Johann Gottfried Schnabels Werk Insel Felsenburg hat sowohl utopischen Charakter als auch bedeutende Schnittmengen mit der Robinsonade . Bei der Darstellung einer unbekannten Welt geht es vor allem um die Schilderung persönlicher Einzelschicksale; die Figuren treten als individualisierte Charaktere auf. Der Zeitpunkt des Erscheinens von Schnabels Werk ist nicht festlegbar; zwischen 1731 und 1743 erschien es unter dem Titel „Wunderliche Fata einiger See-Fahrer, absonderlich Alberti Julii, eines gebornen Sachsen“. Anstatt dieses langen Titels setzte sich im Laufe der Zeit die Bezeichnung „Insel Felsenburg“ durch. Dieser Roman entwickelte sich zu einem der beliebtesten Schriften des 18. Jahrhunderts. Zwischen 1731 und 1772 gab es insgesamt 26 neue Auflagen.
Schnabel, der in der Nähe von Bitterfeld geboren wurde, nahm zwischen 1708 und 1712 auf Seiten Prinz Eugens in den Niederlanden am Spanischen Erbfolgekrieg teil. Zwischen 1731 und 1741 arbeitete er als Herausgeber einer Zeitung und als Autor. In dieser Zeit entstand neben der Insel Felsenburg der Roman „Der im Irrgarten der Liebe herum taumelnde Kavalier“. Im Jahre 1750 veröffentlichte Schnabel den phantastischen Roman „Der aus dem Mond gefallene und nachero zur Sonne des Glücks gestiegene Printz“ unter dem Pseudonym Gisander. Unter diesem Pseudonym publizierte Schnabel auch den Roman Insel Felsenburg.
Der utopische Charakter ist dabei in eine doppelte Rahmenhandlung eingebunden. Die äußere Handlung erzählt die Geschichte des fiktiven Herausgebers Gisander, der das Manuskript des Romans von dem Literaten Eberhard Julius erhielt, den er auf einer Reise kennenlernte. Nachdem Julius bei einem Postkutschenunfall verstarb, ordnete Gisander die Manuskripte von Julius und gab sie dann heraus. Die innere Handlung bildet dann die autobiographische Erzählung des Eberhard Julius. Als Julius einen Brief von dem Ahnvater der Insel Felsenburg, Albertus Julius, erhielt, brach Eberhard Julius mit dem Kapitän Leonhard Wolffgang auf, um ihn auf der Insel aufzusuchen. Nachdem er dort angekommen war, berichtet Julius von der fiktiven Insel und seinen Bewohnern. Neben diesen Erzählungen berichten auch andere Emigranten über die utopische Insel. Deren Berichte heben immer wieder den Unterschied zwischen dem Europa im 18. Jahrhundert, wo schreckliche Zustände herrschten, und dem jetzigen Ort hervor. In verschiedenen Ländern Europas, aus denen die Emigranten ursprünglich stammten, gab es Krieg, Armut, allgemeinen Sittenverfall und religiöse Intoleranz. Ein Grund zur Rückkehr in diese Welt gibt es nicht, die Insel Felsenburg wird als glückseliger Ort beschrieben, wo die europäischen Zustände überwunden worden sind.
Kurz nach seiner Ankunft auf der Insel erzählte ihm Albertus Julius die Anfänge des Insellebens. Nach einem Schiffbruch erreichten er selbst, sein Freund Carl Frantz van Leuven, dessen Frau Concordia sowie der Kapitän des Schiffes, Lelemie, die Insel. Dort angekommen, wurden die Regeln der patriachalische „Gleichheit“ der Personen und des gemeinsamen Besitzes beschlossen. Albertus sagte zum Kapitän Lelemie: „Die Zeiten haben sich geändert, euer Kommando ist zu Ende, es gilt unter uns dreien einer so viel wie der andere, die meisten Stimmen gelten, die Viktualien und andere Sachen sind gemeinschaftlich.“
Concordia als Frau wurden diese basisdemokratischen Entscheidungsbefugnisse vorenthalten, lediglich männliche Mitglieder durften abstimmen. Diese patriachalische Ordnung setzte sich in der staatlichen Ordnung Felsenburg fort. Mit dem Hinweis auf die „Gottebenbildlichkeit“ des Mannes wurde deren Herrschaft legitimiert. Die freiwillige, monogame Ehe bildete die Grundlagen der Gesellschaft Felsenburgs. Frauen- und Kindergemeinschaften, die in Platons Staat wesentlich für das Gemeinschaftsleben angesehen wurden, gab es auf Felsenburg nicht. Hier dominierte die Kleinfamilie mit einer christlichen Lebens- und Moralphilosophie. Schölderle bemerkte: „Die abgebildeten Ideale, allen voran die protestantische Religion, haben ihren Ort in der familiären Privatheit und nicht in den staatspolitischen Institutionen oder Repräsentanzorganen.“
Nach dem Tod van Leuvens wurden Albertus und Concordia ein Paar und zeugten neun Kinder, die schließlich die neun „Julischen Stämme“ bildeten. Diese Stammesfamilien waren die Organisationseinheiten des staatlichen Gemeinwesens auf der Insel Felsenburg. Die festgelegten basisdemokratischen Entscheidungsbefugnisse wurden im politischen System Felsenburgs nicht fortgesetzt. Das Vorbild der absolutistischen Herrschaft im Europa des 18. Jahrhunderts wurde zwar auch abgelehnt, aber es das staatliche System trug Züge einer monarchistischen Verfassung und einer starken Zentralgewalt. Diese Zentralgewalt sollte in ihren Befugnissen von neun Senatoren aus den jeweiligen Stammesfamilien eingeschränkt werden. Albertus stellte fest: „Jedoch ist meine Meinung nicht, dass ein solches Oberhaupt als ein souveräner Fürst regieren und befehlen solle, sondern seine Macht und Gewalt muss durch das Ansehen und Stimmen noch mehrerer Personen eingeschränkt sein.“
Aufgrund der milden klimatischen Verhältnisse und des fruchtbaren Bodens gedieh das wirtschaftliche Leben auf Felsenburg. Mangel an Lebensmitteln gab es nicht, es wurde gar von einer Überflussgesellschaft berichtet, die im Gegensatz zum Europa des 18. Jahrhunderts die erarbeiteten Güter gerecht verteilte. In Felsenburg gab es bevorzugt Wirtschaftseinrichtungen im Acker-, Garten- und Weinbau. Felsenburg wurde als ein Ort dargestellt, wo „die Tugenden in ihrer angeborenen Schönheit anzutreffen, hergegen die Laster des Landes fast gänzlich verbannt und verwiesen sind.“
Wie auch in anderen Utopien war auf der Insel ein geometrisches Ordnungsdenken vorherrschend. In einem Dreieck zwischen den beiden größten Flüssen befand sich die Albertsburg, das politische Zentrum der Insel. Um die Albertsburg herum wurden die neun Regierungsbezirke angeordnet. Rationalität und ein alles beherrschender Utilitarismus war auf Felsenburg vorherrschend: „Die Natur wird, ohne jede Schwärmerei, durchweg nach den Kriterien der Nützlichkeit beurteilt und der menschlichen Herrschaft unterworfen, wobei die ‚zivilisatorische Rationalität‘ auch vor dem Menschen nicht halt macht.“ Rationale Gesetzgebung und eine statische, prinzipiengeleitete Lebensgemeinschaft wurden zu den Garanten des Glücks erhoben.
Auf Felsenburg gab es kein Geldverkehr oder Privateigentum, alles wurde nach dem Prinzip der Gemeinschaftlichkeit auf dem ökonomischen Sektor organisiert. Es existierte „Gold, Silber, Kleinodien und Geld“ auf der Insel, was aber kaum eine Rolle spielte, da es auf der Insel keinen Nutzen brachte. Es gab keinen Handel mit anderen Inseln in der Nähe, es kam lediglich in den neun Siedlungsterritorien zu einem Austausch von Gütern. Arbeit bedeutete für die Felsenburger keine Mühe, es wurde als Freude betrachtet. Müßiggang wurde abgelehnt und bestraft.
Die Insel wurde als schwer zugänglich beschrieben, so dass ein Bild der isolierten Abgeschiedenheit gezeichnet wurde. Das Innere der Insel wurde mit künstlichen Gräben und Hindernissen abgeschottet, um nicht von ungebetenen Neuankömmlingen belästigt zu werden. Schnabel betont die Exklusivität der Bewohner, der Zutritt blieb nur „gewissen erlesenen Leuten“ vorbehalten. Es wurde außerdem eine Art militärischer Verteidigung der Insel aufgebaut, um die selbstgewählte Isolation zu gewährleisten. Durch die Abschirmung der Insel vom Rest der Welt kannten die Bewohner Felsenburgs keinen Krieg, wie er im Europa des 18. Jahrhunderts üblich war.
Schnabels Utopie enthieht weder den Willen noch den Aufruf zur Realisierung. Das Werk war konzipiert als fiktives Gegenbild, als gedankliches Experiment. Es versuchte, den herrschenden Missständen im Europa des 18. Jahrhunderts den Spiegel vorzuhalten. Schnabel versuchte niemals, das politische und soziale Programm der Insel Felsenburg in die Praxis umzusetzen. Er wollte die von Sittenverfall und Egoismus geprägten Verhältnisse in Europa mit dem Bild einer idyllischen Inselwelt, wo es keine Probleme und materielle Sorgen gibt, konfrontieren. Der Egoismus in seinen Formen der Sündhaftigkeit und Unmoral wurde als Antipode des Gemeinschaftssinnes und damit als Störelement des gerechten Ausgleichs der Lebensverhältnisse und der Gemeinschaftsinteressen beschrieben. Die Bewohner der Insel Felsenburg verzichteten auf den Kontakt mit der übrigen Welt; somit kann von einer Flucht vor den Problemen Europas gesprochen werden. Ihre Insel war dabei das positive Gegenbild einer problembehafteten Realität.Schnabel wollte mit seinem Roman seine eigene bedrängte und als mangelhaft empfundene Gegenwart überschreiten und erdachte sich deshalb ein besseres Dasein wie so viele Utopisten wie Thomas Morus, Tommaso Campanella oder Francis Bacon vor ihm.
Schnabels Insel Felsenburg ist ein Prototyp der Utopie mit den Merkmalen: die Verwendung der Inselmetapher, die Berufung auf die Vernunft, die Identifizierung von Geld und Privateigentum als Wurzel allen Übels, die Geringschätzung von Gold und Silber, die geometrischen Ordnungsmuster sowie der Verzicht auf die Produktion unnützer Güter. Die Organisation des staatlichen Gemeinwesens auf Felsenburg widersprach mit ihrer Mischverfassung der staatsabsolutistischen Praxis in den Staaten Westeuropas im 18. Jahrhunderts; dies war auch eine versteckte Kritik am Absolutismus und seinen Vertretern. Schnabels Utopie ging nicht nur auf die ideale politische und soziale Ordnung auf Felsenburg ein, er schilderte auch persönliche Einzelschicksale. Bei allen Vergesellschaftungstendenzen auf Felsenburg wurde das Individuum diesen nicht streng untergeordnet, es blieb weiterhin ein wichtiger Faktor des gesellschaftlichen Lebens.
Literatur
– Freier, P.: Deutsche Literatur im 18. Jahrhundert, München 1995
– Mayer, H.: Von Lessing bis Thomas Mann – Wendungen der bürgerlichen Literatur in Deutschland, Pfullingen 1959
– Meid, V./Springer-Strand, I. (Hrsg.): Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg, Stuttgart 1979
– Schölderle, T.: Utopia und Utopie. Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die Kontroverse um ihren Begriff, Baden-Baden 2011
– Stach, R.: Robinsonaden, Baltmannsweiler 1996
– Waschkuhn, A.: Politische Utopien, München 2003
– Weber, A.: Kleine Literaturgeschichte, Berlin 1992
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