Die Formulierung des Titels ist in verschiedener Hinsicht anstößig: Allein schon über technisches Wissen nachdenken zu wollen scheint unmöglich, weil paradox zu sein; Technik, im Wortsinne aus dem griechischen 'techne' abgeleitet, scheint mehr mit Können und Kunst als mit Wissen und Kognition zu tun zu haben. Theoretisches Wissen – gewiss; aber technisches Wissen? Und in der Tat lebt unsere abendländische epistemologische Tradition von der Differenz zwischen Technik und Wissen. Wissen, griechisch 'episteme', ist die – idealistisch oder materialistisch interpretierte – Repräsentation der Welt durch den Menschen und folgt seit der Antike eher dem Muster des kontemplativ-beschauenden Erfassens der Welt als dem des technisch-pragmatischen Umgestaltens. Aber diese scharfe Entgegensetzung, noch bis in die Bildungssysteme des 19. und 20. Jahrhunderts hinein konstitutiv sowohl institutionell für den akademischen Betrieb, als auch individuell für das eigene Selbstverständnis, beginnt zu verschwimmen. Genauer: die Wissenstopologie des 21. Jahrhunderts ist durch eine tendenzielle Hybridisierung von Wissen und Können, von theoretischer und praktischer Welterfassung gekennzeichnet. Erneut institutionen-theoretisch formuliert: spätestens seit sich die Polytechnischen Schulen zu Technischen Hochschulen und diese zu Universitäten entwickelten, wurde deutlich, dass sich der Alleinvertretungsanspruch in wissenschaftlicher Hinsicht, den die klassischen Universitäten erhoben hatten (und zum Teil immer noch erheben), nicht mehr halten ließ. Interessant wird es sein, als nächsten Schritt das Zusammenwachsen von (Technischen) Universitäten und Fachhochschulen sowie in einem dritten Schritt die Annäherung von hochschulischer und dualer Bildung, das heißt von Wissen und bislang – in den deutschsprachigen Ländern – noch mittelalterlich-zünftisch organisierte Berufsbildung im Handwerk zu beobachten. Wenn dieser Punkt erreicht sein wird – dass dies in nicht allzu ferner Zukunft der Fall sein wird, steht für mich außer Frage -, dann wird der Wissenshorizont der Moderne sich seinerseits endgültig reflexiv modernisiert haben.
Aber noch ein zweites paradoxes Element steckt im Anspruch, den die Titelformulierung erhebt: Mit der schrittweisen gegenseitigen Durchdringung von Wissen und Können, traditionell als die Verbindung von „Theorie und Praxis“ verstanden, geht, durch den Begriff „Hermeneutik“ angezeigt, eine weitere Grenzüberschreitung einher, nämlich diejenige der seit C. P. Snow so genannten „zwei Kulturen“.[1] Noch nehmen wir es als gleichsam gottgegeben hin, dass unser Wissenskosmos in Natur- und Geisteswissenschaften zerfällt, obwohl bei genauerer Betrachtung ohne weiteres einleuchtet, dass diese Aufzählung nicht vollständig ist Es fehlen nicht nur die Technik- bzw. Ingenieurs-, sondern auch die Sozialwissenschaften. Kurz und plakativ gesagt: wer von „zwei oder drei Kulturen“[2] spricht, kann nicht bis vier zählen.[3] Der Anspruch, den die Formel von der „Hermeneutik des technischen Wissens“ erhebt, ist also auch in dieser Hinsicht anstößig und bedarf der Erläuterung.
Schließlich taucht als vierter Begriff neben Technik, Wissen und Hermeneutik noch der Begriff „Bildung“ auf. In der traditionellen, in diesem Falle von Humboldt geprägten Wissensfigur der Moderne ist dieser Begriff noch eindeutig mit „Hermeneutik“ und „Geisteswissenschaften“ assoziiert, während die Naturwissenschaften höchstens am Rande und die Ingenieurswissenschaften oder gar die Technik gar nicht dazugehörten. Diese verfiel eher dem platonischen Verdikt der „Banausie“ (das allerdings vermutlich auf einem großen Missverständnis oder vielleicht sogar Selbstmissverständnis beruht). Dass das epistemische Tableau sich auch in dieser Hinsicht zu verschieben beginnt, mag in Formeln wie derjenigen von der „anderen Bildung“ aufscheinen, mit der Ernst P. Fischer auf die anachronistische Situation aufmerksam zu machen versuchte, dass auch heute noch naturwissenschaftliches oder gar technisches Wissen im Gegensatz zu demjenigen, das sich auf Literatur und Kunst bezieht, in Sachen Bildung nicht hoffähig ist.[4]
Worum es mir im Folgenden geht, ist eine Klärung dieser Topologie, anders: die Beschreibung der unterschiedlichen Fronten, an denen die Bildungsschlacht heute geschlagen wird. Zu diesem Zwecke soll in einem ersten Schritt das Verhältnis von Hermeneutik und Wissen exponiert werden (I), um dann nach dem Verfahren von extremal positionierten Begriffspaaren das Ideenfeld des Wissens in seine Wissenshorizonte gleichsam aufzuspannen (II) und diese schließlich in ein neues Konzept von wissens- und könnensvermittelnder Bildung einfließen zu lassen (III).
1 HERMENEUTIK UND WISSEN
Zwei zentrale Positionen des 17. und 18. Jahrhundert mögen leitmotivartig den begrifflichen Hintergrund skizzieren, vor dem sich die Wissensstruktur der Moderne erhebt, ohne allerdings die tiefere Dimension dieser beiden Topoi wahrhaft aufgreifen zu können. Ich meine damit das Bacon-Prinzip und das Vico-Axiom. Als einer der Ahnväter der Neuzeit wird – zu Recht – Francis Bacon bezeichnet. Ihm wird nachgesagt, dass das Theorem „Wissen ist Macht aus seiner Feder stamme. Die Tatsache, dass sich zwar viele ähnliche Formulierungen bei ihm finden, genau diese aber auf den ersten Blick nicht, wirkt weniger erstaunlich, wenn man sich klar macht, dass die von ihm verwendete Formel eigentlich heißt „Wissenschaft selbst ist Macht“, lateinisch: „ipsa scientia potestas est“, und dass sich dies nicht etwa im „Novum Organum“ findet, wo man es wohl vermuten möchte, sondern ausgerechnet in seinen „Meditationes Sacrae“.[5] Bei zweitem Nachdenken schon zeigt sich, dass diese Formulierung eine doppelbödige Weisheit enthält einerseits, idealistisch interpretiert, das Grundprinzip der neuzeitlichen Wissenschaft, es gehe für den Menschen darum, der Natur ihre Gesetze abzulauschen oder noch etwas härter sie unter der Folter des Experiments zu zwingen, ihre Geheimnisse zu verraten. Aber das Bild wäre nicht vollständig, wenn man nicht Francis Bacons andere Überzeugung hinzunähme: nämlich dass die Natur nicht anders bezwungen werden könne als dadurch, dass man sich ihr füge: „natura non nisi parendo vincitur“.[6]
Das zweite große Leitmotiv, über hundert Jahre später von Giambattisto Vico formuliert, besagt, dass das Wahre und das Gemachte konvergieren („verum et factum convertuntur“, kurz „verum ipsum factum“).[7] Folgt man nur der wörtlichen Bedeutung, so handelt es sich hierbei um ein Theorem zur Einführung der Differenz der zwei Kulturen: als wahr erkennen können wir Menschen nur das, was wir als Menschen auch gemacht haben, das heißt also unsere menschliche Sprache und unsere menschliche Geschichte. Anders: Die uns Menschen zugängliche Wahrheit ist nicht die der Natur und ihrer Wissenschaften; diese ist uns Menschen auf immer unzugänglich, ein Buch mit sieben Siegeln, in dessen Inneres, um mit Goethe zu sprechen, „kein erschaffener Geist dringt“.[8]
So gesehen hätten wir also in diesen zwei Leitmotiven den Aufriss der modernen Welt in der wissenschaftlichen Weltbeherrschung auf der einen und in der tieferen Wahrheit der Geisteswissenschaften auf der anderen Seite formuliert Vom Ende der Moderne her betrachtet, gewinnen diese beiden Topoi aber, ineinander gespiegelt, eine andere Bedeutung: nur das, was die Menschen selbst technisch hergestellt haben, kann im Wortsinne 'wahr' genannt werden, und nur durch diese wissenschaftliche Wahrheit der Herstellung von Natur durch Technik beherrschen wir die Welt. Oder in einer kurzen Formel, die in unsere Tableauisierung des Wissens passt: Wissen ist Machen[9], oder noch einmal anders: die moderne wissenschaftliche Verfügungsutopie über die Welt realisiert sich in der Fähigkeit die Natur selbst herzustellen. Nicht wie Kant meinte, das Bewusstsein ist die ursprüngliche synthetische Leistung des Menschen, sondern die Herstellung der Natur; Philosophie als Wissenschaft wird zur synthetischen Biologie.[10] Reflektiert man diesen Gedanken etwas weiter, so sieht man sich dahinter dessen Antizipation in der kontrafaktischen Grundannahme der christlichen Theologie abzeichnen, Gott könne die Welt erschaffen, indem er sie anspreche. Gefiltert durch die Entwicklung neuzeitlicher Wissenschaft und moderner Technik gelangt diese Vorstellung nun in säkularisierter Form in das Umfeld des mindestens Simulier-, in einigen Fällen sogar des bereits Machbaren.
Vor diesem Hintergrund erschließt sich nun etwas anderes noch genauer, was im Gefolge Giambattisto Vicos in der Moderne mit dem aus der Antike entlehnten Begriff „Hermeneutik“ und als Konsequenz daraus mit demjenigen des „hermeneutischen Zirkels“ bezeichnet wird. Der Begriff „Hermeneutik“, in der griechischen Antike etymologisch auf die Aufgaben des Götterboten Hermes zurückgeführt, bezeichnete ursprünglich die Möglichkeit, Gedanken auszudrücken, zu interpretieren oder zu übersetzen. In ihrer christlichen Gestalt wird sie zur Auslegungskunst zunächst der Heiligen Schrift, später, in ihrer vorwissenschaftlichen, neuzeitlichen Form zur „Kunstlehre des Verstehens“[11], also, wenn man so will, zur technischen Disziplin. Angewendet wurde diese ursprünglich auf die Lehre vom Verstehen, Deuten oder Auslegen von Kunstwerken, insbesondere von literarischen Produkten, aber auch von mündlicher Rede, und sie ist damit das Gegenstück zur Rhetorik, die die Kunstlehre des Ausdrückens in Sprache und Rede ist. Hermeneutik wie Rhetorik haben es – worauf H.-G. Gadamer verschiedentlich hingewiesen hat[12] – mit Wahrscheinlichkeiten, nicht mit der Wahrheit zu tun.
So betrachtet entwickelt sich die Hermeneutik neuzeitlich zu einer Lehre von den Voraussetzungen und Methoden sachgerechter Interpretation und insofern zur Methodologie der Geisteswissenschaften.[13] Doch damit nicht genug: die Hermeneutik beginnt sich im 20. Jahrhundert als eine eigene Philosophie des beginnenden „auslegenden Verstehens“ in Gestalt der Fundamentalontologie Martin Heideggers zu positionieren.[14] Die – auch für unser Thema – zentrale Idee, in der Hermeneutik von Wilhelm Dilthey im Gefolge Schleiermachers und Boeckhs „hermeneutischer Zirkel“[15] genannt, beschreibt die scheinbar paradoxe Struktur des Verstehensprozesses selbst: das Ganze muss aus dem Einzelnen, das Einzelne aber aus dem Ganzen heraus verstanden werden. Bei erneuter Reflexion zeigt sich allerdings, dass der Begriff des Zirkels nur prima facie plausibel ist, dass bei näherem Zusehen indessen eher das Bild einer Spirale passen würde: Jeder Text, aber auch jede Lebenssituation, die es auszulegen gilt, trifft zunächst einmal auf eine Vormeinung, die sich aus unserer außerwissenschaftlichen Weltsicht ergibt In Annahme der Meinung, es lasse sich von den Teilen aufs Ganze schließen, unternimmt das Subjekt eine Teilanalyse der Situation, die ihrerseits das höherstufige System, das vermeintliche Ganze also, induktiv zu erfassen versucht. Die so (wenn auch nur provisorisch) gestützte Plausibilität der Vormeinung erlaubt dann wieder, auf die Teile zurückzuschließen, sodass in der Tat eine kreisförmige Bewegung des Insichzurückkehrens der Vormeinung und der zwischenzeitlich aus dem Blick geratenen Annahme über das Ganze und seine Teile gespeist wird. Wie leicht zu sehen ist, wird dieser Prozess rekursiv, d.h. er führt in sich und in seinen Ausgangspunkt der investierten Vormeinung zurück, verändert diesen aber erheblich. Das Resultat dieses hermeneutischen Zirkels ist daher niemals die vollständige Repräsentation der Welt im Wissen, sondern es handelt sich dabei um einen stetigen Prozess, der – so betrachtet – nie ans Ziel kommt, dafür aber ziemlich genau das Verstehen und seine Genese beschreibt.
Dieser hermeneutische Zirkel des Verstehens lässt sich allerdings in einer heuristischen Erweiterung auch als eine Überschreibung eines strukturanalogen Prozesses betrachten, in dem es nicht nur um Verstehen, sondern eben auch um das Verhältnis von Wissen und Können geht Diesen zweiten hermeneutischen Zirkel könnte man als denjenigen des technischen Wissens bezeichnen: Ausgehend von der Fähigkeit etwas zu tun, die wir als 'Können' bezeichnen, tritt unsere Welterfassung und -gestaltung über das Anwenden von vorausgesetztem Können und dessen Optimierung durch das gezielt einzubeziehende Wissen in eine zu derjenigen des Verstehens analoge rekursive Spirale ein, in der die Investition von Wissen in Können auf einer nächsten Ebene zur Reflexion von Wissen und Können führt, die ihrerseits wiederum eine optimierte Form des Wissens und Könnens anstrebt. Die von Popper stammende fallibilistische Grundannahme, die sich auch auf dieses dialektische Modell von Hermeneutik beziehen lässt, wird von Gerhard Vollmer in die eingängige Formel „Wir irren uns empor“[16] gefasst. Übertragen auf den zweiten hermeneutischen Zirkel der Anwendung von Wissen und Können, würde eine entsprechende Formel heißen müssen: „Wir üben uns empor“, da die schrittweise Imprägnierung von Können durch Wissen letztlich zu einer Optimierung des Könnens führt.
2 WISSENSHORIZONTE
Technisches Wissen zeichnet sich also dadurch aus, dass es eine eigene Optimierungsstruktur über die gegenseitige Erweiterung von Wissen und Können erreicht. Die Verbindung von Bacon-Prinzip und Vico-Axiom zur Formel „Wissen ist Machen“ weist in diesem Zusammenhang die beschriebene hermeneutische Doppelhelix-Struktur auf.
Um diese aber als Wissensformation des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts noch besser verorten zu können, muss sie in das Tableau der Wissenshorizonte eingeordnet werden, die das ausmachen, was wir 'Moderne' nennen, und die sich durch drei Paare von Extremalbegriffen beschreiben lassen: „Glauben und Wissen“, „Wissen und Machen“ sowie schließlich „Machen und Nichtwissen“.[17]
Die Globalisierung, die das 21. Jahrhundert bestimmt, hat uns über einen Zusammenhang belehrt, der in Europa seit der Aufklärung aus dem Blick geraten war, da man ihn für überholt hielt: Es ereignet sich weltweit ein neuer Glaubenskrieg, ein Dschihad gegen das westliche Wissen, das zugleich Weltwissen ist Hauptwortführer dieses Glaubenskrieges sind daher denn auch Glaubenskulturen, die das Weltwissen grundsätzlich ablehnen. Dadurch erlebt der nachaufklärerisch für überholt gehaltene Gegensatz von Glauben und Wissen eine zweite Blüte, mit der die Charakteristika einer erheblich verhärteten Frontstellung, und zwar bis hin zu kreuzzugartigen Entwicklungen, verbunden sind. In der Tat gibt es ernstzunehmende Zeitdiagnostiker, die darauf hinweisen, dass wir beim Versuch, die Differenz in der Entwicklung der drei verschiedenen mosaischen Religionen, also zwischen Judentum, Christentum und Islam, festzuhalten, im Islam heute eine Phase entdecken, die derjenigen der Kreuzzüge des Christentums entsprechen.[18] Der „Polytheismus der Werte“, den Max Weber unter expliziter Bezugnahme auf Mill für das aufgeklärte 20. Jahrhundert in Europa diagnostiziert hatte, ist also eingetreten, und zwar in seiner härtesten, von Max Weber als „unlöslicher Kampf beschriebenen Gestalt[19]: Es existiert ein Antagonismus der Werte. Es ist nämlich in der Tat so, dass wer im Sinne der Toleranzforderung der europäischen Aufklärung andere Werte duldet, sich nicht zu wundern braucht, wenn sich darunter auch solche Werte finden, die man nicht dulden kann. Man muss sich eben darauf gefasst machen, dass es „weniger nette Religionen“ als diejenigen gibt, die man bei der Toleranzempfehlung im Blick hat.[20] Der unsere Gegenwart im Gefolge von Max Webers Polytheismusthese kennzeichnende Antagonismus der divergierenden Werte führt heute nicht nur zur Anerkennung von Vielheit, sondern zum Multikulturalismus. Mit anderen Worten: im 21. Jahrhundert dulden wir nicht nur Vielheit, sondern fordern sie geradezu. Das pflegen wir dann „Pluralismus zweiter Ordnung“ zu nennen. Dieser ruft nach einer Gesellschaft, in der unterschiedliche Wertsysteme, unterschiedliche Meinungen, unterschiedliche Religionen koexistieren nicht nur dürfen, sondern geradezu sollen.[21]
Das Wissen, gegen das sich in der Globalisierung die Frontstellung von Glauben und Wissen erneut formiert, ist genau das wissenschaftlich-technische Wissen, um dessen Analyse es uns geht. Deswegen muss das Begriffspaar, auf das wir bereits bei der Analyse der beiden großen frühneuzeitlichen Positionen gestoßen waren, nämlich das Begriffspaar von Wissen und Machen nun einer genaueren Analyse unterzogen werden. Die Hybridisierung des Bacon-Prinzips („Wissen als Wissenschaft ist Macht“) und des Vico-Axioms („Nur das ist als wahr erkanntes Wissen, was wir selber machen können“) findet im 21. Jahrhundert eine neue Bestätigung: Weil wir auch die Natur im Zuge der Technologisierung unserer Welt nun – jedenfalls partiell – selber machen, können wir sie auch besser verstehen. Das wird besonders deutlich an der informationellen Technologisierung der Welt die dazu führt dass wir seit der Mitte des letzten Jahrhunderts beginnen, ein Weltverständnis zu entwickeln, das uns erlaubt, sie als Imitation zu verstehen. Alles das aber, was wir technologisch imitieren können, können wir auch machen. Das ist jedenfalls das Prinzip der Turingmaschine, benannt nach dem Mathematiker Alan Turing, der es – parallel zum Turingtest oder Imitationsspiel – entwickelt hat[22], um damit zweierlei zu sagen: einerseits, dass eine Maschine denkbar ist, die dadurch definiert ist, dass sie alles imitieren kann, was andere Maschinen leisten können, und anderseits, dass sich operative Maschinendefinitionen von Denken geben lassen: Wenn man nämlich die Leistungen einer Maschine von den kognitiven Leistungen eines Menschen nicht mehr unterscheiden kann, gibt es nach Turing keinen Grund, warum man nicht sagen könne, die Maschine denke. Das war – in dieser Form von fast niemandem in der Diskussion bemerkt – der Übergang zu einer Wissenskultur denkender Maschinen.
Gewiss, damit war erst ein Anfang gemacht, und das Imitationsspiel bezog sich noch ausschließlich auf individuelle Menschen, die einzelne Maschinen bedienten. Heute dagegen befinden wir uns längst in einer Situation, die durch Vernetzung dieser Maschinen und Vernetzung der sie bedienenden Menschen gekennzeichnet ist. Nach der Zeit der Diskussion um Artificial Intelligence (AI) haben wir jetzt die Phase einer Distributed Artificial Intelligence (DAI) erreicht. Diese ist durch die Möglichkeit gekennzeichnet, über alle in das weltweite Netz von miteinander verknüpften Computern integrierten Knotenpunkte Zugriff auf alles in diesem Netz repräsentierte Wissen zu erhalten. In Bezug auf den Turingtest formuliert: Wir leben in einer Phase der Ausdehnung des Imitationsspiels auf die ganze Welt. Das bedeutet dass wir – im Prinzip – alle Wissensbestände der ganzen Welt in unserer eigenen technologischen Wissensrepräsentation wieder finden und für unsere traditionelle Wissensrepräsentation nutzen können.
Allerdings stellt sich damit eine alte Grundfrage der Erkenntnistheorie wieder neu: die Frage nach der Wirklichkeit. Bisher haben wir ja von Imitationen gesprochen. Also von einer Modellierung der Wirklichkeit. Wie steht es aber mit dieser selbst? Hier geht es um Tests, die die Frage beantworten lassen: Stimmen diese Projektionen, Imitationen und Modellierungen? Die Antwort die das neuzeitliche wissenschaftliche Wissensmodell darauf gab, war das Experiment und seit dem 19. Jahrhundert explizit das Laborexperiment. Die Erfindung des Experiments wird – zwar wissenschaftshistorisch zu Unrecht – Galileo Galilei zugeschrieben, und das ist allen Einschränkungen zum Trotz, systematisch auch nicht ganz falsch. Mit der Transformation des Experiments zum Laborexperiment im engeren Sinne jedoch wird eines ganz klar. Die Laborbedingungen sind andere als diejenigen der Wirklichkeit. Im Labor blenden wir alle störenden realen Faktoren geradezu aus; wir konstruieren eine Wirklichkeit und testen unsere konstruierten Vermutungen an dieser konstruierten Wirklichkeit. Wir nehmen dabei normalerweise eine mechanistische und stark reduktionistische Vorstellung von Natur und damit auch von Leben in Kauf, und genau diese stark reduktionistische, mechanistische und deterministische Vorstellung erlaubt uns, unter künstlichen Laborbedingungen zu testen, ob unsere Vermutungen darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält zutreffen oder nicht.
Heute erleben wir nun erstaunlicherweise, um es pointiert zu formulieren, eine Wiederkehr des Lebens. Und das ist nicht deswegen der Fall, weil die Standardüberprüfungsform von Hypothesen im Laborexperiment vollständig obsolet würden, sondern weil sich eine Tendenz zeigt, auch das Laborexperiment zu informatisieren. Man braucht sich nur einmal etwa die Labors der Molekularbiologen anzusehen, um festzustellen, dass es zwar die Petrischalen und chemischen Reaktoren weiterhin gibt, dass diese aber durch intelligente Maschinen ergänzt und zum Teil auch ersetzt werden, die mindestens den kombinatorischen Teil der Genetik ausrechnen und in gewissem Sinne auch testen. Das Leben aus der Retorte ist in Tat und Wahrheit immer auch eine Computersimulation. Überall zeigt sich dasselbe Muster Das Bild, das Simulacrum, wird auf dem Rechner hergestellt, und die Operationen finden im informationellen Raum statt. Der mechanische Determinismus der Biologie des 19. Jahrhunderts wird sukzessive durch einen informationellen Determinismus der Biotechnologie ergänzt.
Hier finden erneut Weltanschauungsschlachten statt, die an diejenigen erinnern, die sich um den Darwinismus entzündeten. Man denke nur etwa an die neu entfachte Debatte um Hirnforschung und Willensfreiheit, die gegenwärtig nicht mehr nur an der genetischen und molekularbiologischen, sondern vordringlich auch an der neurobiologischen Front tobt.[23] Alles das macht jedoch seinen Sinn nur vor dem Hintergrund des – allerdings scheiternden – Versuches, das Neue zu verstehen, das sich in der Einlösung des frühmodernen Versprechens „Wissen ist Machen“ ausdrückt.
Das aber lässt nun erforderlich werden, ein drittes Begriffspaar in die topologische Betrachtung des technologischen Wissens einzuführen, nämlich das Begriffspaar von „Machen und Nichtwissen“. Und dazu ist es zunächst einmal hilfreich, sich klar zu machen, dass wir uns schon im 20. Jahrhundert von Kumulationsmodell des Wissens verabschiedet haben, das der Überzeugung Ausdruck verleiht wir könnten, wenn wir immer mehr wissen, irgendwann einmal alles wissen. Schon Popper hatte ein zeittheoretisches Standardargument gegen diese Annahme geltend gemacht: Wenn wir nämlich einmal alles wissen würden, dann würden wir auch wissen, was wir in Zukunft wissen werden. Das aber ist ein Widerspruch, denn wenn wir jetzt schon wüssten, was wir in Zukunft wissen werden, wäre es nicht das, was wir in Zukunft wissen, sondern was wir bereits jetzt wissen.[24]
Das aber heißt, dass wir das Kumulationsmodell des Wissens durch ein anderes ersetzen und damit die Leitmetapher der weißen Flecken auf der Landkarte durch diejenige der fraktalen Geometrie ergänzen müssen: Mit jedem Stück Wissen nämlich, das wir uns aneignen, schrumpft nicht etwa der Bereich des Nichtwissens, sondern er wächst, indem jede gelöste Frage unter Bedingungen des technologischen Wissens zugleich auch eine technologische Umsetzung bedeutet, und das wiederum hat zur Folge, dass sich mit jeder beantworteten Frage neue Fragen bilden. Die Dynamik des Wissens folgt also eher dem Hydramodell: Jeder Nichtwissenskopf, den wir nicht etwa nur mit einer Antwort, sondern mit deren technologischen Realisierungen abhauen, lässt beliebig viele neue Nichtwissensbestände nachwachsen, und das bedeutet, dass jedes angewandte wissenschaftliche Wissen, das technisch umgesetzt ist, eben dadurch, dass es realisiert wird, selbst zum Generator von neuen ungelösten Problemen wird. Um sich das zu vergegenwärtigen, muss man nur etwa an die Problematik der Technikfolgenabschätzung, an die Komplexität des Nachhaltigkeitsthemas o.a. erinnern. In der Wissenschaftssoziologie hat sich dafür der Terminus „Wissen vom Modus 2“[25] eingebürgert, und das bedeutet, dass wir uns in eine Wissenskultur und auch in eine Wissensorganisation hineinbewegen, die anders strukturiert ist als die, die wir zu kennen glauben. Sie belässt Wissen im Diskurs, gibt nur vorläufige Antworten und konzentriert sich stärker auf den Prozess, der in „invisible Colleges“ stattfindet. Diese bestehen aus Personen und Interaktionen, die sich nicht an feststehende Institutionen knüpfen, sondern sich ad hoc zusammenfinden und eben so auch wieder auseinander gehen können. Es handelt sich dabei um Zukunftlabors, die sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht wie die traditionellen Labors einem der Grundprinzipien aller Institutionen gehorchen, nämlich sich, wenn sie einmal gegründet sind, im Regelfalle selber am Leben zu erhalten.
Das Nichtwissen erobert somit zwar den Bereich des Wissens im Sinne des Machens, wird aber dadurch zugleich selbst erobert Verfahren, wie wir Nichtwissen handhaben können, nennen wir 'Management', und dem sich daran entzündenden Interesse entspricht eine in den letzten zwei Jahrzehnten sprunghaft anwachsende Forschungsliteratur zum Thema 'Ignorance'.[26]
In diesen Zusammenhang gehört auch die Formel, wir lebten in einer Wissensgesellschaft Wenn man damit meint, dass die Individuen heute mehr wüssten als frühere Generationen, ist das schlicht falsch, obwohl dieses Missverständnis weit verbreitet ist. Viel eher ist gemeint dass wir in einer Gesellschaft leben, in der wir wissen, wo wir linden können, was wir nicht wissen. Dieses aber ist nach Georg Simmel die Bedeutung von „Bildung“.[27] Die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts ist eine Nichtwissensgesellschaft: Je mehr Wissen wir potenziell zur Verfügung haben, desto weniger wissen wir selbst. Dafür können wir mehr, wir können in dem uns verfügbaren Wissen des Netzes navigieren, wir verfügen also über Wissens-Navigationsfähigkeiten, anders: über Fähigkeiten, unser Nichtwissen zu managen. Kurz und formelhaft formuliert: Heute ist die technologische Zivilisation ein Teil unserer Gegenwartskultur geworden; galt bisher Simmels erwähnte Bestimmung, gebildet sei, wer wisse, wo er finde, was er nicht wisse, gilt nun genauer: Gebildet ist wer weiß, wie er oder sie es managen kann, zu machen, was er oder sie nicht weiß.
3 VERMITTLUNG VON WISSEN ALS MACHEN:
BILDUNG
Die Hermeneutik technischen Wissens, die auf der Einsicht beruht, dass Wissen in Wahrheit Machen ist, hatte sich uns als der kontinuierliche rekursive Verbesserungsprozess von Wissen durch Können und von Können durch Wissen dargestellt. Dieser Prozess allerdings ereignet sich nicht von selbst sondern seine pragmatische Implementierung in einer Gesellschaft geschieht institutionell und inhaltlich durch Weitergabe des Wissens und Könnens. Was in den frühneuzeitlichen Wissenskulturen noch als handwerkliche Wissensweitergabe auf der einen und kognitive Wissensweitergabe auf der anderen Seite entstanden war, liegt uns heute noch in Reliktform vor, was die unterschiedlichen Institutionen betrifft, die an der Wissensweitergabe beteiligt sind. Die Formel, die im – jedenfalls deutschsprachigen – Europa dafür steht ist die der „dualen Bildung“. Gemeint ist damit das noch aus dem Mittelalter herübergerettete zweigleisige System, in dem Zünfte, Gilden und Handwerkskammern auf der einen und Schulen, Hochschulen und Universitäten auf der anderen Seite die Verantwortung für die Qualifikation der nächsten Generationen übernahmen. Dieses System, in der Vergangenheit ausgesprochen erfolgreich, sieht sich nun allerdings gerade angesichts der hybridisierten Struktur des technologischen Wissens vor ganz neue Herausforderungen gestellt zu deren Bewältigung es noch wenig neue Konzepte gibt. Auf eine Formel gebracht: Wenn das bisher über die hermeneutische Optimierungsform von Wissen und Können auf der einen und die Konvergenz von Wissen und Machen auf der anderen Seite Entwickelte zutrifft, dann gilt dass die beiden Systeme, von denen das Eine dem Können, das Andere dem Wissen diente, sich immer stärker aufeinander zu bewegen müssen: Auf der Seite der Lehrlings- und Meisterausbildung zeigt sich eine massive Unterwanderung des reinen handwerklichen Könnens durch wissenschaftliches Wissen, auf der Seite der Schulen, Hochschulen und Universitäten eine starke Tendenz zu mehr Praxis und Wirtschaftsnähe. In beiden Bereichen geht dies einher mit einer Tendenz zur Tertiarisierung und Quartärisierung, die sich in die Formel „Akademisierung des lebenslangen Lernens“ zusammenfassen lässt. Darüber hinaus gilt dass vom Lebenszyklus her gesehen, Bildung heute nicht mehr nur eine Vorbereitung aufs Leben, sondern integraler Bestandteil des Lebens selbst geworden ist, d.h. die Trennung „Zuerst Bildung bzw. Ausbildung, dann Berufspraxis bzw. Leben“ ist so nicht mehr aufrecht zu erhalten.
Wie überall stellt das entscheidende Hindernis für die Einsicht in diese Veränderung der Erfolg des Bestehenden dar, auf den die Apologeten von Vergangenheit und Gegenwart sich denn auch immer berufen. Die Aufgabe des Wissenschaftlers und Philosophen ist es in dieser Situation nicht Bekehrungsstrategien zu entwickeln, sondern die eigene Einsicht mit guten Argumenten zu untermauern. Ob diese gehört und gar internalisiert werden, ist eine ganz andere Frage.
Um nun die argumentative Plausibilität einer Hybridisierung von Wissen und Können auf dem Hintergrund der Einsicht, dass Wissen heute vorwiegend Machen ist, zu erhöhen, mag es sinnvoll sein, sich in einer Art von longitudinalem Früher-Jetzt-Vergleich die auch institutionelle Entwicklung von Lern- und Arbeitswelt zu vergegenwärtigen.
Was war Bildung früher? Früher – und das hielt noch bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts, in einigen Ländern sogar noch bis heute an – war Bildung absolutes Privileg einiger ausgewählter Menschen, die hauptsächlich aus den oberen Schichten stammten. Im Grundsatz schon seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht, faktisch aber spätestens seit dem Beginn der oben analysierten Wissensgesellschaft, beginnt sich das gravierend zu verändern. Bildung, und zwar wissenschaftlich-technische Bildung, wird heute zunehmend zum Grunderfordernis buchstäblich fast jeglicher Berufsausübung. Das kann man an der zunehmenden Akademisierung aller beruflichen Aktivitäten sehen, und erneut gilt, dass wir im zentraleuropäischen Vergleich dort eher hinterherhinken. Das lässt sich am leichtesten an einer Sparte illustrieren, die in den vergangenen Jahren immer wieder für Aufmerksamkeit und Debatten sorgte: die Gesundheitsberufe, und hier besonders diejenigen der Pflege. Mit einigen Ausnahmen sind nämlich die Pflegewissenschaften an den Universitäten im deutschsprachigen Bereich (noch) nicht beheimatet. Außerhalb dieses Bereichs kommen sie allerdings international auch an akademisch hochrenommierten Hochschulen prominent vor. Hierzulande werden sie jedoch mit anti-akademischen Ressentiments bekämpft, und es fallen ironische Sprüche wie der von der „promovierten Krankenschwester“. Wenn man sich aber klar macht, in wessen Hände man sich begibt, wenn man etwa in eine Klinik eintritt, und wenn man sich darüber hinaus noch klar macht wie hoch die auch wissenschaftlichen Anforderungen an die Qualifikation des Pflegepersonals ist dann sieht man, dass es dringend erforderlich ist, hierfür akademisch hochqualifizierte Personen zu gewinnen. Und wenn das eigene System das nicht hergibt muss man dieses Personal eben aus dem Ausland importieren, und schon gerät man auf den „slippery slope“ der weltwirtschaftlichen Migration: Letztlich bleiben auf diese Weise gerade die ärmeren Länder auf den Kosten der Ausbildung sitzen, von der die reicheren Länder dann profitieren.
Ein im deutschsprachigen Bereich weit verbreitetes Vorurteil besagt darüber hinaus, 'Eliten' bedeute, dass es von dem Gebildeten nur ganz wenige geben dürfe. Das ist aber falsch. Das war schon 1964 falsch, als Georg Picht sein damals aufsehenerregendes Buch über die deutsche Bildungskatastrophe veröffentlichte[28], in dem er u. a. darauf hinwies, dass das deutsche Bildungssystem auf den Kollaps zusteuere, wenn es nicht von dem absurden Vorurteil, dass Bildung etwas für ganz wenige sein müsse, Abschied nehme. Obwohl heute klar ist, dass Picht Recht hatte, hört man immer noch, es gebe zu viele, die im tertiären Bildungssystem ausgebildet würden, ganz besonders aber gebe es zu viele Studierende an den Hochschulen. In Tat und Wahrheit ist das Gegenteil der Fall. Der deutschsprachige Bereich hat im internationalen Vergleich einen riesigen Nachholbedarf – duales Bildungssystem hin oder her. Selbst wenn wir alle tertiären Ausbildungsabschlüsse zusammenrechnen, kommen wir nicht über 60 Prozent, wir brauchten aber 75 Prozent um in Zukunft international wettbewerbsfähig zu sein.
Vor dem Hintergrund des technologischen Wissenstypus, der in immer stärkerem Maße unser Bildungssystem dominiert, bedeutet dies aber zugleich, dass auch die Grenzen zwischen Bildung (also dem, was man braucht, um nach dem humanistischen Ideal ein ganzer, guter Mensch zu werden), Ausbildung (also dem, was man braucht, um ein erfolgreicher Professional zu werden) und Weiterbildung (also dem, was man braucht, um ein erfolgreicher Professional zu bleiben) zunehmend verschwimmen.
Das wird deutlich, wenn wir noch einmal einen Blick auf die Institutionen von Lernen und Arbeiten werfen: Während früher die Güterproduktion in den Fabriken und Werkstätten, die Wissensproduktion aber in den Hochschulen geschah, und während früher das Lernen vom ersten bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr stattfand, um dann das so Gelernte im Rest des Lebens anzuwenden, gilt heute etwas Anderes: Ein genauerer Blick in die heutige Wirtschaft und Wissenschaft zeigt, dass das, was dort geschieht, sich mit der Formel „wissensgestützte Produktion von Gütern und Dienstleistungen in den Unternehmen“ versus „umsetzungsorientierte Wissensproduktion in den Hochschulen“ beschreiben lässt.
Es bedarf keiner großen Phantasie, um dies in die Zukunft zu extrapolieren: Morgen werden wir einen Zustand haben, in dem die Wissensproduktion für wirtschaftlich erfolgreiche Innovationen in den Unternehmen geschieht die daher auch zunehmend zu „Lernfabriken“ werden, während eine stärker umsetzungsorientierte grundständige wissenschaftliche Berufequalifikation durch die Schulen, Berufsschulen, aber zunehmend auch durch die Hochschulen („Bachelor“ als erster berufsqualifizierender Abschluss) geschieht. Als Konsequenz zeichnet sich eine arbeitsteilige Symbiose von disziplinärer Erstqualifikation durch Hochschulen und disziplinenübergreifender Weiterqualifikation in den Unternehmen und Betrieben ab, was sich bereits an der Herausbildung von unternehmensinternen tertiären Einrichtungen zeigt die ihrerseits in Hochschulnetzwerke eingebunden sind. Dass die Apologeten des Bestehenden davon nichts wissen (oder wissen wollen) ist zwar verständlich, aber nicht hilfreich.
Dies sind die institutionellen und inhaltlichen Konsequenzen davon, dass die Bildung sich zunehmend als kontinuierlicher Verbesserungsprozess des hermeneutischen Typs technischen Wissens herausstellt. Wir befinden uns – ob es den falschen Propheten Humboldts nun gefällt oder nicht – längst in einem Bildungsmarkt in dem der „garstig breite Graben“ zwischen Wissenschaft und Wirtschaft sich dadurch zu schließen beginnt, dass das alte, angebotsgetriebene curriculare Modell von Bildung ersetzt wird durch ein neues modularisiertes, nachfrageorientiertes Modell. Und das bedeutet dass neben den im engeren Sinne fachlichen Kompetenzen von Berufstätigen auch die Schlüsselqualifikationen und überfachlichen Qualifikationen in stärkerem Maße angeboten werden müssen, weil die Nachfrage nach ihnen exponentiell wächst.[29] Allein dies schon ist ein Indikator dafür, dass das berufliche und das akademische Ausbildungssystem an dieser Stelle zusammenwachsen: Vorwiegend im Bereich der Bachelorstudiengänge und der beruflichen wie akademischen Weiterbildung zeigt sich, dass die Schlüsselqualifikationen und die überfachlichen Kompetenzen sich weitgehend angleichen. Ohnehin werden nur 10 bis 20 Prozent dessen, was man zur Ausübung seines Berufes, und zwar spezifisch in Führungsfunktionen, benötigt, im System der formellen Bildung erworben. Der Rest entsteht „learning by doing“, durch „training on the job“, berufsbegleitende Weiterbildung etc.
Kurz: Die scheinbare Paradoxie in der Vorstellung, dass Technik etwas mit Wissen und beides etwas mit Hermeneutik und alle drei etwas mit Bildung zu tun haben sollten, löst sich auf, wenn man sich klar macht, dass diese Anstößigkeit darauf zurückzuführen ist, dass wir eine sich verändernde Realität von heute immer noch mit den terminologisch-begrifflichen und institutionellen Mitteln von gestern zu begreifen versuchen.
Literatur
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Bacon, F., Novum Organon (1620), Hamburg: Meiner, 1990, S. 81. Dilthey 1900
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Dovring, F.: Knowledge and ignorance. Essays on lights and shadows, Westport, Conn. u.a.: Praeger, 1998.
Fellmann, F.: Das Vico-Axiom. Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg i. Br.: Alber, 1978.
Fischer, E. P.: Die andere Bildung: Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte, Berlin: Ullstein-Taschenbuch-Verlag, 2003.
Gadamer, H.-G.: Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. In: Apel, K O. u.a.: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1971, S. 57-82.
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[1] Snow 1987.
[2] Lepenies 2006.
[3] Zimmerli 1990, S. 10-17.
[4] Fischer 2003.
[5] Bacon 1597, S. 79.
[6] Bacon 1620, S. 157.
[7] Vico 1710, S. 34; vgl. dazu Fellmann 1978.
[8] Goethe 2007, S. 105.
[9] Zimmerli 2005.
[10] Winnacker 1990.
[11] Vgl. Dilthey 1900, Gadamer 1980.
[12] Vgl. Gadamer 1971, bes. 63 et passim.
[13] Vgl. Gadamer/Boehm 1978.
[14] Heidegger 1993.
[15] Dilthey 1900, S. 330; vgl. Maraldo 1997.
[16] Vollmer 1995, S. 4-6.
[17] Vgl. Hierzu und im Folgenden Zimmerli 2008.
[18] Meier 2006.
[19] Weber 1982, S. 603 und vgl. Schluchter 1996, S. 223-255.
[20] Spaemann 1984, S. 172.
[21] Vgl. Zimmerli 1993 und ders. 2006.
[22] Turing 1950, S. 433-460, dt. in: Zimmerli/Wolf 1994, S. 39-78.
[23] Vgl. Roth 1994; Singer 2002; Roth/Singer 2003.
[24] Popper 1965, XI f.
[25] Nowotny 1997.
[26] Vgl. Dovring 1998; Walton 1996.
[27] „Gebildet ist, wer weiß, wo er findet, was er nicht weiß.“ (Georg Simmel, 1858-1918 zugeschrieben.
[28] Picht 1965.
[29] Zimmerli 2009.
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