Kanchipuram ist eine der Sieben Heiligen Städte der Hindus. Shiva Vishnu Kanchi, so lautet der heilige Name des Ortes, wird auch als die „Stadt der Tausend Tempel“ gerühmt. Zu ihren Glanzzeiten, als sie die Hauptstadt des Pallava Reiches war, traf diese Bezeichnung zweifellos zu. Heute sind von den antiken sakralen Bauwerken nur noch etwa 120 Tempel übriggeblieben. Dennoch ist Kanchipuram eine der ungewöhnlichsten Tempelstädte Indiens. Ihre Gopurams, die gewaltigen Tortürme der Tempel, erheben sich eindrucksvoll über der weiten, hitzeflimmernden Ebene und sind schon aus der Ferne sichtbar.
In Kanchipuram befindet sich auch eine der geheimnisumwobenen Palmblattbibliotheken, die über den gesamten Subkontinent verstreut sind. Die Urschrift der dort aufbewahrten Palmblätter wurde von einer Gruppe mythologischer Wesen – den Rishis – verfasst. Sie sollen etwa 5000 v. Chr. gelebt haben. Der Überlieferung zufolge nutzten die Rishis ihre außerordentlichen spirituellen Fähigkeiten dazu, aus der Akasha-Chronik, dem sogenannten „Weltgedächtnis“, die Lebensläufe von mehreren Millionen Menschen zu lesen und schriftlich zu fixieren. Das gesamte Leben dieser Menschen, von der Geburt bis zum genauen Zeitpunkt ihres Todes, wurde in Alt-Tamil – einer Sprache, die heutzutage nur noch von wenigen Eingeweihten beherrscht wird – niedergeschrieben. Die Urbibliothek der Rishis, so lautet eine Überlieferung, bestand nicht aus Palmblattmanuskripten, sondern wurde aus sehr dauerhaftem Material gefertigt. Es ist die Rede von gravierten steinernen Platten sowie beschrifteten Tafeln aus Edelmetall. Von dieser Urschrift existieren bis heute zwölf Kopien auf Palmblattmanuskripten, die in ebenso vielen Bibliotheken in ganz Indien bewahrt werden. Etwa 10 Prozent der Palmblätter sollen Informationen über das Schicksal von Nicht-Indern enthalten. Jeder, der erfahren möchte, was das Schicksal für ihn bereithält, muß sich aber selbst nach Indien in eine der Palmblattbibliotheken begeben. Seit 1993 bereise ich Indien und habe inzwischen sieben der zwölf Palmblattbibliotheken besucht. Meine Palmblätter enthielten Informationen und genaue Daten über die Vergangenheit, teilweise sogar aus früheren Inkarnationen, über meine Zukunft in diesem Leben sowie Aussagen über sehr persönliche, ja intime Angelegenheiten, welche, soweit sie die Vergangenheit betrafen, auch überprüfbar waren und der Wahrheit entsprachen. Es gelang mir sogar, in der Palmblattbibliothek von Chennai (Madras) mein persönliches Palmblatt zu erhalten. Das Manuskript wurde von führenden Spezialisten Europas für alttamilische Philologie untersucht. Die Analyse ergab, daß es sich dabei tatsächlich um meinen Lebenslauf, und nicht etwa um einen beliebigen religiösen Text handelt. Ferner nahm das Kernforschungszentrum Rossendorf/Sachsen eine Altersbestimmung des Palmblattes mittels der C-14-Methode vor. Demnach ist das untersuchte Palmblatt älter als 350 Jahre. Mit aller gebotenen Vorsicht möchte ich dies als einen Beweis dafür werten, daß zumindest vor 350 Jahren jemand meinen Lebenslauf insoweit kannte, als er ihn von einem älteren Manuskript kopierte. In den Palmblattbibliotheken werden jedoch nicht nur Voraussagen über die individuellen Schicksale verschiedener Menschen aufbewahrt. Es existieren auch zahlreiche Palmblattmanuskripte, deren Inhalt sich mit künftigen gesellschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen beschäftigt. Sie sind das Vermächtnis jener Wesen, welche im alten Indien als die Rishis bekannt waren, und von denen es heißt, dass sie keinen physischen Tod starben, sondern sich zu Beginn des Kali Yuga, des sogenannten „Eisernen Zeitalters“, in dem die Menschheit heute lebt, in die Reinen Länder zurückzogen. Das Wissen um die Existenz solcher Orte war einstmals in Asien weit verbreitet. Aus China ist überliefert, daß es im Kunlun-Gebirge ein Tal geben soll, wo Unsterbliche in nicht gekannter Harmonie lebten. Indische Legenden berichten von Kalapa, einem Ort, an dem vollkommene Menschen zu Hause sein sollen. Aus dem alten Rußland sind Berichte bekannt, nach denen man nur den Weg der Tatarenhorden in die Mongolei zurückverfolgen müsse, um nach Belovodye zu gelangen, wo heilige Menschen im Land der Weißen Wasser leben. Den Bewohnern dieser Reiche wird neben einem hohen moralischen und gesellschaftlichen Entwicklungsniveau vor allem eine außergewöhnliche spirituelle Reife nachgerühmt.
Doch die Rishis sind auch noch heute allgegenwärtig in der Tempelstadt Kanchipuram. Der Besucher begegnet ihren Spuren im Sri Ekambaranatha Tempel. Dieses Heiligtum gehört zu den größten sakralen Bauten von Kanchipuram. Allein seine Grundfläche bedeckt neun Hektar Land. Der Tempel wird von einer gewaltigen Außenmauer aus Granit umgeben. Auch sein Gopuram ist äußerst beeindruckend. Mit einer Höhe von mehr als sechzig Metern gehört der aus Granit erbaute, mit Abbildern von Göttinnen, Göttern und Helden der indischen Mythologie bedeckte Koloß zu den größten Tempeltürmen Südindiens. Im Innern des Tempels umgeben fünf weitere Einfriedungen den Zentralbau des Heiligtums und eine Tausend-Säulen-Halle, wie man sie in allen südindischen Hindu-Tempeln findet. In Wirklichkeit besteht diese Halle allerdings nur aus 540 mit überaus filigranen Steinmetzarbeiten geschmückten Granitsäulen, die allesamt Szenen aus dem Mahabharata, dem Ramajana und einigen weiteren indischen Epen zeigen.
In diesem Tempel soll ein Archiv existieren, in dem uralte heilige Texte verwahrt werden. Dazu gehören neben historischen Überlieferungen auch yogische Lebensregeln und geheime Manuskripte, die magische Rituale beschreiben sowie Texte des Jothir Veda, der hinduistischen Wissenschaft der Zukunftsdeutung. Fremden ist diese Bibliothek üblicherweise verschlossen, ebenso wie Nicht-Hindus der Zutritt zum zentralen Heiligtum des Tempels untersagt ist. Vor gut einhundert Jahren soll ein Mann aus den USA auf seiner Reise durch Indien auch nach Kanchipuram gelangt sein. Er freundete sich mit einem Priester der Tempelschule an. Der Amerikaner suchte nach den Spuren einer versunkenen Hochkultur, von der er glaubte, daß sie einst im Gebiet des heutigen Pazifik existiert hätte. Als der Priester das überaus große Interesse des Fremden an der Vergangenheit erkannte, machte er ihm einen Teil jener uralten steinernen Platten aus der Tempelbibliothek zugänglich, deren eingemeißelte Texte vom Untergang jenes Landes berichteten, das der Amerikaner Mu nannte. Dieser Fremde, von dem die Priester des Tempels noch heute gern erzählen, war der Forscher und Schriftsteller James Churchward. In seinen Büchern über den verlorenen Kontinent erwähnt er auch die geheimnisvolle Tempelbibliothek von Kanchipuram.
In den vergangenen Jahren hatte ich bereits des öfteren versucht, ebenso wie einst Churchward Zugang zu diesem geheimnisvollen Tempelarchiv zu erhalten, bislang aber immer ohne Erfolg. Am 23. Juli 2010 besuchte ich den Sri Ekambaranatha Tempel erneut. Diesmal wurde ich jedoch nicht wie gewohnt von meinem Bekannten Narjan, einem jungen Tempelpriester, empfangen, sondern von einem kleinwüchsigen, aber dennoch sehr würdigen älteren Herrn, der sich als Pachayappa vorstellte. Offenbar bekleidete er eine einflussreiche Position im Tempel, denn die übrigen Priester begegneten ihm mit größtem Respekt. Im Gegensatz zu Narjan allerdings sprach er kaum Englisch. Gestenreich bekundete er große Freude darüber, dass ich als Weißer einen Navagraha-Ring trug. Dieser Ring dient im Glauben der Hindus dazu, seinem Träger die Gunst der Neun Planeten der vedischen Astrologie zu versichern. Dann bedeutete mir Pachayappa, ihm zu folgen. Er führte mich tiefer in die labyrinthischen Hallenkomplexe des Tempels hinein. Hier erhellten vereinzelte Fackeln und Öllampen nur spärlich eine ewige Dämmerung. Die Wände und Säulen aus perfekt gefügten zentnerschweren Granitblöcken waren nicht mehr so reich verziert wie in den äußeren Bereichen. Ich hatte eher das Gefühl, mich in einer leeren Fabrikhalle als durch die Säulengänge eines sakralen Bauwerkes zu bewegen. Die Hallen, Nischen und Arkaden wirkten seltsam funktionell und ließen jede religiöse Prachtentfaltung vermissen. Diese Räume sollen den Bauwerken nachempfunden sein, in denen einst die Vimanas, die Fahrzeuge der Götter und Weisen, konstruiert und gebaut wurden. Tatsächlich lassen sich einige Bereiche des Sri Ekambaranatha Tempels auch ohne große Phantasie als Nachbauten von Verladerampen, Werkstätten und Hangars interpretieren.
Pachayappa führte mich in den alten, bereits stark verfallenen und für Besucher eigentlich offiziell unzugänglichen Teil des Sri Ekambaranatha Tempels. Vor einer eisenbeschlagenen Tür blieb er stehen und deutete mit bestimmter Geste nach unten: „Rishi place!“ – Ein Ort der Rishis? Was meinte er? Ich sollte es bald erfahren. Der Priester öffnete mittels eines gewaltigen Schlüssels die alte Tür. Knirschend drehte sie sich in den Angeln und gab den Blick auf eine Treppe frei, die in unergründliche Tiefen zu führen schien. Pachayappa entzündete eine Öllampe und drückte mir eine zweite in die Hand. Elektrisches Licht gab es hier wohl nicht. Beim schwachen Schein unserer beiden Funzeln stiegen wir hinab. Nach einer Zeit, die mir endlos schien, endete die Treppe vor einer zweiten, ebenfalls mit Metall beschlagenen Tür. Der Priester öffnete sie und führte mich nach rechts durch einen etwa zehn bis zwölf Meter langen und mehr als zweieinhalb Meter hohen Gang zu einer anderen Tür, die eine weitere Treppe verbarg. Wieder ging es treppab, wieder mussten Türen geöffnet und danach sorgfältig verschlossen werden, insgesamt sieben Stück. Über drei Treppen waren wir in die Tiefe gestiegen. Zwei davon zählten je 108 Stufen, die dritte nur deren 54.
Dann bedeutete mir Pachayappa, dass wir uns endlich am Ort der Rishis befanden. Der Priester zündete weitere Öllampen an, die hier in kleinen Nischen entlang der wie poliert wirkenden Wände aus Granit standen. In ihrem blakenden Schein erstreckte sich vor mir eine lange Galerie, von der nach links mehrere Räume abzweigten. An seinem Ende erweiterte sich der Gang zu einem kleinen Saal. Es war heiß, stickig und ziemlich staubig hier unten. Der stechende Geruch von Fledermauskot drang in meine Nase. Wenn es stimmte, dass diese Anlage von den Rishis geschaffen worden war, dann hatte hier wohl seitdem keiner mehr saubergemacht. Spinnen und weitere, wenig Vertrauen erweckende Krabbeltiere fühlten sich hier jedenfalls wohl. In Gedanken verwünschte ich den Brauch, jeden Hindu-Tempel nur barfuß betreten zu dürfen. Doch wenn ich schon so weit vorgedrungen war, wollte ich nun auch wissen, warum mich der Priester hierher geführt hatte.
Die Räume zu meiner Linken erweckten mein Interesse. Dabei handelte es sich um insgesamt neun rechteckige Hallen von etwa 25 Metern Länge und 15 Metern Breite. Die Decke dieser Kammern war recht niedrig. Ich konnte sie mit der ausgestreckten Hand berühren. Im Gegensatz zu den glatten Wänden der Gänge, die ich bislang durchquert hatte, waren die Wände dieser Räume mit Reliefs bedeckt, wie ich sie aus den Mandapams, den Felstempeln von Mahabalipuram kannte. Das seien die „Rishi Puranas“, erklärte mir Pachayappa, Darstellungen aus dem Leben der Kulturbringer des alten Indien. Was mir aber den Atem raubte, waren diese Dinge, die ich in den Kammern sah. Drei Räume waren fast bis zur Decke angefüllt mit Tafeln aus schwarzem Granit. Beschrifteten Tafeln! Es mussten tausende, ja zehntausende sein! Beide Seiten der etwa postkartengroßen Steintafeln waren in engen Zeilen mit eingravierten winzigen Zeichen einer mir unbekannten Schrift bedeckt. Andere Tafeln wiesen fein ausgeführte geometrische Muster auf, die an technische Zeichnungen, Landkarten oder astronomische Darstellungen erinnerten. Die beschriebenen Steine waren erstaunlich schwer. In ihrer polierten Oberfläche zeichneten sich trotz des allgegenwärtigen Staubes die unbekannten Schriftzeichen deutlich ab. Ich fragte nach deren Bedeutung. Das sei Brahmin, die älteste Form der alt-tamilischen Schrift, erklärte mir Pachayappa. Der Rishi Agasthyia soll sie einst geschaffen haben, um das Vermächtnis der Sieben Weisen aufzuzeichnen.
Dann führte mich der alte Priester weiter. Die folgenden drei Kammern waren angefüllt mit dünnen beschrifteten Tafeln aus einem gelblichen Metall. War es das, wofür ich es hielt? Ja, lächelte der Alte, das sei Gold. Jeweils 54 dieser goldenen Täfelchen von der Größe meines Notizbuches (etwa 14 cm x 10 cm bei einer Stärke von ca. 2 mm – 3 mm) waren zu einem Buch zusammengefasst. Auch hier benutzten die Schöpfer dieser unglaublichen Bibliothek wieder beide Seiten der Tafeln. Doch im Gegensatz zu ihren steinernen Ebenbildern hatten die Goldtafeln an ihrer oberen Schmalseite eine feine Öse, durch die ein massiver Bolzen verlief, der die Tafeln zu einem Buch verband. Beim Lesen wurde dieser Bolzen entfernt, wie mir Pachayappa vorführte. Ich sah ihm sprachlos vor Erstaunen zu. Mich beeindruckte nicht unbedingt der Materialwert dieser Bibliothek, vielmehr die Menge des hier gespeicherten Wissens aus grauer Vorzeit. Es war ein unglaublicher Wissensschatz, der hier seit Jahrtausenden schlummerte.
Doch mein Begleiter hatte mir noch mehr zu zeigen. In den letzten drei Hallen lagerten weitere Schrifttafeln aus Silber und Bronze, den „sieben Metallen“ wie sie in Indien genannt wird. Diese Tafeln wiesen einen sehr starken Patinabelag auf, so dass die eingravierten, nur wenige Millimeter großen Schriftzeichen hier im Gegensatz zu den Goldtafeln kaum erkennbar waren. Ich benutzte ein Taschentuch als Putzlappen und nach Minuten schweißtreibenden Polierens schaute zumindest eine silberne Platte wieder so aus, als sei sie eben beschrieben worden. Bei meinem Rundgang in diesen Kammern stieß ich auch auf merkwürdige Rollen aus seltsamen Metallfolien, die mir irgendwie bekannt vorkamen. Pachayappa bemerkte mein Interesse und führte mir vor, wie sich so eine Schriftrolle öffnen ließ. Es genügte, den oberen Rand der Folie zu glätten, und sie rollte sich selbsttätig aus, um dann wie ein Blatt Papier vollkommen glatt liegen zu bleiben. Umgekehrt genügte es, die Folie ein wenig zu biegen, dass sie sich automatisch wieder zusammenrollte. Diese lediglich einseitig beschrifteten Metallfolien war hauchdünn, aber dennoch unglaublich robust. Das von seinem Aussehen her an Titan erinnernde Material ließ sich weder verknittern noch zerreißen. Die Schriftzeichen hier schienen nicht eingraviert, sondern eher geätzt zu sein. Irgendwo hatte ich schon einmal diese Folien gesehen. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen – in James Churchwards Buch war solch eine Rolle abgebildet! Kein Zweifel mehr, ich befand mich wirklich in der Urbibliothek der Rishis, hier, unter dem Sri Ekambharanatha Tempel!
Zum Schluß brachte mich der alte Priester in die zehnte Kammer der unterirdischen Anlage am Ende der Galerie. In der Mitte des Raumes erhob sich eine etwa 1,50 Meter hohe Säule aus einem massiven schwarzen Material. Dieser Shiva Lingam, das Symbol einer der drei hinduistischen Hauptgötter, sei nicht aus Stein, versicherte mir Pachayappa. Merkwürdigerweise schien der Lingam schwach aus sich heraus zu leuchten. Es war ein feines, diffuses Glimmen. Energisch hinderte mich der Priester daran, die Säule zu berühren. Das sei für einen Uneingeweihten sehr gefährlich, versuchte er mir zu erklären, da bestünde Gefahr für Leib und Leben. Ich hatte keinen Grund, Pachayappa nach den vergangenen Ereignissen zu misstrauen, und folgte seinem Rat. Im Halbrund hinter dem mysteriösen Lingam erkannte ich sieben Statuen – die sieben Rishis. Bhrigu, ihr Anführer, stand in der Mitte, flankiert von Shuka, Kakabhujanda, Vashishta und all den anderen. Einer der sieben war von zwergenhaftem Wuchs. Das musste Aghasthiya sein, der Schöpfer des Alt-Tamil, von dem es in den Legenden hieß, er sei körperlich ein Zwerg, geistig aber ein Riese gewesen. Die lebensgroßen Standbilder der Rishis schimmerten metallisch. Mag sein, dass sie aus Gold gefertigt waren oder aus vergoldetem Silberblech.
In der Rückwand des Raumes befand sich eine weitere Tür, doch Pachayappa bedeutete mir, dass er sie nicht öffnen würde. Ein dahinter befindlicher Gang war der Beginn eines riesigen unterirdischen Tunnelsystems, von dem ich bereits früher gehört hatte. Vom Schrein der Rishis aus führen weitverzweigte Stollen bis zu dem bei Indienreisenden beliebten Städtchen Mahabalipuram an der Küste des Golfes von Bengalen. Der Ort liegt 58 km südlich von Chennai (ehemals Madras) im indischen Bundesstaat Tamil Nadu. Er birgt unterirdische Geheimnisse, die bislang kaum jemand kennt. Im Süden des Ortes errichteten die Engländer um 1910 den modernen Leuchtturm, der bis heute seinen Dienst versieht. Unterhalb dieses Leuchtturmes auf der dem Meer abgewandten Seite des Felsplateaus wurde in ferner Vergangenheit ein Höhlentempel aus dem harten Gneisgestein herausgearbeitet. Dieser Varagha-Mandapam wird noch heute von einer Brahmanen-Familie betreut und ist eigentlich nur für Hindus zugänglich. Das Innere des Heiligtums besticht durch hervorragend gearbeitete Darstellungen von Göttern und Helden des alten Indien. Doch nicht nur die ausgezeichnet erhaltenen Skulpturen und Reliefs machen den Mandapam so interessant, sondern sein Eingang zu dem geheimen Labyrinth von Tunneln und unterirdischen Straßen, das von Kanchipuram bis hierher führt. Gänge unter der Kleinstadt Thirukazikundram verbinden diese mit einem als Thirukalikum Davam bezeichneten Shiva-Tempel, der über dem Ort auf einem Felsmassiv thront. Der gesamte Berg soll von unterirdischen Stollen wie ein Schweizer Käse von durchlöchert sein. Dies behaupten jedenfalls die Einheimischen. Von da aus setzen sich die Tunnel bis nach Kanchipuram fort, das etwa 60 km von Mahabalipuram entfernt ist. Hier enden sie unter dem alten Teil des ebenfalls Shiva geweihten Sri Ekambaranatha Tempels. Im Schrein der Rishis stand ich nun vor diesen Tunneln. Der Legende nach sind sie so groß, dass zwei Reiter zu Pferd in voller Rüstung die Gänge nebeneinander passieren können. Ein moderner Geländewagen hätte demnach auch keine Probleme, die Tunnel zu befahren.
Einst sollen diese Gänge den Herrschern der Pallava als geheime Verbindungs- und Fluchttunnel gedient haben, durch die sich im Kriegsfall auch ganze Truppeneinheiten ungesehen und rasch von einem Ort zum anderen verlegen ließen. Lokale Legenden belegen jedoch, daß die Pallava lediglich ein bei weitem älteres, künstliches Höhlensystem für ihre Zwecke um- und ausbauten. Die Tunnel, welche Mahabalipuram mit Kanchipuram verbinden, sind demnach viel älter als die Pallava-Dynastie. Diese Tunnelsysteme dürften sogar heute noch weitgehend intakt sein. Eine Begehung jedoch wird üblicherweise mit Hinweis auf einige, teilweise tödliche Unfälle untersagt, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten in diesem unterirdischen Labyrinth ereignet haben sollen. Offenbar hatten sich in manchen Abschnitten des unterirdischen Systems Stickgase angesammelt, die als Ursache der Todesfälle in Betracht kommen.
Archäologische Ausgrabungen bei der Kleinstadt Thirukalikundram Anfang der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts förderten reiche Funde an bronzenen Statuen und beschrifteten steinernen Tafeln zutage. Die Texte waren in Brahmin, der ursprünglichsten Form des Alt-Tamilischen abgefasst, und wurden bislang nicht übersetzt. Diese Funde sollen sich heute im Archiv der archäologischen Verwaltung des Kanchipuram Distrikts befinden. Inzwischen sind die Ausgrabungen aus Geldmangel wieder eingestellt worden. Teile der küstennahen Tunnelsysteme wurden durch Brackwasser überflutet, da sie von der Landbevölkerung versuchsweise als landwirtschaftliche Bewässerungskanäle zweckentfremdet worden waren. Dies führte in der Folge zu einer erheblichen Versalzung der Ackerflächen und einem drastischen Rückgang insbesondere der Reisernten in den betroffenen Gebieten. Nach Auffassung der Archäologen sollen die noch ungeöffneten Teile des unterirdischen Labyrinthes weitere archäologische Kostbarkeiten bergen. Diese Meinung der Wissenschaftler kann ich nur bestätigen. Begehbare Eingänge zu dem Tunnelsystem befinden sich meines Wissens nur noch auf dem Gelände des Sri Ekambaranatha Tempels in Kanchipuram. Der Eingang im Varagha-Mandapam von Mahabalipuram ist auf behördliche Anweisung in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts versiegelt worden.
Ich hatte kein Gefühl, wie viel Zeit wirklich vergangen war, seit ich die unterirdische Bibliothek betreten hatte, als mich Pachayappa wieder ans Tageslicht geleitete. Zum Abschied schenkte er mir eine kleine Tafel aus einem gelblich schimmernden Metall. Sie misst 4 cm mal 4 cm im Quadrat. Ich weiß nicht, ob sie aus der Bibliothek oder aus Pachayappas persönlichem Besitz stammt. Doch die auf ihr eingravierten Zeichen sollen den Schlüssel zum Verständnis des Vermächtnisses der Rishis enthalten. Dabei handelt es sich neben einem sechszackigen Stern offenbar um Symbole der alt-tamilischen Schrift, kombiniert mit Berechnungen der vedischen Astrologe. „Komm wieder, wenn Du verstanden hast“, ließ mich Pachayappa wissen. Die Frage nach der Entschlüsselung dieser Schriftzeichen ist einer der Gründe, warum ich den vorliegenden Artikel verfasst habe.
Als ich nach einem herzlichen Abschied von Pachayappa den Tempel verließ, vergoldete letzter Widerschein der Sonnenstrahlen die mächtigen Gopurams. Eine kühlende Brise hatte sich aufgemacht und vertrieb den Staub des geschäftigen Tages. Ich strebte im Strom der Pilger und Touristen meiner Unterkunft entgegen – zufrieden und einmal mehr überrascht von Indien.
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Begriffserläuterungen
C-14-Methode: Mitte der 60er Jahre begann man die Radiocarbon- oder 14C-Methode (umgangssprachlich C-14-Methode genannt) für die exakte Datierung archäologischer Funde zu nutzen. Der amerikanische Chemiker und Physiker Willard Frank Libby (1908 bis 1980) entwickelte die Radiocarbon-Methode zur Datierung abgestorbener organischer Stoffe wie Knochen, Holz oder Samen, die in prähistorischen Erdschichten oder Gräbern erhalten blieben. Dafür erhielt Libby 1960 den Nobelpreis für Chemie. Die von Libby entwickelte und bei weitem nicht unumstrittene Methode funktioniert folgendermaßen: In unserer Erdatmosphäre werden in ca. 15 Kilometer Höhe durch kosmische Strahlungen energiereiche Neutronen erzeugt. Trifft nun ein Neutron (n) auf ein Stickstoffatom (N), so wird durch Kernreaktion bei Abgabe eines Protons (p) ein radioaktives Kohlenstoffatom mit dem Atomgewicht 14 (14C) gebildet, das mit dem Luftsauerstoff (O2) zu Kohlendioxid (14CO2) oxidiert. Diese radioaktiven Kohlendioxidmoleküle werden in der gesamten Erdatmosphäre, im Wasser der Meere und in der Biosphäre gleichmäßig verteilt. Dabei stellt sich ein weltweit konstantes Verhältnis zwischen der Menge des radioaktiven und des normalen Kohlenstoffs mit dem Atomgewicht 12 (12C) ein, und zwar kommt auf eine Billion normaler 12CO2-Moleküle nur ein einziges mit dem radioaktiven Kohlenstoff 14C. Das Verhältnis der beiden Kohlenstoffisotopen ist deshalb konstant, weil ebensoviel 14C ständig neu gebildet wird, wie solches durch Radioaktivität zerfällt. An dem konstanten Verhältnis von 14C zu 12C hat auch die gesamte belebte Natur Anteil. Durch Photosynthese gelangt die Mischung der beiden Kohlenstoffisotope auch in die Pflanzen. Tiere und Menschen nehmen sie dann mit ihrer pflanzlichen Nahrung auf. Stirbt aber ein Lebewesen, so wird naturgemäß die Zufuhr von neuen 14C unterbrochen. Das vorhandene 14C zerfällt jedoch aufgrund seiner Radioaktivität weiter mit einer Halbwertzeit von 5 730 Jahren. Dies bedeutet, daß nach diesem Zeitraum in den Resten des Lebewesens nur noch die Hälfte des ursprünglich vorhandenen radioaktiven Kohlenstoffes enthalten ist. Nach weiteren 5 730 Jahre ist in den Überresten nur noch ein Viertel des radioaktiven Kohlenstoffs enthalten, und so setzt sich dieser Prozeß immer weiter fort. Um das Alter organischer Reste zu berechnen, muß man also das derzeitige Verhältnis von 14C zu 12C bestimmen und kann so unter Berücksichtigung der Halbwertzeit auf die Zeit schließen, die seit dem Tode des lebenden Gewebes vergangen ist. Die Strahlungsimpulse, die durch den radioaktiven Zerfall entstehen, werden gezählt. Aus der Halbwertzeit des 14C ergibt sich, daß nur solche Proben sinnvoll gemessen werden können, die nicht älter als 40 000 Jahre sind, weil sonst die Zahl der Strahlungsimpulse für eine statistische Berechnung zu klein wäre. Während des letzten Jahrzehnts wurde die 14C-Methode noch wesentlich verbessert, aber dennoch ist die ursprüngliche Radiocarbon-Chronologie keineswegs überholt.
Gopuram: Trapezförmige Tempel-Pyramiden, die an planetarisch ausgerichteten Kraftorten stehen. Sie sollen die Menschen an die hierarchische Ordnung der Dimensionen erinnern. Spitze und Basis verlaufen parallel und sind durch immer breiter werdende Stockwerke verbunden. Die Tempel selbst sind wie große Mandalas aufgebaut.
Kali-Yuga: das “Zeitalter von Streit und Heuchelei”, das vor fünftausend Jahren begann.
Mahabharata: Das bedeutendste und umfangreichste Epos der Hindus, in dem deren Gedanken anhand der Geschichte der Bharatas, eines indischen Volksstammes, verdeutlicht wurden. Geschichtswissenschaftler gehen davon aus, daß diese Ballade vor ca. 3000 Jahren entstand. Das heute bekannte Mahabharata stammt jedoch aus dem 4. und 5. Jahrhundert v.Chr.. Bharata war ein Herrscher, der durch sein weises und tapferes Handeln den ganzen indischen Subkontinent beherrschte. Die Inder nennen sich oft noch heute die Söhne Bharatas und Indien selbst Bharat oder Bharatavarsha. Kuru, ein Nachkomme Bharatas, war der Stammvater des Königsgeschlechts der Kauravas. Durch Familienzwistigkeiten kam es zum 18-tägigen Bruderkrieg zwischen den Kauravas und den Pandavas, der auf dem Schlachtfeld von Kurukshetra stattfand und den alten Stamm fast ausrottete. Der wohl bekannteste und schönste Teil des Mahabharata ist die Bhagavad Gita.
Navagraha Ring: Der Ring der Neun Planeten. Ein mit neun verschiedenen Edel- und Halbedelsteinen besetzter Ring aus Silber oder Gold. Er soll die Energien der Neun Planeten der vedischen Astrologie harmonisieren und seinen Träger vor negativen Aspekten beschützen.
Ramajana: indisches Nationalepos mit 24.000 Doppelversen, wahrscheinlich von Walmiki verfasst (4./3. Jh. v. Chr.). Erzählt die Sagen von dem göttl. Helden Rama und den Kämpfen, die er zu bestehen hatte, um seine von dem Dämonengott Ravana geraubte Gattin Sita zu befreien.
Rishis: bedeutet wörtlich „Rasende“ oder besser „Seher“. Die Rishis waren die Heiligen des vedischen Zeitalters in Indien. Das Sternbild „Großer Wagen“ steht mit seinen Sternen für die Sieben Rishis.
Shiva: einer der drei Aspekte Gottes; Gott als Zerstörer, der auflöst, um Neues zu erschaffen; Gott der Hindu-Trinität.
Sri Ekambharanatha: Herr des Mangobaumes. Tatsächlich erhebt sich im Allerheiligsten des Tempels in Kanchipuram ein Mangobaum, unter dem einst der Gott Shiva seine Gefährtin Parvathi geheiratet haben soll.
Veden: Der Hinduismus begründet sich in den Veden, d.h. heiliges Wissen, die von den Weisen (Rishis) „erschaut“ wurden und die sie dann in Worte faßten. Lange Zeit wurde dieses Wissen nur mündlich überliefert, seine Hüter wurden Brahmanen genannt, im ursprünglichen Sinne eine spirituelle Bezeichnung für einen Wissenden, einen, der im Kontakt mit dem Brahman steht. Erst später wurden diese rituellen und magischen Formeln, Lieder, Opfergebete und Hymnen in Alt-Sanskrit aufgeschrieben. Im Mittelpunkt stand dabei immer das Opfer, das auf genau vorgeschriebene Art ausgeführt werden mußte, um das Wohlwollen der Götter und die universelle Harmonie aufrecht zu erhalten. Die Bedeutung des Opfers erklärt sich schon allein aus der Tatsache, daß die Arier ein nomadisierendes Hirten- und Kriegervolk waren und somit Kulthandlungen in Tempeln, wie wir sie aus dem heutigen Hinduismus kennen, gar nicht möglich waren. Ebenso waren in dieser Zeit natürlicherweise personifizierte Naturgewalten wie Agni, Surya und Indra von großer Bedeutung. Sinn der Opferhandlungen war es, die Gunst der Götter auf sich zu ziehen, um recht irdische Dinge zu erlangen, wie viele Söhne, Wohlstand etc.. Dem im Sinne des Dharma Lebenden, der alle Regeln seiner Kaste bezüglich Familie, Beruf, Gesellschaft etc. erfüllte, stand nach dem Tode das Land der Väter offen (scheint sowas wie unser Paradies zu sein). Diese Religionsauffassung wird als Religion des Genießens im Gegensatz zu den später entstandenen Upanishaden verstanden, wo der Schwerpunkt auf der Erlösung (moksha) liegt. Die ältesten vedischen Hymnen sollen in die Zeit bis 1500 v.Chr. zurückgehen, während die ältesten Upanishaden ab 750 v.Chr. anzusiedeln sind.
Vimana-Veda: die Wissenschaft der planetarischen und interplanetarischen Flugobjekte. Man sagte den Göttern nach, daß sie heute weitgehend unbekannte Energien verwendeten. In der Vimana-Veda werden verschiedene Flugobjekte beschrieben. Eine genaue detailierte Beschreibung mit präziser technischer Genauigkeit würde eine perfekte Bauanleitung bieten. Es werden unbekannte Metallegierungen beschrieben, unbekannte chemische und physikalische Formeln aufgezeigt sowie Erläuterungen zu verschiedenen Energieformen gegeben. Das Vimana-Veda ist ca. 5000 Jahre alt.
Yoga: Selbstkontrolle – spirituelle Disziplin mit dem Ziel des Einswerdens mit Gott.
Literaturverzeichnis
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Blumrich, J. F., Kasskara und die sieben Welten, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München, 1985
Childress, David Hatcher, Lost Cities of China, Central Asia and India, Adventures unlimited, Stelle, IL 60919 USA, 1991
Childress, David Hatcher, Lost Cities of Ancient Lemuria & the Pacific, Adventures unlimited, Stelle, IL 60919 USA, 1987
Churchward; James, Mu – der versunkene Kontinent, Windpferd / Reihe Atlantis, Aitrang, 1990
Finlay, Huge & Kollegen, Indien-Handbuch, 5. Auflage, Gisela E. Walther Verlag, Bremen, 1997
Ritter, Thomas, Die Palmblattbibliotheken und ihre Prophezeiungen zur Zukunft, Kopp Verlag, Rottenburg, 2006
Rohr, Wulfing von, Es steht geschrieben, Ariston – Verlag, Genf / München, 1994
Waterstone, Richard, Living Wisdom India, Duncan Baird Publishers, London, 1995
Weiterhin fanden persönliche Notizen des Autors über seine Gespräche mit den Brahmanen Pachayappa Balasubramaniam (Priester im Sri Ekambaranatha Tempel von Kanchipuram) und M. K. Srinivasan (Dolmetscher und Fremdenführer in Mahabalipuram) in diesem Artikel Verwendung.