Grenzüberschreitungen waren in Ausstellungen vor einhundert Jahren und noch länger zurück ein durchaus gängiges und bewusst eingesetztes Stilmittel. In diesem Sinne ist auch der Kapellenraum mit Gewölbe und spitzbogigen Blendarkaden einzuordnen, den die Besucher im Jahr 1912 in der Mitte des Rundgangs durch die „Internationale Kunstausstellung des Sonderbundes Westdeutscher Kunstfreunde und Künstler“ in Cöln, damalige Schreibweise, betraten. Neben den von Erich Heckel und Ernst Ludwig Kirchner bemalten Stoffbahnen, die die Wände verkleideten, waren es die Glasfenster des Niederländers Johann Thorn Prikker (1868 bis 1932), die diesem Raum jene mystisch-religiöse Aura verlieh, von der der damalige Leiter des Kölner Kunstgewerbemuseums schrieb: „In der dunklen gotischen Apsis vor den Glasfenstern Thorn Prikkers verstummte aller Zank und Gehässigkeit. Hier stand man unmittelbar vor etwas Neuem, Großen, Ungeahnten.“
Heute, 100 Jahre nach der Maßstäbe setzenden legendären Sonderbundschau, ist jene in den damaligen Ausstellungsrundgang eingehauste Kapelle nur noch als eine Art Erinnerungsraum oder eher Hommage in die aktuelle Ausstellung „1912 – Mission ModerneDie Jahrhundertschau des Sonderbundes“ integriert. Indes gelingt es den für die Ausstellung im Kölner Wallraf-Richartz-Museum verantwortlich zeichnenden Akteuren erneut etwas von jener erhabenen, sakralen und zum bewussten Innehalten anmutenden Wirkung zu entfalten. In wunderbarer Linie korrespondieren die Skulpturen „Betende“ (1894) sowie der große Kniende“ (1898)von George Minne (1866 bis 1941)mit den großartigen farbenfrohen Fotografien von drei der insgesamt sechs Kirchenfenstern, die Thorn Prikker für die Dreikönigenkirche in Neuss schuf und auf denen er 24 figürliche Szenen aus dem Leben Christi sowie ornamentale Muster darstellte.
Nach über drei Jahren Vorbereitungen, Recherchen und Rekonstruktionen lässt das Wallraf-Richartz-Museum nun eine der wichtigsten Ausstellungen des 20. Jahrhunderts wieder aufleben. Von den vor einhundert Jahren gezeigten rund 650 Exponaten von Künstlern, wie Cézanne, Cross, Gauguin, van Gogh, Picasso, Munch, Macke, Nolde, Schiele und anderen, werden etwa 120 Werke aus renommierten Museen in Europa und den USA gezeigt. Einige der Werke von 1912 gelten als verschollen. Auf Ersatzwerke eines Künstlers, die manches Museum statt eines angefragten bestimmten Werks anbot, wurde absichtlich verzichtet. Bewusst wurde in der heutigen Schau beim Rundgang durch die neun Räume die einstige Aufteilung in Künstler- und Länderräume aufgegriffen. Bemerkenswert ist dabei etwa der Raum zu Norwegen sowie Edvard Munch – schließlich hatten sich Munchs Werke bereits 1912 gesellschaftlich und künstlerisch hoch angesehen in der Kunstwelt etabliert. Immer wieder sind historische Aufnahmen in die Präsentation eingebunden, die so eine klar nachvollziehbare visuelle Brücke zurück in die Zeit schlagen, als sich die damaligen Organisatoren von den eher konzeptionslosen Ausstellungen des 19. Jahrhunderts verabschiedeten und einen neuen Ausstellungstypus begründeten.
Die Ausstellung im Jahre 1912 in Köln, das damals als eine der weltweit führenden Kunstmetropolen galt, hatte das ehrgeizige Ziel, der Moderne zum Durchbruch zu verhelfen. Sie rüttelte mit diesem Unterfangen im deutschen Kaiserreich an einem eher konservativ geprägten Kunstverständnis – und hatte damit für das spätere Ausstellungsverständnis, die Rezeption von zeitgenössischen Werken und deren Präsentation, die Ankaufspolitik von Museen und anderes mehr nachhaltigen nationalen und internationalen Erfolg. Nicht nur in Deutschland gilt die Sonderbundschau bis heute als einer der wichtigsten Wegbereiter für die Moderne. Die Palette der Besucherreaktionen auf die Schau im Schatten des Kölner Doms war ebenso bunt, vielfältig und bisweilen schrill wie die Exponate. Die Fachwelt reagierte euphorisch und tief beeindruckt. So wurden beispielsweile die Glasfenster von Thorn Prikker in katholischen und evangelischen Medien positiv aufgenommen, während die Amtskirche den Werken kritisch gegenüberstand. Der Neusser Pfarrer, der die Fenster in Auftrag gegeben hatte, wurde vom damaligen Kölner Erzbischof von Hartmann versetzt. Erst 1919 konnten die Glasfenster, die heute zu den bedeutendsten Werken christlicher Glaskunst des 20. Jahrhunderts zählen, eingesetzt.
Es wäre verfehlt, den seinerzeit im Kölner Generalvikariatfür die künstlerische Ausstattung von Kirchen Verantwortlichen einen Vorwurf zu machen. Konnten sich die Kuratoren der Sonderbundausstellung in ihrem Sendungsbewusstsein so sicher sein, die entscheidenden Protagonisten für die verschiedenen Positionen der zeitgenössischen Kunst auszustellen? Es ist aus heutiger Perspektive geradezu erstaunlich, wie zielsicher die Kuratoren seinerzeit die Künstler und Ausdrucksformen identifizierten, die erst viel später als Höhepunkte der europäischen Kunstgeschichte eingeordnet wurden. Schließlich begann die Schau mit einem bewussten Paukenschlag: Die ersten fünf Räume zeigten 125 Werke von Vincent van Gogh. Der Vater des Expressionismus, von dem gegenwärtig wieder 15 Werke gezeigt werden, galt vielen Besuchern und Fachleuten eher als „Künstler kleineren Stils“. Gleichwohl: „Die meisten bedeutenden Künstler der damaligen jungen Generation haben sie erkannt und in bezeichnenden Werken ausgestellt“ würdigten die Organisatoren der großen Kölner Erinnerungsschau im Jahr 1962 ihre Vorgänger.
Jenen Aufbruch, jenen vielleicht geradezu revolutionär und innovativ, wagemutig und riskant anmutenden Impetus der Sonderbundschau von 1912 entfaltet die „Mission Moderne“ heute sicherlich nicht mehr – zu sehr sind die Namen der meisten Künstler mittlerweile bekannt und als Autoritäten der jeweiligen Kunstströmungen, wie etwa (Post-)Impressionismus, Expressionismus und frühen Kubismus, anerkannt. Gleichwohl ist die gegenwärtige Reminiszenz an die Ausstellung vor 100 Jahren in quantitativer und qualitativer Hinsicht überwältigend. Um diesen überquellenden, fast rauschhaften farbenreichen Ausdruck zeitgenössischen Ausdruck der Moderne erst einmal sacken zu lassen, sei an dieser Stelle eine Pause im Museumscafé empfohlen. Der heute in den meisten Museen zum Inventar gehörende Erfrischungsraum ist übrigens auch eine Idee der Ausstellungsmacher von 1912, die diese Neuerung damals erstmals anboten. Das gilt auch für den Kurzführer, der den Besuchern vor einhundert Jahren als Handreichung zur Orientierung überhaupt in einer Ausstellung mitgegeben wurde. Heute ist daraus ein lesenswerterüber 600 Seiten starker Katalog geworden, der die damalige und heutige Ausstellung komplett dokumentiert.
Bis 30. Dezember, di bis so 10 bis 18 Uhr; do 10 bis 21 Uhr.
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