Zusammenfassung
Die Realität ist nach Bergson nicht durch den Intellekt, sondern durch die Intuition zu verstehen. Bergson versteht die Intuition als ein Erfassen der Dauer. Sie macht das Wesen der Philosophie aus. Bergson betont, dass der Mensch zu der intuitiven Erkenntnis bzw. zu der Intuition fähig sei und durch die Intuition die absolute Wirklichkeit erkennen könne. Bergson bezeichnet Instinkt als angeborene Erkenntnis einer Sache. Intellekt dagegen ist die Fähigkeit, anorganische, d.h. künstliche Werkzeuge zu verfertigen. Die instinktive Erkenntnis ist spezialisiert zu besonderen Handlungen. Deswegen hat der Instinkt keine Fähigkeit, die vollständige Erkenntnis der Realität zu geben. Der Instinkt, damit auch die Intuition, kann erst dann eine Erkenntnis werden, wenn sie die Analyse und Reflexion des Intellektes in Anspruch nimmt, sonst verstummt sie in der Innerlichkeit des bloßen Fühlens. Bergson bezeichnet die Intuition in Bezug auf die Erkenntnis als metaphysische Funktion des Denkens. Gegenüber diesem geistigen Bereich stellt Bergson die Intelligenz. Diese Unterscheidung darf aber gemäß Bergsons Erkenntnistheorie nicht dazu führen, dass die Intuition die einzige echte Erkenntnisquelle sei, obwohl sie den anderen Erkenntnisformen überlegen ist. Bergson versucht zu zeigen, dass der Intellekt, der uns in die Materie einführt, und die Intuition, die uns in das Wesen des Lebens als Ganzes versetzt, keine Gegensätze bilden, sondern sie brauchen sich gegenseitig und ergänzen sich.
Zum Autor
Geb. 04.05.72 in Kayseri/Türkei. Studium an der Universität Atatürk und Freiburg i.Br (2000). Promotion an der Universität Freiburg (2005). Zur Zeit arbeitet er als Dozent am Philosophisches Seminar an der Universität Mersin/Türkei.
Die Intuition ist ein wichtiger Begriff in Bergsons Philosophie.1 Sie ist nicht nur ein reiner Begriff, sondern hat auch verschiedene Dimensionen in Bezug auf Erkenntnis, Dauer und Intellekt.2
Die Natur hat für die Lebewesen zwei Mittel zur Erfüllung ihrer Aufgabe bereitgestellt. Den einen gab sie Instınkt, den andern den Verstand. Die Tiere handeln ohne Wahl, ohne Bewusstsein und ohne Nachdenken. Der Intellekt befähigt den Menschen, die Materie und ihre Verhältnisse zu erkennen, zu beurteilen und zu vergleichen. Trotzdem sind Instinkt und Intellekt voneinander nicht ganz getrennt. Der Mensch hat auch andere Erkenntnismittel, nämlich Intuition. Diese hat ihre Wurzeln im Instinkt, ist aus ihm hervorgegangen. Das aber nicht so zu deuten, dass Intuition und Instinkt ähnlich sind. Intuition ist der seiner selbst bewusst gewordene Instinkt, der über seinen Gegenstand reflektiert und ihn ins Unendliche erweitert.
Wir wollen hier durch Bergsons Philosophie zeigen, dass Intuition und Intellekt zwei verschiedene Erkenntnis- und Denkweise des Menschen sind. Damit zusammenhängend sollteman betonen, dass nur jene mit Intelligenz ausgestatteten Wesen durch Bemühen die Intuition erreichen können; das instinktive Tier kann das nicht. Wir werden auch versuchen zu zeigen, dass der Intellekt der Übergang vom Instinkt zur Intuition ist; er kann damit beim spirituellen Fortschritt nicht völlig ausgeschaltet werden. In Bezug auf Erkenntnis gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Intuition und Intellekt. Die Erkenntnis der materiellen Welt obliegt nach Bergson dem Verstand (der Wissenschaft), der zugleich zur Erkenntnis des Lebens als schöpferischem Prozess untauglich ist. Als Organon zur „Erkenntnis“ des Lebens wird die Intuition aufgefasst. Die durch Intuition gewonnenen „Erkenntnisse“ können im Unterschied zu den Erkenntnissen des Verstandes nicht klar und deutlich ausgedrückt werden, sondern nur Beispiel oder Anregung dafür sein, dass andere zu ähnlichen intuitiven Einsichten gelangen. In diesem Zusammenhang ist unser Anliegen, jene Feststellung zu erklären, dass die Intuition eine Verknüpfung von Instinkt und Intellekt darstellt.
Wir beginnen mit der Frage “was ist Intuition für Bergson?“. Dann wird die Beziehung zwischen Intuition und Erkenntnis dargestellt werden und anhand dieser Darstellung soll der Zusammenhang zwischen Instinkt und Intellekt in Bezug auf die Intuition etwas ausführlicher zum Vorschein kommen. Als Schlussbemerkung soll eine allgemeine Bewertung der Intuition (als Methode oder als eine Erkenntnisquelle usw.) geschildert werden.
In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, unsere eigene Position klar zum Ausdruck zu bringen. Wir sind der Meinung, dass die Menschen bei gewissen Bereichen intuitive Erkenntnisfähigkeit haben könnten. Sie ist zum Beispiel in Kunst und in Literatur zu finden. Aber diese Fähigkeit darf in ihrer Wertigkeit nicht übertrieben werden. Das heisst, dass die Intuition nicht als eine allgemeingültige Wirklichkeit und Erkenntnisquelle für alle Menschen betrachtet werden darf. Demgegenüber ist der Intellekt bei Erwerb von Erkenntnis das einzige gemeinsame Mittel, das jeder und jedem gleichermaβen gegeben worden ist. Diesbezüglich kann die Intuition die Wirklichkeit nicht allein darstellen. Die Intuition nur eine Hinweis auf die Wirklichkeit oder eine Interpretation der subjektiven Welt sein.
Beginnen wir nach diesen einführenden Worten mit der Frage „was ist Intuition für Bergson?“. Diese Frage hängt vor allem von der Grundhaltung Bergsons gegenüber der Wissenschaft und Philosophie seiner Zeit ab. Er betont und klagt oftmals, dass die Wissenschaft und Philosophie die Bedeutsamkeit der Tatsache der Zeit nicht gerecht behandelten, also in gewisse Weise die Zeit ‚vernichtet’ hätten. Der Grund dafür ist ihm zufolge, dass Philosophie und Wissenschaft sich mit der Behandlung ihrer traditionellen Begriffe begnügten, aber nicht auf die Realität selbst blickten. Statt dessen will Bergson ein einfaches, tieferes, vorurteilloses Sehen entwickeln. Bergson nennt diese direkte Schau des Geistes Intuition. „Die Intuition leistet, was Intelligenz niemals kann: Sie bringt uns in die Welt, wie sie ist, ohne auf utilitaristische Erwägungen Rücksicht zu nehmen.“3
Da der Mensch ein soziales Wesen und sein Verstand auch dem sozialen Leben verhaftet ist, fällt es ihm schwer, sich auf sein eigenes inneres Leben zurückzuziehen. Wenn man dies nicht macht, kann man auch seine eigene Dauer nicht erfassen, d.h. zur Intuition nicht gelangen. Nur der Mensch vermag, aufgrund seiner Freiheit, die Fähigkeit zur Intuition zu haben.4
Die „Intuition“ wird von Bergson in den früheren Schriften in wenigen Stellen benutzt. Er gibt die Begriffserklärung zur Intuition erstmals in „Einführung in die Metaphysik“, dann auch in „Schöpferische Entwicklung“. Da danach seine Intuitionsauffassung stark kritisiert wurde, gab Bergson eine noch ausführlichere Erklärung zur Intuition im zweiten Teil seiner Einleitung für den Aufsatzband „Denken und Schöpferisches Werden“. Damit zusammenhängend entwickelt Bergson seinen Intuitionsbegriff unterschiedlich. Am Anfang wurde er als ein Ideal der Introspektion gedacht, d.h. als eine vollzogene Erfassung des Subjekts durch sich selbst. Später wurde er mit der Dauer in Verbindung gesetzt, weil das Ich, das Subjekt in der Dauer gegeben und durch sie konstituiert ist. Aufgrund dessen wird die Intuition bei Bergson immer als ein Erfassen der Dauer verstanden. Er versteht die Intuition, wie die Dauer, als ein Erfassen einer komplexen Mannigfaltigkeit in einer lebendigen Einheit.
Wie sollte man die Intuition verstehen, die zum Verständnis des inneren Lebens beiträgt? Bergson definiert sie als Geist, der nicht von der Materie geschluckt wird, „der gleichsam überschießt und seine Aufmerksamkeit auf sich selbst richtet.“ (DW 97)5 Die Intuition bezieht sich vor allem auf die innere Dauer. Sie ist die direkte Schau des Geistes durch den Geist (vgl. DW 44). In diesem Sinne hat die Intuition keinen mysteriösen Charakter. Sie verlangt auch kein besonderes neues Vermögen, das man nicht hat.
Die absolute Realität kann erst dann erfasst werden, wenn wir uns in die Dauer hineinversetzen, d.h. wenn wir uns auf unser inneres Leben vertiefen und unsere Aufmerksamkeit auf das Werden, was wir wirklich sind, konzentrieren. So verstandene Dauer kann nur durch die Intuition verstanden werden. In diesem Sinne unterstützen sich die Dauer und die Intuition gegenseitig. Die Intuition, die ihr Ziel erreicht hat, fällt mit der Dauer zusammen, weil der Unterschied zwischen Dauer und Intuition dadurch beseitigt wird, dass die Intuition ihren Gegenstand, d.h. die Dauer ganz erfasst. Wenn die Intuition ihr Ziel vollständig erreicht, dann hat man nicht mehr den Unterschied zwischen dem erkennenden Subjekt und seinem Gegenstand. Subjekt und Objekt sind dasselbe. Dadurch erreicht die Intuition das Absolute. Absolut ist ein Synonym der Vollkommenheit (vgl. EM 3)6. Die „Intuition“ soll einerseits der Weg heißen, der zu dieser Vollkommenheit führt. Andererseits bedeutet sie aber auch die Verwirklichung dieser Vollkommenheit, weil das Ziel des Weges von dem Weg selbst nicht zu trennen ist.
Die Intuition erstreckt sich von der Materie bis zur mystischen Gottesschau. Wenn man durch sein ganzes Leben auf sich selbst konzentriert und alle Kraft seines Seins in einem Punkt zusammenzieht, dann kann die Spannung seiner Dauer riesig gesteigert werden und somit ein Berühren des tiefsten Urgrundes des ganzen Seins geschehen.7 Es wäre dann die mystische Intuition, die Bergson als höchste Art der Intuition annimmt und in „Die beide Quellen der Moral undder Religion“ ausführlich behandelt.8
Bergson weist in „Materie und Gedächtnis“ die verschiedenen Arten der Intuition auf, wie es verschiedene Spannungsstufen der Dauer gibt. Aber die verschiedenen Arten der Intuition haben denselben Gegenstand, nämlich die Dauer. „Ohne Zweifel vermag die Intuition sehr viele verschiedene Grade der Intensität anzunehmen.“ (DW 146) Diese Spannungsweite der Intuition ist nach Bergson notwendig; wenn es sie nicht gäbe, würde sich die Intuition nur in der höchsten Höhenlage bewegen.
Diese Spannungsweite der Intuition hängt mit der Anstrengung der Intuition zusammen. Der Anstrengung der Intuition entspricht die hemmende oder steigende Kraft des Wollens. Bergson vergleicht die Intuition in Bezug auf ihre Reinheit mit dem Dämonischen des Sokrates. Sie verhalte sich im spekulativen Gebiet so wie das Dämonische im praktischen Leben.9 Diese Intuition erschließt uns den Zugang zu einem tiefen Grunde des Seins, „zu dem Leben, und beansprucht, es allein erkennen zu können.“10 Sie hat die Fähigkeit, uns dem Ziele der Erkenntnis, der Wahrheit näher zu bringen. Damit zusammenhängend nimmt Bergson an, dass die Intuition eine Erkenntnisquelle des Menschen, wie der Intellekt, ist.
Nach Bergson macht die Intuition das Wesentliche der Philosophie aus, obwohl sie im allgemeinen, wie er selber sagt, als wankend und schwach bezeichnet werden kann. Er versucht von Anfang an durch seine ganze Lehre, die Inkommensurabilität zwischen seiner einfachen Grundintuition und den Ausdrucksmitteln zu beseitigen. Seine ganze Arbeit besteht darin, diese flüchtige Intuition zu erklären. Sie ist aber nicht durch die Analyse zu erschöpfen.
Die von Bergson als Maßstab vorgeschlagene intuitive Methode ist nicht bloße Annahme. Nach ihm ist sie als Möglichkeit im Bereich des menschlichen Geistes bewiesen worden. Bergson sieht diese Möglichkeit der Intuition in der ästhetischen Fähigkeit des Menschen. Im Gegensatz zu einem durchschnittlichen Menschen, der nur eine Anhäufung der voneinander getrennten Gegenstände erblickt, hat der Künstler die Fähigkeit, durch die ästhetische Intuition diese Getrenntheit zu überwinden, sich in die Gegenstände zu versenken. Man kann sich in das Innere des Gegenstandes nur durch die Sympathie versetzen. Diese Anstrengung der ästhetischen Intuition ermöglicht uns, die gewöhnliche Wahrnehmung und deren Schranke niederzureißen und das Wesen der Dinge zu erfassen. Wir können nur durch die ästhetische Intuition unsere individuelle Begrenztheit überwinden. In ähnlicher Weise kann die philosophische intuitive Erkenntnis ihren Gegenstand direkt erfassen und durch solche Sympathie in direkte Gemeinschaft mit ihm kommen. Die philosophische Intuition ist nichts anderes als dieser innere Kontakt mit der Wahrheit selbst, sogar: „die Philosophie ist dieser Elan.“ (DW 144)
Trotz verschiedener Eigenschaften, die man noch zählen kann, stellt Bergson fest, dass die Intuition empirisch nicht zu definieren ist. Bergson lehnt es ab, eine einfache und analytische Definition zu geben.11 Die Intuition wird sich „nur durch die Intelligenz mitteilen können.“ (DW 58)12 Obwohl die Intuition durch die Intelligenz mitteilbar ist, braucht unsere Intelligenz die Intuition, um sich zu korrigieren und sich wieder zu besinnen. „Sobald wir intuitiv das Wahre erfasst haben, besinnt sich unsere Intelligenz wieder, korrigiert sich und formuliert intellektuell ihren Irrtum. Sie hat von der Intuition den Anstoß bekommen; sie ermöglicht nur die nachträgliche Kontrolle.“ (Vgl.DW 80) Die Intelligenz kann aber das Absolute nicht begreifen. Es ist richtig, dass ein Absolutes nur in einer Intuition gegeben werden kann, während alles übrige zum Bereich der Analyse gehört. „Wir bezeichnen hier als Intuition die Sympathie, durch die man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um mit dem, was er Einzigartiges und infolgedessen Unaussprechliches an sich hat, zu koinzidieren.“ (DW 183) Es gibt bestimmt eine Wirklichkeit, „die wir alle von innen her durch Intuition und nicht durch einfache Analyse erfassen, das ist unsere eigene Person in ihrem Fluss durch die Zeit.“ (DW 184) Es wäre ein großer Fehler, wenn man die Intuition mit der Analyse gleichsetzte. Es ist auch ein großer Irrtum der Philosophen, die eine Intuition behaupten möchten, aber in einer seltsamen „Inkonsequenz erwarten sie diese Intuition von der Analyse, die gerade deren Negation ist.“ (DW 195)
Bergson ist der Meinung, dass der Mensch neben der Erkenntniskraft des Verstandes noch eine andere Erkenntniskraft, nämlich Intuition besitzt. Um dies zu verstehen, muss sich die Erkenntnistheorie am Leben orientieren.
Wir wollen jetzt einen Blick darauf werfen, wie die Erkenntnis mit der Intuition zusammenhängt. In diesem Sinne möchten wir auch zeigen, wie der Intellekt ein Übergang vom Instinkt zur Intuition ist.
Bergson stimmt mit Kant darin überein, dass alle Erkenntnis nur durch Anschauung und Erfahrung möglich ist. Aber er versteht unter Anschauung nicht die äußere Wahrnehmung, sondern eine Besitzergreifung des Geistes durch sich selbst. Bergson behauptet, dass unsere Erkenntnis weder subjektiv noch relativ ist. Sie ist nicht subjektiv, weil unsere Erkenntnis mehr von den Dingen als von uns abhängt, und nicht relativ, weil zwischen der Erscheinung und dem Ding die Beziehung des Teiles zum Ganzen, nicht die Beziehung des Scheines zur Wirklichkeit, besteht.
Der Begriff „Sympathie“ ist ein Schlüsselbegriff zum Verständnis von Bergsons Erkenntnisphilosophie. Bergson bezeichnet sie als Bindeglied zwischen der intuitiven Erkenntnis und ihrem Gegenstand.13 Das erkennende Subjekt setzt sich mit dem Objekt nur durch die Sympathie, die Bergson als Intuition beschreibt, in Verbindung. Ich versetze mich dadurch in das Innere eines Gegenstandes, um mit dem, was er Einzigartiges hat, zusammenzufallen (vgl. DW 182).14 „Wenn die Intuition eine absolute Erkenntnis sein soll, so muss sie eine Art Sympathie, ein ‚Sichhineinversetzen’ in und ein ‚Zusammenfallen’ mit dem Gegenstande sein.“15 Diese Tatsache, so meint Bergson, bildet die Grundlage unserer Erkenntnis überhaupt. Diese Annäherungsmöglichkeit, die durch die solidarisch-sympathische Verbindung mit den Objekten zustande kommt, wird von Bergson immer wieder hervorgehoben und auf die Möglichkeit und Notwendigkeit der Intuition hingewiesen. Bergson versteht solche Intuition im Gegensatz zum Intellekt als allgemeine Erkenntnismöglichkeit, als „ein im gleichen Sinn orientiertes Suchen, das sich das Leben (…) zum Gegenstand wählt.“ (SE 182)16. Die Aufgabe der Intuition ist es nicht, den Intellekt zu ersetzen (weil Intellekt und Intuition zwei Erkenntnisart des Menschen sind); dessen Erkenntnisbereich erkennt Bergson vollkommen an; nein, es ist gerade ihre Aufgabe, die Grenzen dieses Bereichs zu erkennen und abzustecken. Die Intuition hat, nachdem sie den Rahmen der Verstandesmöglichkeiten abgegrenzt und beschränkt hat, die Mittel aufzuzeigen, diesen Rahmen wieder zu sprengen, d.h., der Erkenntnis mächtig zu werden, die dem ‚reinen Intellekt’ allein nicht zugänglich ist. Dieser Aufgabe wird die Intuition nur in beschränktem Maße (in Verstandesrelationen) gerecht. Was die Intuition anstelle einer Gewissheit liefern kann, ist allein eine „Ahnung“ und ein „Gefühl“ (vgl. SE 182).
Der Intellekt wird so in Bergsons Erkenntnistheorie nicht verneint, sondern in seinem Rahmen als notwendig erkannt. Bergson akzeptiert den Intellekt als eine Form der Erkenntnis. Wenn Intellekt und Instinkt17 Erkenntnisse in sich bergen sollten, so ist Erkenntnis im Fall des Instinktes eher unbewusst, im Falle des Intellekts eher gedacht und bewusst. So ergibt sich, dass „diese angeborene Erkenntnis im ersten Fall auf Dinge, im letzten auf Beziehungen gehen.“ (SE 153) Der Intellekt als etwas Angeborenes ist die Erkenntnis einer Form, Instinkt die Erkenntnis eines Stoffes. Wenn man sich auf den Standpunkt des Erkennens statt des Handels stellt, sieht man, dass Intellekt und Instinkt zwei „divergierende Erkenntnisarten“(SE 155) sind. In diesem Zusammenhang machen Erkennen und Handeln nur verschiedene Aspekte ein und desselben Vermögens aus. „Instinkt also ist angeborene Erkenntnis einer Sache. Intellekt dagegen ist die Fähigkeit, anorganische, d.h. künstliche Werkzeuge zu verfertigen.“ (SE 155)18
Da der Instinkt dieMaterie einschließt, ist das Wissen des Instinkts nach Bergson gewissermaßen nichtwissendes Wissen. Es veräußerlicht sich in bestimmten Umständen, statt sich zu verinnerlichen. Während die intellektuelle Erkenntnis die Fähigkeit hat, Schlüsse zu ziehen, lässt sich instinktmäßige Kenntnis in kategorischen Sätzen formulieren. Im Gegensatz zur Schlussfolgerung aus Prämissen, die deduktiv aus der Erfahrung auf das zu Schließende fortschreitet, die aus den Bedingungen auf das Bedingte schließt, die nur hypothetisch ausdrückbar ist, bestimmt die instinktmäßige Erkenntnis die einzelne Gegenstände in ihrer Stofflichkeit selbst. „Sie sagt ‚dieses Ding ist’.“ (SE 154) Die formale Erkenntnis des Intellekts hat vor der materialen Kenntnis des Instinkts den Vorteil, dass sie sich füllen kann, weil sie leer ist. Deswegen bleibt sie nicht auf das Nützliche beschränkt, obwohl sie im Grunde genommen um praktischer Nützlichkeit willen auf der Welt erschienen war (vgl. SE 156).
Die instinktive Kenntnis hat ihre Wurzel in der Einheit des Lebens. Sie braucht nur erweitert und vertieft zu werden, damit sie die zeugende Kraft des Lebens erkennen kann. Man hat aber festzuhalten, dass die instinktive Erkenntnis noch keine intuitive Erkenntnis ist. Die instinktive Erkenntnis ist spezialisiert zu besonderen Handlungen. Sie orientiert sich eher auf die Praxis. Deswegen hat der Instinkt keine Fähigkeit, die vollständige Erkenntnis der Realität zu geben. Der Instinkt, damit auch die Intuition, kann erst dann eine Erkenntnis werden, wenn sie die Analyse und Reflexion des Intellektes in Anspruch nimmt,19 sonst verstummt sie in der Innerlichkeit des bloßen Fühlens, das sich weder begreifen noch ausdrücken lässt.
Bergson bezeichnet die Intuition in Bezug auf die Erkenntnis als metaphysische Funktion des Denkens, nämlich die intime Kenntnis des Geistes durch sich selbst. Gegenüber diesen geistigen Bereich stellt Bergson die Intelligenz, die dazu geschaffen ist, die Materie zu erkennen. Sie ist unfähig, bis zum innersten Wesen des Objekts vorzudringen. Diese Unterscheidung, die Bergson manchmal zwischen Intellekt und Instinkt oder zwischen Intellekt und Intuition macht, darf aber gemäß Bergsons Erkenntnistheorie nicht dazu führen, dass die Intuition die einzige echte Erkenntnisquelle sei, obwohl sie den anderen Erkenntnisformen überlegen ist. Bergson versucht zu zeigen, dass der Intellekt, der uns in die Materie einführt, und die Intuition, die uns in das Wesen des Lebens als Ganzes versetzt, keine Gegensätze bilden, sondern sie brauchen sich gegenseitig und ergänzen sich. Man kann sich weder mit der intellektuellen noch mit der intuitiven Erkenntnis begnügen. Trotz der Klarheit und Deutlichkeit der intellektuellen Erkenntnis, fehlt bei ihr die grundlegende Erklärung, wie der Mensch als erkennendes Subjekt mit der Zeitlichkeit und Lebensströmung zusammenhängt. Entgegengesetzt verhält es sich mit der intuitiven Erkenntnis: Sie lässt den Menschen seine Zeitlichkeit erfahren, Klarheit und Deutlichkeit lässt sie aber vermissen, solange sie ohne ihre Partnerin, die intellektuelle Erkenntnis, auftritt. Diese Tatsache bestätigt, wie wir am Anfang festgestellt haben, dass die intuitive Erkenntnis ohne intellektuelle Erkenntnis unvollendet bleibt.
Aufgrund der Natur der Intuition und des Intellekts entwickelt Bergson in „Schöpferische Entwicklung“ den Begriff der philosophischen Intuition. Es ist so zusammenzufassen, dass die Philosophie zur absoluten Erkenntnis von der Gesamtheit des Seins strebt. Diese Gesamtheit enthält zwei verschiedene Seinssphären. Die sind das Leben, das als werdende Realität verstanden wird und die tote Materie, die als entwerdende Realität gefasst wird. Der Intellekt kann diese Erkenntnis von der Gesamtheit des Seins nicht geben, weil er eine bloße Tendenz aus der ganzen Mannigfaltigkeit von Entwicklungstendenzen und selber ein Entwerden ist. Dies kann nur von einem Insichaufnehmen von allen Tendenzen des Seins, d.h. nur durch eine das All umfassende Metaphysik, die sowohl die Intuition als auch den Intellekt einschließt, geschaffen werden. Aufgrund der philosophischen Intuition definiert Bergson das Philosophieren als unmittelbares, intuitives Erfassen der Welt.20 In diesem Sinne soll die Intuition „die Fülle aller Erscheinungen als Totalität in einem Blick umspannen und ungeteilt aufnehmen in das Reich des Wissens.“21
Bergson wird wegen dieser Intuitionslehre mit Recht mehrmals angegriffen. Der Haupteinwand gegen ihn ist die Unmöglichkeit des Daseins der Intuition. Es darf solche Intuition, die als unmittelbare, vom Intellekt freie Realität wäre, nicht geben. Bergson sah solche Einwände voraus und antwortete auf manche von ihnen. Er ist der Meinung, dass der Intellekt allein nicht die Realität begreifen kann. Man kann den Verstand, der begrenzt ist, nicht mit die Hilfe des Verstandes überholen. Er sperrt uns in den Kreis des Gegebenen. Die Realität ragt aber darüber hinaus. Wenn man mit dem Verstand über die Grenzen der Erkenntnis reflektiert, dann kommt man zum Ergebnis, dass es unmöglich ist, den Verstand zu überschreiten. Die Wirklichkeit fordert uns aber immer dazu auf vorwärts zu gehen (vgl. SE 197).22
Begriffe wie Intuition, Instinkt, Intellekt, Erkenntnis sind bei Bergson aufeinander bezogen. Um die Beziehung zwischen Intuition und Erkenntnis besser zu verstehen, sollte man den Zusammenhang zwischen Instinkt und Intellekt in Bezug auf die Intuition darstellen.
Es ist eine berechtigte Frage, woraus die Intuition stammt. Wie bringt Bergson das Verhältnis zwischen Instinkt, Intellekt und Intuition in Verbindung? Bergson nennt die Intuition den seiner selbst bewusst gewordenen Instinkt,23 der fähig ist, „über seinen Gegenstand zu reflektieren und ihn ins Unendliche zu erweitern.“ (SE 181)24 Bergson lässt Instinkt und Intellekt beim Zustandekommen der Intuition beteiligt sein. In diesem Sinne versteht Bergson die Intuition als eine Verknüpfung von Instinkt und Intellekt. Es wäre für uns hilfreich, um die Intuition besser zu verstehen, wenn man Instinkt und Intellekt genau definieren könnte. So „lassen [aber] weder Intellekt noch Instinkt strenge Definitionen zu; sie sind Tendenzen, nicht fertige Dinge.“ (SE 141) Instinkt und Intellekt sind nicht in ganz reinem Zustand vorzufinden, weil aller „konkrete Instinkt mit Intelligenz gemischt, und jeder reale Intellekt von Instinkt durchtränkt ist.“ (Ebd.)
Der Instinkt und der Intellekt haben aber eine gemeinsame Quelle, nämlich das Leben (vgl. SE 140). Sie sind in entgegengesetztem Sinne ausgerichtet, Intellekt auf die Materie, Instinkt auf das Leben. Sie sind dennoch zwei divergierende Entwicklungen eines und desselben Prinzips, das im ersten Fall in sich selbst immanent bleibt, im anderen Fall, sich aus sich selbst heraussetzt und in Benützung der toten Materie aufgeht. (SE 145)Bergson betont mehrmals die Fähigkeit der Verfertigung und Benützung anorganischer Werkzeuge des Intellekts, als ob der Intellekt nur dazu fähig wäre.Diese Hervorhebungsart des Intellektswird von R. Richter mit Recht folgendermaßen kritisiert: „Bergson ist mit seiner Geringschätzung der ratio als Erkenntnisorgan zu weit gegangen und hat seine denkerische Funktion zu bloßer Handlungsarbeit verurteilt, ja, zu mechanistischer Materialität gemacht, die wir in der Bedeutung für die Geschichte des Geistes und der Menschheit doch im weiten Maße anerkennen und positiv bewerten müssen.“25
Bergson formuliert den grundlegenden Unterschied zwischen Instinkt und Intellekt: „Es gibt Dinge, die einzig der Intellekt zu suchen vermag, die er jedoch aus sich selbst heraus niemals finden wird. Diese Dinge finden könnte nur der Instinkt; er aber wird sie niemals suchen.“(SE 156) Dementsprechend stellt Bergson die weitere tiefgreifende Strukturverschiedenheit zwischen Instinkt und Intellekt fest, dass Instinkt und Intellekt zwei radikal verschiedene Bewusstseinsformen in sich einschließen. Folglich taucht die Frage auf, in welchem Grade der Instinkt bewusst ist. Es gibt unzählige Abstufungen und Unterschiede des Instinkts und dessen Bewusstheit. „Die Pflanze z. B. hat (…) Instinkte: zweifelhaft aber ist, ob diese Instinkte von Empfindung begleitet sind. Ja, auch beim Tier findet sich kaum ein zusammengesetzter Instinkt, der nicht in einem Teil seiner Maßnahmen wenigstens, unbewusst wäre.“ (SE 148) Aus diesem Grunde betont Bergson ganz deutlich, dass der Intellekt mehr auf Bewusstsein, der Instinkt mehr auf Unbewusstheit eingestellt werden kann.
Unser Intellekt richtet sich zuerst auf die Materie, er denkt nämlich mehr praktisch. Er hat aber nicht nur diese, sondern auch andere Fähigkeiten. Er kann seine natürliche Richtung aufgeben und sich selbst zukehren. Ohne diese Aufgaben zu erledigen, kann er nicht die wahre Kontinuität, die reale Bewegtheit und die schöpferische Entwicklung denken.
Der Intellekt behandelt alle Dinge mechanistisch. Der seine natürliche Richtung nicht verändernde praktische Intellekt bestimmt sich durch eine natürliche Verständnislosigkeit für das wirkliche Leben, während der Instinkt sich nach der Form des Lebens gestaltet. Der Intellekt stellt das Werden als eine Reihe von Zuständen vor, deren jeder in sich homogen ist und sich nicht verändert. Er anerkennt kein Unvorhersehbares. (SE 168) Der Intellekt erklärt das Unvorhersehbare und das Neue durch deren Zurückführung auf bekannte oder frühere Elemente (deswegen fühlt sich der Intellekt in der Vergangenheit wohl). Der Intellekt erkennt das restlose Neue genau so wenig, wie das radikale Werden. Der Intellekt versäumt hier einen wesentlichen Aspekt des Lebens. Der Intellekt deckt seine Unzulänglichkeit sofort auf, sobald er an das Lebendige rührt. „Denn ob es nun darauf ankomme, das Leben des Körpers oder das Leben des Geistes zu behandeln, immer verfährt er mit der Schärfe, der Starrheit, der Brutalität eines Werkzeuges, das zu solchem Gebrauch nicht geschaffen ist.“ (SE 169-170) Durch den so verstandenen Intellekt kann man das wirkliche Leben nicht verstehen. Der Instinkt sieht aber die Dinge organisch. Diesem Instinkt kommt das virtuelle Bewusstsein zu. Es gibt eine Kraft, die dem Leben innewohnt, die gezwungen ist, zwischen Instinkt und Intellekt zu wählen. Wenn der Instinkt, der auch Sympathie ist, durch den Intellekt vertieft und erweitert werden könnte, würde er uns den Schlüssel des Lebensgeschehens geben. Das Leben, d.h. „das durch die Materie geschleuderte Bewusstsein“ (SE 186), kann seine Aufmerksamkeit entweder auf seine eigene Bewegung oder auf die Materie richten, die ‚durchquerte’. „Es orientierte sich so im Sinn der Intuition einerseits, des Intellekts andererseits. Auf den ersten Blick nun scheint die Intuition dem Intellekt weitaus vorzuziehen, da in ihr Leben und Bewusstsein sich selbst immanent bleiben.“ (SE 186) Die Entwicklung des Lebewesens aber zeigt uns, dass das Leben auf dem Wege der Intuition nicht weiterkommt. Die Intuition muss sich zum Instinkt verengen, um einen winzigen Ausschnitt des Lebens umspannen zu können, sie muss das Leben berühren, ohne es zu sehen.
Der auf die Materie gerichtete Intellekt kann sich aus diesem Zwang befreien. Da der Intellekt sich an die äußeren Gegenstände anpasst, gelangt er dazu, von einem Ding zum anderen überzugehen, die Schranken zu beseitigen, die ihm entgegenstehen, und sich ins Unendliche zu erweitern. Der so frei gewordene Intellekt vermag sich „nach innen zurückzuwenden, und die ihm noch schlummernden Möglichkeiten der Intuition zu wecken.“ (SE 187) Aus diesem Gesichtspunkt gewinnt der Mensch innerhalb der bewussten Geschöpfe eine höhere Stellung. Nachdem sich das Bewusstsein um der eigenen Befreiung willen in zwei komplementäre Elemente, „in Pflanze und Tier, hat spalten müssen, suchte es einen Ausweg in der zweifachen Richtung von Instinkt und Intellekt: es hat ihn nicht im Instinkt, sondern im Intellekt nur durch jähen Sprung vom Tier zum Menschen gefunden. (SE 189)
Bergson stellt ganz deutlich fest, dass die Intuition über den Intellekt hinauswächst. Trotzdem bleibt doch der Intellekt bestimmend. „Ohne den Intellekt wäre sie, als Instinkt, an die besonderen, ihr praktisch wichtigen Gegenstände geschmiedet geblieben, und wäre durch ihn zu Ortsbewegungen veräußerlicht worden.“ (SE 182-183)26
Die Funktion des menschlichen Intellekts ist das Handeln und das Wissen um das Handeln. Er soll auch mit der Realität in Kontakt treten. Dadurch wird er verstehen, was das Leben ist. Bergson lehnt in diesem Sinne die Schilderung des Intellekts von Platon ab. Seine Funktion ist nicht mehr, sagt Bergson, „leere Schatten vorübergleiten zu sehen, nicht mehr, jenseits seiner selbst gewandt, das aufglühende Gestirn zu schauen. Er hat anderes zu leisten.“ (SE 196)
Unser Intellekt stellt deutlich nur Diskontinuierliches vor, weil man in der Materie nur Diskontinuierliches findet. Wir haben aber immer mit bewegten Dingen zu tun. Unsere Handlungen bearbeiten unzweifelhaft die bewegten Körper. Die Beweglichkeit und deren Fortschreiten sind der Kern des Lebens aber auch der Natur. Von dieser Beweglichkeit kehrt sich unser Intellekt ab, weil er kein Interesse daran hat, sich mit der Beweglichkeit zu befassen. Die Bewegung ist die Realität selbst, und die Bewegungslosigkeit ist nur scheinbar und relativ. Unser Intellekt stellt nur die Bewegungslosigkeit vor (vgl. SE 160). In der Tat kann auch die Kontinuität des Lebens nicht vom Intellekt gedacht werden. Dies kann nur durch die Intuition verstanden werden.
Trotz ihrer scheinbaren Überlegenheit ist die Intuition in ihrem Zustandekommen, in ihrer Nachprüfung und in ihrer Mitteilung vom Intellekt abhängig. Bergson definiert die Intuition einmal als eine Rückwendung des Intellekts gegen sich selbst. Es ist eine Verkehrung gegen seine eigene Richtung, die eher vom Instinkt angeregt wird, der zwar nicht zum Bereich des Verstandes gehört, aber auch nicht außer dem Ganzen des Geistes liegt (vgl. SE 179). Zum anderen definiert Bergson die Intuition als einen seiner selbst bewusst gewordenen Instinkt, der fähig ist, über seinen Gegenstand zu reflektieren und ihn ins Unendliche zu erweitern (vgl. SE 181). Es sind zwei sich widersprechende Definitionen, weil im ersten Fall der Intellekt vom Instinkt zur Intuition angeregt wird. Im zweiten Fall ist der Instinkt, der mit Verstandesfähigkeiten ausgestattet wird, die Intuition selbst. Bergson geht auf diesen Widerspruch nicht ein und gibt keine Erklärung, wie er möglich wird. Trotz diesem ungeklärten Widerspruch wehrt Bergson sich streng dagegen, dass seine Intuition als eine Art von Instinkt oder Gefühl verstanden wird. Er sagt im Gegenteil, dass seine Intuition Reflexion ist. „Wir verlieren kein Wort über denjenigen, der meint, dass unsere Intuition Instinkt oder Gefühl wäre. Keine Zeile von dem, was wir geschrieben haben, legt solche Auffassung nahe, und in allem, was wir geschrieben haben, liegt die Behauptung des Gegenteils, nämlich dass unsere Intuition Reflexion ist.“ (DW106)27
Solche Intuition ist aber nicht leicht zugänglich. Sie ist erst dann zugänglich, wenn man die Bedingungen dafür erfüllt oder die nötige Grundlage vorhanden ist. Diese fundamentale Grundlage wird durch die Intelligenz konstruiert. Die Intelligenz ist aber in reiner Form nicht vorzufinden. Man kann in ihr immer mehr oder weniger die Instinktspuren auffinden, wie auch im Instinkt etwas vom Intellekt aufzufinden ist. Zum Beispiel begegnen wir bei der Biene, bei der der Instinkt seine höchste Ausprägung findet, schon Spuren des Intellekts, weil ihre Handlungen verstandgemäß sind. Sie verhält sich so, als ob sie wirklich intelligent wäre.
Die Intelligenz kann nichts Neues schaffen. Sie kombiniert und trennt; sie verknüpft und koordiniert, aber sie erschafft nichts. „Sie bedarf eines Stoffes, und dieser Stoff kann ihr nur von den Sinnen und dem Bewusstsein geliefert werden.“ (DW 152) Die Intuition kann erst dann ein Wirkungsfeld finden, wenn die Gedankenarbeit der Intelligenz vorweg schon geleistet ist.28 Die Intelligenz ist nicht nur als Arbeitsgrundlage für die Intuition wichtig, sondern ist auch bei der Entstehung der intuitiven Erkenntnis als Wegweiser beteiligt. Neben solcher Eigenschaften hat der Intellekt noch eine wichtige Funktion, nämlich die Überprüfung der Intuition, weil sie sich nicht selbst überprüfen kann. Diese Überprüfung wird durch Dialektik durchgeführt. „Die Dialektik ist notwendig zur Nachprüfung der Intuition.“ (SE 242) Denn sie ist es, welche die Übereinstimmung unseres Denkens mit sich gewährleistet. Die Dialektik ist nicht nur zur Nachprüfung der Intuition notwendig, sondern auch für ihre Mitteilung. Sie ist notwendig, „damit die Intuition sich in Begriffen breche und anderen Menschen mitteile.“ (SE 242) Die Intuition ist mehr als eine Idee; sie wird sich jedoch, um sich mitzuteilen, der Idee bedienen (vgl. DW 58). Das Angewiesensein der Intuition bedeutet aber nicht, dass sie das Ergebnis oder die Synthese dieser Erkenntnis ist (vgl. ebd.).
Die Intuition zur Methode der Philosophie zu erheben, kann unserer Ansicht nach auf zweierlei Art betrachtet werden. Die Intuition als Methode anzunehmen, rationalistisch gesehen, bedeutet, von der Objektivität und von der Allgemeingültigkeit der Methode abzusehen. Denn die Intuition muss sich, um zu wissenschaftlichen Theorien zu führen und um irgendwelche Vorstellungen erzeugen zu können, an irgend eine Begriffsbildung und irgendwelche Kategorien anschließen. Anders gesagt, es muss die Intuition auf andere Weise, nämlich stets mittels nicht-intuitiver Elemente formuliert werden. Man kann Bergsons Begriff, der Intuition als eine Deutung der Welt, als begrifflich gestaltetes Erlebnis verstehen, anstatt sie mit dem ganzen Universum in Beziehung zu setzen. Bergsons Intuition will die Wirklichkeit der Welt oder des Kosmos ergreifen, ohne damit irgendwelche Bestimmungen zu setzen. Die Folge ist, dass sie eine ununterschiedene Vielheit von Gedanken, Inhalten und Formen in einer nicht geklärten Einheit versinken lässt. Da dieser Charakter der Intuition nicht objektiv bestimmt werden kann, bringt Bergsons Versuch viele Schwierigkeiten mit sich, die Intuition als Methode zu begründen.
Auf der anderen Seite kann die Intuition als das innerste Prinzip der Welt und des Lebens verstanden werden. Das analytische Denken und der Intellekt können die Welt nicht als Ganzes erkennen. Sie gehen vom Einzelnen zum Ganzen. Intuition erfasst dagegen die Realität als Ganzes, und dann analysiert sie das Einzelne von dieser Realität ausgehend. Bergson beharrt in diesem Sinne auf seiner These, dass nur das intuitive Denken die Welt in ihrer lebendigen Ganzheit verstehen lässt. Demgegenüber begreift das analytische Denken die Realität ‚im Nacheinander isolierter Beobachtungen und einzelner Gesetze’. Einstein hat auf ähnliche Weise die Mängel der wissenschaftlichen Methode bei der Konstruktion der Wirklichkeit festgestellt. „Physik ist ein in Entwicklung begriffenes logisches Gedankensystem, dessen Grundlage nicht durch eine induktive Methode aus den Erlebnissen herausdestillisiert, sondern nur durch freie Erfindung gewonnen werden kann. Die Berechtigung (Wahrheitswert) des Systems liegt in der Bewährung von Folgesätzen an den Sinneserlebnissen, wobei die Beziehung der letzteren zu ersteren nur intuitiv erfassbar ist.“29 Um die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke zu ordnen, braucht man ein konsistentes Begriffssystem. „Dieses Begriffssystem lässt sich nicht durch Induktion aus den Phänomenen entwickeln (…), sondern muss gleichsam in seinen Sprung – oder, wie Einstein sagt, durch Intuition – aufgefunden werden.“30 W. Heisenberg lässt die Intuition ins Spiel kommen, wenn es um die Frage geht, ob die Realität der Natur durch eine andere Erkenntnishaltung, die der naturwissenschaftlichen Methode fremd ist, anders angesehen werden kann, ob der tiefere Zusammenhang des Lebens nicht nur durch die Gesetze, sondern durch die Intuition anders verstanden werden kann. „Die intuitive Schau der tiefen Zusammenhänge der Natur bedeutet für Heisenberg die Erkenntnis der Welt der Werte, über die die Naturwissenschaften schweigen.“31
Es wäre genauso falsch, wenn man die Intuition völlig verneint, wie die Auffassung, die die Intuition als einzigen Maßstab der Wirklichkeit annimmt. Obwohl die Intuition in der Philosophie der Gegenwart eher nicht als Erkenntnisquelle angenommen wird, wird sie z. B. für die Physik unersetzbar. So gibt etwa Einstein zu, dass er zur Entdeckung der Relativitätstheorie durch die Intuition gekommen sei.32 Er sagt: „Höchste Aufgabe der Physiker ist also das Aufsuchen jener allgemeinsten elementaren Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist. Zu diesen elementaren Gesetzen führt kein logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition.“33 Die intuitive Erkenntnis muss aber, wie Bergson sagt, durch den Intellekt kontrolliert und überprüft werden. Diese Notwendigkeit wurde vor Bergson schon von Goethe erwähnt. „Obwohl für Goethe die Intuition das höhere Vermögen ist, braucht sie (…) Intellekt, um präzise Berechnungen anzustellen. An der Intuition findet das intellektuelle Streben nach Erkenntnis seine Grenze; die Erkenntnis wiederum weiß sich auf die strukturierende und begrenzende Kraft des Intellekts angewiesen.“34
Die Intuition zeigt sich uns in unserem Alltag, in der Kunst, in der Philosophie, aber auch in der Naturwissenschaft. Sie hat aber ihre Grenzen und innerhalb ihrer Grenzen wird sie fruchtbar. Wenn sie aber beansprucht, für alle Menschen ‚wegweisend’ zu sein, wird sie ihre Grenzen überschreiten und damit ‚verführend’.
1 Vgl. zur Bergsonschen Fassung der Intuition die ausführliche Darstellung von W. Meckauer, in: Der Intuitionismus und seine Elemente bei H. Bergson, Leipzig 1917.
2 J. Benda weist darauf hin, dass Bergson sechs verschiedene Arten von Intuition allein in der „Evolution Créatrice“ und in der „Introduction á la Métaphysique“ vertrete. Aus: Le Bergsonisme ou une philosophie de la mobilité, Paris 1912.
3 Kolakowski, Leszek.: H.Bergson, S. 36.
4 P. Jurevics stellt in diesem Zusammenhang fest, dass der Gegenstand der Intuition nur ein freier Mensch sein kann. „Das freie ich, das sich mit der Dauer identifiziert, – also mit einer qualitativen Mannigfaltigkeit, die fortwährend in Wandlung begriffen ist. Eine derartige Realität, unzugänglich für eine mit starren Begriffen operierende Methode, kann in der Tat nur ein Gegenstand der Intuition sein.“ Aus: Bergson, S. 93-94.
5 Bergson, Henri: Denken und Schöpferisches Denken. Aufsätze und Vorträge, Meisheim am Glan 1948. Es wird im Text als DW zitiert.
6 Bergson, Henri: Einführung in die Metaphysik, Jena 1920. Es wird im Text als EM zitiert.
7 Vgl. Juravics, Paul: Bergson, S. 94.
8 So verstandene Intuition kann seiner Natur nach nur als eine subjektive Erlebnis nicht als eine philosophische Intuition betrachtet werden. Bergson sollte hier eine klare Abgrenzungslinie zwischen mystische- und religiöse Intuitionsart ziehen. Es genügt nicht zu sagen, dass beide Intuitionsarten verschieden seien. Diese Abgrenzung findet man leider bei Bergson nicht.
9 „Wie der Dämon des Sokrates sich verhielt, der in einem bestimmten Augenblick den Willen des Philosophen hemmte und ihn eher von einer Handlung zurückhielt (…). Es scheint mir, dass die Intuition sich oft auf spekulativem Gebiet genau so verhält wie der Dämon des Sokrates im praktischen Leben; zum mindesten beginnt sie in dieser Gestalt, wie sie sich auch weiterhin in dieser Art am reinsten offenbart.“ (DW 126).
10 Ingarden, Roman: Intuition und Intellekt bei H. Bergson, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, hrsg. von E. Husserl, Band 5, Halle 1922, S. 285-462, hier S. 393.
11 Bergson wirft hier den philosophischen Empiristen vor, dass sie den Gesichtspunkt der Intuition mit der Analyse, die nach Bergson die Negation der Intuition ist, verwechseln, genauso wie derjenige, der das Original in der Übersetzung sucht. „Man endigt so notwendigerweise in der Negation, aber bei näherem Zustand bemerkt man, dass die Negationen nur einfach bedeuten, dass die Analyse keine Intuition ist, was sich von selbst versteht. Von der ursprünglichen und übrigens unklaren Intuition, die der Wissenschaft ihren Gegenstand liefert, geht diese sofort zur Analyse über, die in Bezug auf diesen Gegenstand die Gesichtspunkte bis ins Unendliche vermehrt.“ (DW 195) Vgl. auch dazu Le Senne, René: L`Intuition Morale d`après H. Bergson, in: Revue Philosophique, Paris 1941, S. 218-243.
12 L. Kolakowski hat Bergson so verstanden, dass er meinte, die Intuition sei gar nicht mitteilbar, im Gegensatz zu Bergsons Aussage, die Intuition sei in Grenzen mitteilbar.
13 Vgl. Chevalier, Jean: Bergson, Paris 1926, S. 65.
14 C. Hilpert lehnt eine solche Möglichkeit ab. Die menschliche Erfahrung könne nicht in Dinge eindringen. Sie könne lediglich die Erscheinung der Dinge erfassen. Leben und Materie bleiben solcher Intuition verschlossen, so dass sie auch nicht an das Absolute rühren könne. Aus: Die Unterscheidung der intuitiven Erkenntnis von der Analyse bei Bergson, S. 89f.
M. Merleau-Ponty nimmt in diesem Sinne die Intuition nicht als neuen Erkenntnisakt an und hält es für einen Irrtum Bergsons, dass das meditierende Subjekt mit dem Gegenstand seiner Meditation zu verschmelzen vermöge. Vgl. Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 87.
15 Ingarden, Roman: Intuition und Intellekt bei H. Bergson, S. 378.
16 Bergson, Henri: Schöpferische Entwicklung, Jena 1912. Es wird im Text als SE zitiert.
17 Nach Bergson ist es unmöglich, eine vollständige Beschreibung des Instinkts zu machen. Nach ihm sind Instinkt und Intellekt voneinander nicht scharf zu unterscheiden. Denn jeder konkrete Instinkt ist mit Intelligenz gemischt, während „jeder reale Intellekt von Instinkt durchtränkt ist. Überdies lassen weder Intellekt noch Instinkt strenge Definitionen zu; sie sind Tendenzen, nicht fertige Dinge.“ (SE 141) Trotzdem gibt Bergson einige Definitionen: „Vollendeter Instinkt ist das Vermögen der Anwendung ja des Aufbaus organischer Werkzeuge.“ (Ebd. 145) „Instinkt ist (…) angeborene Erkenntnis einer Sache.“ (Ebd. 155) Bergson ist aber gegen die Auffassung, dass der Instinkt mit dem Intellekt gleichzusetzen ist (vgl. SE 179-180). Man muss hier feststellen, dass Bergson die Unterschiede zwischen Instinkt und Intellekt deutlich und klar bestimmen sollte.
18 Im ähnlichen Sinne betont Cassirer die Bedeutung des Werkzeugs für die geistige Existenz des Menschen. „Das Werkzeug gehört nicht mehr, wie der Leib und seine Gliedmaßen, unmittelbar dem Menschen zu: es bedeutet ein von seinem unmittelbaren Dasein Abgelöstes- ein Etwas, das in sich Bestand hat, einen Bestand, mit dem es selbst das Leben des Einzelmenschen weit überdauern kann.“ Aus: Form und Technik, in: Symbol, Technik, Sprache, Aufsätze aus den Jahren 1927-1933, hrsg. von E. W. Orth und J. M. Krois, Hamburg 1985, S. 64.
19 Vgl. Vrhunc, Mirjana: Bild und Wirklichkeit, S. 120.
20 Vgl. Rickert, Henri: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920, S. 23.
21 Kroner, Richard: Henri Bergson, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Kultur, hrsg. von G. Mehlis, Band I (1910/11), S. 125-151, S. 125.
22 Vgl. Juravics, Paul: Bergson, S. 100.
23 Bergson gibt weniger Ansatzpunkt für das Erklären des Verhältnisses zwischen Instinkt und Intuition. “Bergson says comparatively little explicitly about the relations between instinct und intuition, but he does make clear that intuition is a development of instinct.” Lacey, A. R.: Bergson, S. 150, London/New York 1989.
24 Vgl dazu Lavelle, Louis.: La Pensée religieuse de Bergson, in: Revue Philosophique, S. 143 und Rideau, Emile.: Le Dieu de Bergson, S. 11f.
25 Richter, Rudolf: Intuition und intellektuelle Anschauung bei Schelling und Bergson, Eschenhagen 1929, S. 51.
26 Vgl. auch dazu Millot, Albert: L`intérêt pédagogique de la doctrine de Bergson, in: Revue Philosophique, S. 320.
27 Vgl. dazu Rolland, Emile: La Finalité morale dans le Bergsonisme, S. 140.
28 Vgl. Goldstein, Julius: Henri Bergson und Sozialwissenschaft, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 31 (1910), S. 1-22, S. 5.
29 Einstein, Albert: Aus meinen späten Jahren, Stuttgart 1979, S. 105.
30 Kather, Regine: Spinozas Einfluss auf Ethik und Anthropologie A. Einstens, in: Studia Spinoza 9 (1993), S. 275-294, S. 278.
31 Kather, Regine: Eine kleine Geschichte der Intuition, S. 116.
32 Vgl. Einstein, Albert:Mein Weltbild, hrsg. von C. Seelig, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1981, S. 109.
33 Ebd., S. 110f.
34 Kather, Regine: Ebd., S. 115.
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