subjekt und Objekt überhaupt erst entstehen. Auch in einem Brief an Schiller vom 4.Sept. 1794 spricht Hölderlin von intellektueller Anschauung, in der Subjekt und Objekt vereinigt wird.4

In Hölderlins drei Fragmenten zum Tod des Empedokles treffen wir auf dieselbe Problematik. Empedokles glaubt, durch sein Wort die Götter der Natur zum Sprechen gebracht zu haben. Seine Widersacher halten dies für Hybris in der Meinung, dass die Götter der Natur sich Empedokles offenbarten. Mir persönlich scheint die folgende Synthese sinnvoll: der Mensch als Erscheinung mit/in der Natur ist Teil dieser.

3. Die Zeit Meine Überlegungen zum Wesen der Zeit führen zur Definition der Zeit als Abstraktion des Verbs „zeitigen“ in transitiver und intransitiver Form:

Im Leben des Menschen zeitigt sich Zeit.

Und zugleich:

Das Leben des Menschen zeitigt Zeit.

Anstelle von Zeitigung der Zeit könnte man auch von Konstitution der Zeit sprechen.

Dabei trifft die Konjunktion der beiden Aussagen den Sachverhalt nur unzureichend, vergleichbar der Definition der Kunst im Sinne Heideggers. Treffender wäre die folgende Beschreibung. Ich betrachte ein Kunstwerk: Wow- wie wahr! Wahrheit tritt in Erscheinung. Und: Ich lebe: Wow- Zeit! Im Leben/durch das Leben des Menschen tritt Zeit in Erscheinung. Es ist ungemäß zu sagen, dass wir bei der Geburt etwas geschenkt bekommen, das wir dann in gewissem Umfang gestalten können wie ein Material, dem wir Spuren einritzen, denn die Zeit erscheint erst während des gestaltenden Lebens.

Nur, solange der Mensch lebt, gibt es Zeit. Es gibt keine Zeit unabhängig vom Menschen. Diese Zeit ist reicher als die physikalische Zeit, die der Mensch bewusst definiert.

Das bunte Leben unterläuft das Selbstbewusstsein. Die Zeit gründet in Tieferem als durch Selbstbewusstsein fundierter Philosophie; sie gründet im Leben. Die physikalische Zeit ist im Selbstbewusstsein begründbar. Wenn man postuliert, das Leben unterlaufe das Ich des Selbstbewusstseins, so ist das mehr als Heideggers Sein insofern, als das Leben die Zeit mit beinhaltet. Es ist Heideggers Problem, den Bogen vom Sein zu der Zeit schlagen zu müssen. Die Lebensphilosophen sahen etwas Richtiges, wenn sie sich dem vollen Leben zuwandten.

Treibt man Mathematik oder exakte Naturwissenschaft, so muss man sich auf den vom Selbstbewusstsein zentrierten Ansatz berufen.

Meine Definition von Zeit ist beeinflusst von Bergson und Heidegger. Bergson und Heidegger kennen beide zwei Zeitbegriffe, die weitgehend übereinstimmen. Trotz einer gewissen Entsprechung der Bergsonschen Begriffe la durée -le temps zu den Heideggerschen ursprüngliche Zeit- vulgäre Zeit gibt es Unterschiede.

Henri Bergson (1859-1941) ist Vertreter der Lebensphilosophie. Der archimedische Punkt seiner Philosophie ist der élan vital, der Lebensschwung. Durch Intuition ist der Mensch nicht nur seiner eigenen Existenz gewiss, sondern auch der Existenz der anderen Lebewesen. Glaubte Bergson zunächst, dass sich dieser dem lebenden Menschen eigene Schwung auf dessen Umwelt übertrage, die Dinge aber unbeweglich seien, so löst er sich seit der Publikation von Schöpferische Entwicklung von dieser Einschränkung. Dort schreibt er, dass die in ungeteilter Ganzheit angeschaute Materie eher ein Fließen sein müsse als ein Ding.5 Der Lebensschwung führt Bergson zur reinen Dauer la durée. Die Dauer ist die erlebte Gegenwart. Das konkrete Ich entwirft die Zukunft in der gedehnten vergangenheitsgetränkten Gegenwart. Bei Bergson erschließt sich Sein immer nur als zeitliches Sein. An die Stelle der Ewigkeit tritt im Sinne einer Säkularisierung die erlebte Gegenwart. Das größte Verdienst Bergsons ist nach meiner Ansicht, dass er die Zeit von der Verarmung befreit hat, die sie in der Physik erfahren hat. Die erlebte Zeit ist viel reicher als die physikalische Zeit le temps, die im klassischen herkömmlichen Sinn aus ausdehnungslosen Jetzt-Punkten besteht, die nicht erlebt werden können.

Proust, von Bergson beeinflusst, schildert in seiner Suche nach der verlorenen Zeit nicht nur solche Momente der erlebten Gegenwart, in denen ein Geschmack, ein Geruch, eine Unebenheit des Straßenpflasters dazu führen, dass verloren geglaubte frühere Erlebnisse neu erlebt werden, sondern auch den Moment, in dem er den Entschluss fasste, sein Werk zu schaffen.

Da bei Bergson le temps eine Projektion von la durée in den Raum ist, schließt Bergson folgerichtig, Zeitmessung sei Raummessung. Die Bindung der messbaren Zeit an den Raum kritisiert Heidegger zu Recht.6 Bergson dachte zeitgemäß, dass die Zahlen nur im Raum konstruiert werden können. Wie der intuitionistische Mathematiker Brouwer zeigte, können sie auch an die Zeit gebunden werden. Die Vertreter des Konstruktivismus wie Lorenzen erhalten sie durch Konstruktion, die weder an Raum noch Zeit gebunden ist. Hinzu kommt, dass die Zahlen vorliegen, wenn man sie einmal in Raum und Zeit konstruiert hat. Um die Größe einer Entität zu bestimmen, muss man nicht jedes Mal neu projizieren, wie Bergson glaubte, wenn er die ertönenden Glockentöne zum Zählen in den Raum projiziert vorstellt. Auch habe ich Probleme mit dem folgenden Sachverhalt bezüglich der Bergsonschen Projektion: behauptet der konstruktiv vorgehende Mathematiker die Existenz einer mathematischen Entität, so muss er auch in der Lage sein, eine Konstruktionsvorschrift für die Existenz zu liefern. Die widerspruchsfreie Denkbarkeit wie bei Bergson ist nicht hinreichend. Ich vermute, dass Bergsons Absicht die Konstruktion einer messbaren Größe war und er glaubte, diesen Weg einschlagen zu müssen. Heidegger schreibt7, Bergson versuche gegenüber der Zeit, die er als Raum auffasse, die Dauer verständlich zu machen. Das liege darin begründet, dass er auch die Dauer als Sukzession, allerdings als quantitative, ansehe.8 Er kritisiert auch, dass Bergson die Begriffe Qualität und Quantität nicht näher bestimme. Ich verstehe die Begriffe naiv ohne weiteres, indem für mich das Quantitative das Messbare, das Qualitative das nicht Messbare, oder allgemeiner das nicht Gemessene bedeutet. Bergson verharrt keineswegs bei der entsprungenen Zeit, die ursprüngliche Zeit in ihrem Wesen verkennend, wie Heidegger annimmt.9 Heideggers Kritik trifft nicht die wahre Dauer, denn wenn ich eine Abbildung einer Menge A in eine Menge B vornehme, so hat diese Abbildung keine Rückwirkung auf die Urbildmenge A. Nach Heidegger hat Bergson den Lebensschwung, den élan, zu schnell allgemein-metaphysisch auf verschiedene Gebilde übertragen.10 Den Ansatz des Selbstbewusstseins unterlief Heidegger, doch auch Bergson löste sich seit Schöpferische Entwicklung von der einschränkenden Bindung des Schwunges an das menschliche Bewusstsein. Andere Wesen und auch Dinge schwingen nun. Bergson änderte seine Auffassung ohne Diskussion. Ich denke, dass er intuitiv das Richtige sah, denn wie sollte ein Mensch auch seinen Lebensschwung auf eine aufblühende Kastanie oder einen verwitternden Findling übertragen?

Martin Heidegger (1889-1976) ist Gründer der Seinsphilosophie. Im Mittelpunkt seiner Philosophie steht das Sein, nicht das Seiende. Seiendes ist auf Gegenwart bezogen; Heidegger glaubt, dies auf Aristoteles zurückführen zu können. Seiendes kann sein Zuhandenes (das Zeug), Vorhandenes, Pflanze, Tier, Mensch oder ideales Seiendes. Heidegger definiert das Sein als die Lichtung des Seienden im Menschen. Der Mensch, das Dasein, ist der Ort der Lichtung. Das Da im Begriff Dasein beschreibt unter anderem die unauflösbare Verflechtung mit der Welt, in die der Mensch geworfen ist.

Damit legt Heidegger das Fundament tiefer als die Transzendentalphilosophen seit Kant, die das Urteilen an das begleitende ich denke, d.h. an das Bewusstsein des Menschen knüpfen. Vorgängig ist diesem Ansatz, dass der Mensch schon in der Lichtung steht.

Der Mensch ist bei Heidegger durch die Sorge gekennzeichnet: er ist Sich-Vorweg Immer-schon in einer (bedeutungsgeladenen) Welt als Sein-bei (innerweltlich begegnendem) Seienden. Die Einheit der Ekstasen des Sich-Vorweg als Zukunft, des Immer-schon als Gewesenheit und des Sein-bei als Gegenwart nennt Heidegger Zeitlichkeit. Die sich zeitigende Zeitlichkeit ist nicht nur Grundlage für das Daseinsverständnis, sondern für das Seinsverständnis überhaupt (Horizont des Seins) und wird in dieser Funktion ursprüngliche Zeit genannt. Später fügt Heidegger noch eine vierte Komponente hinzu: das Reichen.11 Nach der sog. Kehre 12 geht Heidegger vom Ereignis der Lichtung aus: das Ereignis reicht Zeit, schickt Sein. Sowohl bei der Dauer Bergsons als auch bei der Zeitlichkeit Heideggers hat die Zukunft Vorrang vor Gegenwart und Vergangenheit. Die vulgäre Zeit ist die physikalische Zeit im klassischen Newtonschen Sinn, die heute relativistisch zu erweitern ist.

Literatur

Brouwer, L.E.J., 1975: Collected Works Band 1. Amsterdam- New York-Oxford: North- Holland- Publishing Company

Bergson, Henri, 1994: Zeit und Freiheit. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt

Bergson, Henri, 1991: Materie und Gedächtnis. Hamburg: Felix Meiner Verlag

Bergson, Henri, 1912: Schöpferische Entwicklung. Jena: Eugen Diederichs

Bergson, Henri, 1980: Die beiden Quellen der Moral und der Religion. Olten und Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag

Bergson, Henri, 1993: Denken und schöpferisches Werden -Aufsätze und Vorträge-. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt

Bergson, Henri, 1993: Einführung in die Metaphysik. In: Kottje, Friedrich (Hrsg.): Henri Bergson: Denken und Schöpferisches Werden, S.180- 225. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt/ Rotbuch-Verlag

Giroux, Laurent, 1969: Reine Dauer und Zeitlichkeit – Bergson und Heidegger. Heidelberg: Dissertation

Gretic, Goran, 2002: Das Problem der subjektiven Zeit. Heidegger und Bergson. In: Lesniewski, Norbert und Nowak – Juchadz, Ewa (Hrsg.): Die Zeit Heideggers, S.113-120. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien: Peter Lang

Gunderson, Dörte, 1990: Untersuchungen zur Konstruktivität des Bar-Theorems, Diss. Hamburg

Heidegger, Martin, 1979: Sein und Zeit. Tübingen : Max Niemeyer Verlag. Sigle SuZ

Heidegger, Martin, 1980: Der Ursprung des Kunstwerks. In: Holzwege, S.1-72, Frankfurt am Main: Klostermann

Heidegger, Martin, 1988: Zeit und Sein. In: Zur Sache des Denkens, S.1-26. Tübingen: Max Niemeyer Verlag. Sigle ZuS

Heidegger, Martin, 1976: Logik, Band 21. Frankfurt am Main: Klostermann

Heidegger, Martin, 1989: Die Grundprobleme der Phänomenologie, Band 24. Frankfurt am Main: Klostermann

Heidegger, Martin, 1989: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Band 65. Frankfurt am Main: Klostermann

Heidegger, Martin, 1990: Metaphysische Anfangsgründe der Logik, Bd.26. Frankfurt am Main: Klostermann

Herrmann, Friedrich-Wilhelm, 1985: Subjekt und Dasein. Frankfurt am Main: Klostermann

Herrmann, Friedrich-Wilhelm, 1987: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins, Band 1. Frankfurt am Main: Klostermann

Herrmann, Friedrich-Wilhelm, 1991: Heideggers „Grundprobleme der Phänomenologie“. Frankfurt am Main: Klostermann

Herrmann, Friedrich-Wilhelm, 1994: Wege ins Ereignis. Frankfurt am Main: Klostermann

Heyting, Arend, 1980: Intuitionism- An Introduction. Amsterdam- New York- Oxford: North Holland Publishing Company

Lorenzen, Paul, 1965: Differential und Integral. Frankfurt am Main: Akademische Verlagsanstalt

Pöggeler, Otto, 1988: Bergson und die Phänomenologie der Zeit. In: Adams, Bernhard (Hrsg.): Festschrift für G. Pflug, S.153-169. Bonn: Bouvier

Pöggeler, Otto, 1982: Heidegger und das Problem der Zeit. In: Régnier, Marcel (Hrsg.): L´Héritage de Kant, S.287-307.Paris: Beauchesne

Prigogine, Ylya, 1985: Vom Sein zum Werden, München-Zürich: Piper

1 S.94ff.

2 Der Ursprung des Kunstwerks (1935/36), in: Holzwege, S.1-72.

3 Beissner, Friedrich (Hrsg.): Sämtliche Werke, Bd.IV, Erläuterung S.319f zu S.226f, Stuttgart 1962.

4 Beissner, a.a.O. Bd.IV, S.181.

5 Bergson, 1912, S.191.

6 Heidegger, 1979, S.333.

7 Heidegger, 1979, S.267f.

8 s. hierzu auch Fußnote SuZ, 1979, S.432f.

9 s. Heideggers Bemerkung zu entspringender und entsprungener Zeit, 1976, S.266-268.

10 ebd. S.268.

11 Heidegger 1988, Heidegger 1989.

12 Heidegger 1962.

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