Olivier AdamNichts was uns schütztAus dem Französischen von Oliver Ilan SchulzTitel der Originalausgabe: À l'abri de rienKlett-Cotta, Stuttgart (März 2009)208 Seiten, GebundenISBN-10: 3608936068ISBN-13: 978-3608936063Preis: 19,90 EURO
Tragödien aller Art bestimmen zunehmend die Berichterstattung der Medien und damit unseren Alltag. So konnte man in den letzten Monaten immer wieder Artikel über den „Dschungel von Calais“ lesen. Hier auf der französischen Seite des Ärmelkanals, wo das verlockende England nur 30 km entfernt liegt, strömen sie zusammen – Auswanderer aus der Armut, Flüchtlinge vor Krieg und Elend, Hoffnungsvolle, die ein besseres Leben in Europa suchen: Pakistanis, Afghanen, Kurden, Afrikaner.
Halbe Kinder sind teilweise darunter, auf die Reise geschickt von ihrer Familie, die darauf vertraut, dass sie sich durchschlagen und irgendwann Geld nach Hause schicken. Sie haben wochen- und monatelange Strapazen hinter sich. Sie sind hager und misstrauisch geworden. Sie wollen nach England, weil es dort angeblich einfacher ist, schwarz zu arbeiten. Viele haben bereits Kontakt zu Landsleuten, die es nach Großbritannien geschafft haben. Wer sich auf einen Lastwagen schmuggeln will, muss eine nicht unerhebliche Summe Geld an einen Schlepper zahlen, der wiederum die Lastwagenfahrer besticht.
Aber die Grenze ist eine der am besten gesicherten in Europa. Der Hafen von Calais ist mit seinen 2,50 Meter hohen Stacheldraht- und Elektrozäunen und zahlreichen Kameras kaum noch erreichbar. Die Lastwagen werden mit hochsensiblen Geräten überprüft, die Herzschläge entdecken oder den CO2-Gehalt messen, der menschlichen Atem verrät.
„Ein pappiger Film aus Alltag und Ärger“
Diesem Thema hat sich der vielfach preisgekrönte französische Schriftsteller Olivier Adam, der bereits mit „Am Ende des Winters“ den Prix Goncourt für Jugendliteratur erhielt und mit seinem Debüt in der zeitgenössischen Belletristik, seinem letzten poetisch, starken Text „Klippen“ 2005 auf der Liste der vier Finalisten stand, in seinem neuestes Buch „Nichts was uns schützt“ angenommen.
Als fragiles, bindendes Glied zwischen den Migranten und der immer wieder brutal agierenden französischen Polizei hat Adam die zerbrechliche Marie, eine psychisch labile, junge Frau, gesetzt. Durch Zufall wird sie eines Tages auf ein Flüchtlingslager aufmerksam und schließt sich als freiwillige Helferin an. Indem sie Essen und Kleidung an die illegal Eingereisten austeilt, findet die bis dato ziel- und antriebslos in den Tag hinein lebende, depressive Hausfrau („ein pappiger Film aus Alltag und Ärger überzog alles um uns herum […] machen wir uns nichts vor, für die wenigsten Leute hat das Leben viel mehr zu bieten.„) Halt und so etwas wie innere Bestätigung und einen Lebenssinn („… das alles hatte für mich eine verborgene Bedeutung, einen unerklärlichen Sinn. Etwas Ernstes, Entscheidendes, das ich nicht greifen konnte.„). Doch zunehmend verliert sie in der Hilfe für diese Gestrandeten die Kontrolle über sich und vernachlässigt ihre Familie (ein Ehemann und zwei Kinder) mehr und mehr.
Feinfühlige, intelligente, doch niemals „pathosgetränkten Bilder“
Wie schon in seinem letzten Roman „Klippen“ berichtet ein Ich-Erzähler – hier in Gestalt der Protagonistin Marie – in einem lückenhaften Fluss der Erinnerungen von seinen Gedanken, Erlebnissen und Empfindungen. „Das Leben hatte Wände hochgezogen um uns herum, dahinter lief etwas vorbei, uns reichte es gerade noch, den Kopf in den Nacken zu legen, uns zu recken und ein ganz vages Bild zu erhaschen von dem, was uns entging, was wir hier verpassten. Ich weiß nicht, was. Wahrscheinlich nur etwas, das doch von vornherein gar nicht für uns bestimmt gewesen wäre.„
In seiner typisch einfachen, aber wunderschönen Diktion – schnörkellos-karge, klare, von Zeit zu Zeit stakkatoartige Sätze ohne Punkt und Komma, in beinahe puristischem Stil – skizziert Olivier Adam seine Figuren. Eine simple Linie, ein Strich genügt zur Beschreibung einer Situation von ungeheurer Dramatik. Diese feinfühligen, intelligenten, doch niemals „pathosgetränkten Bilder“ und rührseligen Dramatisierungen der seelischen Disharmonien Maries, die nahe am Wahnsinn gelagert sind („Ich fühlte mich alleine und verloren, von innen durchgefroren, völlig, unterkühlt„) oder aber der zeitweise brutalen, düsteren Skizzierung der Flüchtlingsleben, wechseln sich mit Passagen atmosphärisch dichter Landschaftsbeschreibungen, der rauen, aber eindrucksvollen Küste ab.
So entstehen vor dem inneren Auge des Lesers Bilder, Porträts und Landschaften, die man fast atmen und schmecken kann. Und immer wieder das Meer als zentrales Element, als Magnet im Roman: „ein Gefühl des Verlorenseins. Des Versinkens. Eine Sintflut. Das Ende der Welt.„
Oliver Ilan Schulz wiederum ist es mit seiner Übersetzung aus dem Französischen großartig gelungen, diese beinahe visuelle, ungeheuer eindrucksvolle und nachhaltige Sprache des Autors dem deutschsprachigen Publikum ohne Verlust zugängig zu machen.
Fazit:
Gewalt, Depression, Migration, Hilfe, Verzweiflung und Desillusionierung sind die Themen in Olivier Adams neuem Roman „Nichts was uns schützt„. Erneut legt der vielversprechende junge französische Autor ein Buch über die Schwächsten vor, Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen und die die Härte des Lebens besonders schwer trifft.
Bedrückende, dunkle, aber ungeheuer substanzhaltige, großartige Literatur.
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.