Kriegskind, Stasihäftling, Erfolgsunternehmer und Denkmalstifter
Kaum jemand vermag sich heute vorstellen zu können, wie die Generation der Kriegs- und Nachkriegskinder im zerstörten Deutschland aufwuchs und unter welchen Bedingungen sie lebte. Gebrochene oder zerstörte Familienbiographien waren für viele die wesentliche „Mitgift“ des Zweiten Weltkrieges. Eingebettet war das Ganze in eine Lebenswelt der Zerstörung, der materiellen Nöte und neuer politischer Konflikte. Sie bestimmten die Nachkriegsjahre, in der DDR die so genannten Aufbaujahre und letztlich fast die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Besonders schwierig verliefen diese Anfangs- bzw. Aufbaujahre im geteilten Deutschland, und hier insbesondere in Ostdeutschland. Junge Menschen, die in die 1949 gegründete DDR hineinwuchsen, hatten neben den schwierigen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zugleich Chancen, ihr Leben in den Dienst einer neuen, ja besseren Welt zu stellen, so glaubten es jedenfalls viele von ihnen. Für so manche kam aber die erwartete und durch Propaganda verkündete Vision vom „schönen neuen sozialistischen Leben“ sehr schnell ins Wanken. Ein wesentlicher Grund dafür war der von den Kommunisten mit allen politischen Mitteln ausgetragene „Klassenkampf“, der seinen Höhepunkt in der Adaption des sowjetischen Stalinismus fand. Die Diktatur der Arbeiterklasse verfolgte auf dieser ideologischen Grundlage jeden, der sich nicht zur kommunistischen Klassenkampfideologie bekannte oder bekehren ließ. Die Folge war jahrelanger offener Terror gegen Andersdenkende unter dem Deckmantel des Antifaschismus.
Ein Leben wie im Film
Einer, der durch diese „Hölle“ ging, war der Jenaer Karl-Heinz Johannsmeier. Seine Lebensgeschichte steht zugleich für viele gleichgelagerte Lebensläufe, zumindest bis zur Flucht in den Westen in den 50er Jahren. Darüber hinaus wartet seine Biographie mit Besonderheiten auf, die einen Hollywoodfilm wert wären. Vorerst ist sein Selbstzeugnis nur nachzulesen in einer Biographie mit dem Titel „Neun Leben sind nicht genug. Mein Weg vom Stasihäftling zum Erfolgsunternehmer in Silicon Valley“.[1] Für die Ende der neunziger Jahre erschienene Biographie hatte Johannsmeier zwei wichtige Beweggründe. Zum einen wollte er seiner Familie ein Werk hinterlassen, in dem er ausführlich das beschreibt und darstellt, was er bisher in seinem Leben erlebt und geleistet hat. Er gibt damit auch Antworten auf vielleicht bis dahin ungestellte Fragen wie diese, woher komme ich und warum bin ich so, wie ich geworden bin. Andererseits spiegelt er in dem Buch beeindruckend ehrlich das eigene Leben als eine Art Selbstvergewisserung wider.
Johannsmeier, der sich selbst als kreativen Kopf versteht und auch als Künstler, beschreibt in dem Buch sein Leben in chronologischen Abschnitten. Es sind Geschichten, die dem Leser vor das geistige Auge treten, als sei er in einem Film. Es wird ein Leben präsentiert, das unglaublich erscheint. Die vielen bunten Zwischentöne zeichnen einen unbedingten Lebenswillen und den Willen zum Erfolg nach. Die Zwischenkommentare und Interpretationen von den Ereignissen belegen zugleich die Authentizität des Erlebten.
Einsicht in die eigene Begrenztheit
Am Anfang beschreibt Johannsmeier eine Situation, in der er während eines Skiausfluges in den Alpen in eine lebensbedrohliche Lage kommt. Hier beginnt er über sein bisheriges Leben nachzudenken. Er ist bereits in einem Alter, wo andere kaum noch vor die Tür gehen. Er stellt fest, dass sein Leben, das gegenwärtig an einem seidenen Faden hängt, viel zu schön und wertvoll sei, als dass er bereit wäre, schon abzutreten. Er stellt sich auch hier dem Schicksal entgegen, kann sich zum Teil selbst helfen und wird schließlich aus der lebensbedrohlichen Lage befreit. Wichtigste Erkenntnis in dieser Situation wird für Johannsmeier die Einsicht in die eigene Begrenztheit. Andererseits stellt er auch fest, dass er eben diese Begrenztheit stets zu überwinden versuchte.
Kinder- und Jugendjahre
Ausschlaggebend dafür waren seine Kinder- und Jugendjahre – erste in der Nazidiktatur, danach in der kommunistischen Diktatur. In beiden Diktaturen erlebte Johannsmeier ständig Begrenzungen – politische, ökonomische und geistige. Der junge Johannsmeier folgte zunächst instinktiv dem eigenen „Weckruf“. Er möchte raus aus dem materiellen Elend, fort vom ständigen Hunger, dem Schmutz und der Widersprüchlichkeit seiner Lebensumwelt, der Welt der Erwachsenen. Dabei kam er schnell, ja immer schneller an „reale“ Grenzen. Ging es in der Nazizeit in erster Linie noch um das pure Überleben, so folgten in der kommunistischen Zeit andere Zwänge, die den „Aufbauwillen“ des kreativen und neugierigen Jugendlichen geradezu erstickten. Nur wenige Erwachsene hielten zu ihm oder beförderten ihn. Er kämpfte sich also durch und lernte, dass das Leben ein Kampf ist, egal wo. Dramatisch wurde es, als er erste Zweifel am Leben im sozialistischen Paradies bekam, obwohl Johannsmeier nicht gerade politisch dachte und fühlte. Das Überleben und der persönliche Erfolg standen an erster Stelle. In Jena bei „Carl Zeiss“, wo er seine Lehre zum Feinmechaniker absolvierte, schien beides auf wunderbare Weise möglich. Im Urlaub reiste er viel, auch nach Westdeutschland. Noch waren Reisen in den Westen möglich, wenn auch unter strengen Auflagen. Doch der Jugendliche Johannsmeier wusste sich immer wieder zu helfen, die Auflagen zu umgehen oder so darzustellen, dass die Genossen ihn ziehen ließen – zunächst. In Bayern lernte er dann Pepperl, einen Bergbauern, kennen. Hieraus entstand eine langjährige, enge Verbindung, die ihn auch prägte.
Der 17. Juni und die Folgen
Noch mehr prägte und veränderte aber der 17. Juni sein weiteres Leben. Ihm und seinen Mitstudenten wurde an diesem Tag alles wieder bewusst, was die Regierung der DDR sie bisher in den Jahren gezwungen hatte, herunterzuschlucken. Zunächst als Zuschauer wurde er spontan mit hineingerissen in die Ereignisse und half, Straßenbahnbarrikaden zu bauen und wünschte jene „Kommunistenscheine“, die, wie er glaubte, auf Zivilisten geschossen hatten, hängen zu sehen. Doch der Aufstand der Arbeiter wurde in Jena wie überall in der DDR von den Sowjets brutal niedergeschlagen. Das SED-Regime zeigte sein wahres Gesicht – und die Westmächte griffen nicht ein, wie manch einer wohl hoffte oder glaubte. Johannsmeier selbst kam unbeschadet davon, beendete sein Studium zum Konstruktionsingenieur und arbeitete bei Carl Zeiss Jena. Er gehörte nun zur „technischen Intelligenz“, lernte eine Frau kennen, Erika, und hörte von den aus der Sowjetunion zurückgekehrten ehemals deportierten Spezialisten und Wissenschaftlern, wie schlimm die Verhältnisse dort waren. Er hatte es in Jena dennoch weit gebracht. Er besaß ein kleines Motorrad und hatte eine wunderbare Frau an seiner Seite. Vielen hätte und hat es gereicht, sich im neuen Staat einzurichten, nicht so Johannsmeier. Klar war ihm da aber schon, dass ihm, wenn er nicht dem Druck der Parteifunktionäre nach Bekenntnissen, Parteieintritt und Teilnahme an militärischen wie ideologischen Veranstaltungen folgen würde, der Aufstieg in höhere Positionen verwehrt bleiben würde. Parteifunktionäre trafen ihre Entscheidungen über die Köpfe der Leute hinweg, die sehr viel besser qualifiziert waren, so Johannsmeier. Dies und vieles mehr schärften seinen Blick für die Unmöglichkeiten, in diesem System etwas zu werden, seine Qualifizierung zu leben. Auch deshalb spielte er immer öfter trotz tiefverwurzelter Heimatliebe zu Jena und seinen Menschen mit dem Gedanken, fortzugehen. Er besorgte sich Zeitschriften aus dem Westen und entdeckte hier neben fachlichen Erkenntnissen Stellenanzeigen, auf die er sich spontan bewarb, im neutralen Umschlag. „Ich wollte meinen Horizont erweitern und lernen, was den Westen so stark machte, seine Technologie kennen lernen und beruflich an die Spitze kommen.“[2]Fast zeitgleich erfuhr er, dass er Miterbe eines Grundstückes bei Frankfurt am Main geworden sei. Letzteres ermöglichte ihm, eine offizielle Reisegenehmigung in den Westen zu bekommen, ohne die schon damals keiner mehr in den Westen reisen durfte. Seine größten Befürchtungen trafen dann auf der Reise ein, ihm gefiel es im Westen, und die beruflichen Chancen schienen sehr gut. Die zunächst erfolgreiche Reise endete dann schließlich auf der Rückfahrt an der ostdeutschen Grenze. Sein Fehler war, vom Firmenchef Eckerle, bei dem er sich vorgestellt hatte, dem ersten Kapitalisten, dem Johannsmeier begegnete, 100 DM für die Reiseauslagen angenommen zu haben. An der Grenze lief er geradewegs in die Falle. Er wurde gefilzt, weil ihn ein westdeutscher Lebensmittelhändler im Grenzgebiet offensichtlich an die DDR-Grenzer verriet, weil Johannsmeier die 100 Westmark in Ostmark tauschen wollte. Unter dem Verdacht der Spionage wurde er noch an der Grenze verhaftet. Die Einfuhr von Westgeld in die DDR war verboten und zugleich ein kleines Vermögen. Die 100 DM wurden entdeckt, Johannsmeier nach Gera gebracht, wo ihn zwei nette Herren des 1950 gegründeten Ministeriums für Staatssicherheit erstmals verhörten. Sie setzten ihn wegen seines „Vergehens“ unter Druck und boten ihm gleichzeitig an, seinen „Fehler“ durch eine „freiwillige Mitarbeit“ als Spitzel wieder gutmachen zu können. Er stimmte dem zum Schein zu, und so kam Johannsmeier nach fünf Tagen Untersuchungshaft erst einmal wieder frei. Danach ergriff ihn Panik. Er dachte sich umgehend einen Plan aus, wie er sich und Erika aus Ostdeutschland befreien könne. Das Schlupfloch hieß „West-Berlin“, das für Viele bis zum Bau der Mauer 1961 letzte Rettung und Hoffnungsträger zugleich war.
Flucht und Gefängnis
Johannsmeier besorgte für sich eine Reisevollmacht seines Betriebes nach Ost-Berlin, für Erika ein Visum für eine Familienreise in den Westen. Auf getrennten Wegen reisen und im Westen zusammenkommen, hieß die Devise. Alles schien ganz einfach, ein Kinderspiel, so Johannsmeier in seinen Erinnerungen. Einen Teil seiner Habseligkeiten hatte er allerdings zunächst in Ostberlin in einem Schließfach deponiert. Er hatte nun vor, diese nach und nach zu holen. Naiv und den Ernst der Lage nicht begreifend, pendelte er nach Ostberlin zurück, wo er sich spontan von einer Schaufensterauslage verführen ließ. Dort waren jene optischen Produkte in der Auslage, an denen er in Jena mitarbeitete. Er beschloss, sich vom letzten DDR-Geld ein Fernglas zu kaufen. Beim Erwerb hatte er seinen Personalausweis vorzulegen, der ihn sofort verdächtig machte. Denn wieso kauft einer aus Jena ein Fernglas in Ostberlin, das in Jena produziert wird?
Damit war sein Schicksal für die nächsten Jahre besiegelt. Er wurde erneut wegen Spionageverdacht verhaftet und kam nach Gera in die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit. Wochenlange Verhöre, Hunger, Kälte, Schlafentzug, Holzpritsche, Dunkelzelle, Isolation und physische wie psychische Quälereien bestimmten fortan den Alltag, der die Zeit zeitlos werden ließ. Er verlor binnen kurzer Zeit 10 Kilo Körpergewicht. Die Verhandlung am Tag der Urteilsverkündung dauerte gerade 25 Minuten. Am Ende hieß es, er, Johannsmeier, habe sich schwerster Verbrechen schuldig gemacht, er neige trotz oder gerade wegen seiner Intelligenz zu kriminellen Handlungen. Er wurde zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein ehemaliger Bergarbeiter als Richter, der nun den Arbeiter- und Bauernstaat vertrat, hatte „Recht“ gesprochen. Johannsmeier war da im Jahr 1955 gerade 26 Jahre alt, seine besten Jahre hätten vor ihm liegen können. Nun war er verzweifelt über das Ausmaß einer Strafe, die etwas bestrafen sollte, was die DDR bis zu ihrem Ende begleitete – das Streben der Menschen nach politischer und sozialer Freiheit. Zwei Drittel seiner Mithäftlinge in seinem Gefängnisblock waren „Staatsfeinde“, die wegen politischer Verbrechen einsaßen, so Johannsmeier. Auch seine Gefährtin Erika wurde an der Grenze zunächst verhaftet und den DDR-Gesetzen entsprechend „behandelt“. Trotzdem gelang es ihr, zu den Verwandten im Westen zu kommen, wo sie erst zweieinhalb Jahre später wieder auf Johannsmeier traf.
Im Gefängnis dachte er unentwegt an Flucht. Doch unversehens wurde er nach Torgau verbracht, wo er in einem betrieblichen „Außenlager“, in dem auch der VEB Carl Zeiss Jena vertreten war, auf Grund seiner fachlichen Qualifikation eine Tätigkeit als Konstruktionsingenieur ausüben sollte. Hier vermutete er das Ende seines Daseins, dennoch entwickelte sich in Torgau ein wichtiger Ausgangpunkt für sein späteres Leben. Zum einen führte seine gute Arbeitsleistung zur vorzeitigen Haftentlassung, zum anderen vertiefte er seine beruflichen Fähigkeiten, die ihm später viel Nutzen brachten.
Zeitenwende
Am 1. April 1958 wurde Johannsmeier unvermittelt aus der Haft entlassen und konnte nach Jena zurückkehren. Bei der Haftentlassung erhielt er die Auflage, über das Gerichtsurteil und seine Erlebnisse im Gefängnis zu schweigen. Er fühlte sich isoliert und als Außenseiter. Der Riss zwischen ihm und den alten Kollegen und vielen Freunden wäre zu groß geworden. Das Schweigen, nicht reden zu dürfen, belastete ihn und summierte die traumatischen Erlebnisse ins Unerträgliche. Dies im „Gepäck“ verabschiedete sich Johannsmeier umgehend in Jena von seiner Familie und reiste anschließend in Begleitung seines Bruders unter dem Vorwand einer Legende nach Ost-Berlin. In West-Berlin angekommen, trennten sich die Wege der Brüder. Letzterer fuhr zurück, Johannsmeier dagegen erlebte eine Metamorphose, wie er schreibt. Ein neues Leben, sein neues Leben im Westen hatte begonnen. Am 3. April 1958 flog er von West-Berlin nach Frankfurt am Main. Hier traf er Erika wieder, bekam sofort eine Arbeitsstelle als Konstruktionsingenieur und wollte heiraten. Ein Angebot veränderte erneut sein Leben, als er in den USA vertriebene zahnmedizinische Apparaturen der deutschen Ritter-AG in der Konstruktion verbessern sollte. Daraus entstanden seine ersten Patente, und Patente sollten künftig eine wesentliche Rolle beim Aufstieg des Herrn Johannsmeier zum Erfolgsunternehmer im Silikon Valley spielen.
Eine „Denkmal-Debatte“ in der Provinz
Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaftsform und einer Zeit der Besinnung erinnerte sich Herr Johannsmeier an seine alte Heimat, an seine Wurzeln, die ihn prägten. Er möchte diese ergründen und seiner Familie erschließen. Um seiner Verbundenheit mit der alten Heimat Ausdruck zu verleihen, aber auch, um an die Vielen zu erinnern, die wie er von den kommunistischen Machthabern gezeichnet waren, wollte er seiner alten Heimatstadt etwas geben, vielleicht zurückgeben, den Schmerz der eigenen Erinnerung. Dafür sollte symbolisch ein Denkmal stehen. Stattdessen kam ein Jahre anhaltender Prozess in Gang, der sein Leben noch einmal auf den Kopf stellte. „Das Denkmal sollte in erster Linie an den kommunistischen Terror und seine Opfer erinnern und im städtischen Raum ein lebendiger Gedenkort sein.“Der jetzige Standort, so Johannsmeier, sei kein Ort, wo sich Menschen hinsetzen können und würden.[3]
Vor allem alte und neue Demagogen der ehemaligen Diktatur liefen von Anfang an gegen seinen Denkmalentwurf Sturm und entdeckten die Spielregeln und Möglichkeiten der Demokratie. Sie verhinderten gekonnt hinter der Maske der demokratischen Meinungsfreiheit versteckt jeden Versuch von Herrn Johannsmeier, ein Denkmal für die Opfer kommunistischer Gewalt in Jena zu errichten. „Wenn schon ein Denkmal, dann erst für die Opfer des Nationalsozialismus in ähnlicher Größe. Eine Plakette in der Nähe des ehemaligen MfS-Gebäudes genügt“, so der allgemeine Tenor der Verhinderungsfraktion.[4] Ohne Johannsmeier und seine Geschichte zu kennen, wurde er vom ehemaligen sozialistischen Kadermob zum „Mann ohne Gewissen mit Geld“ erklärt, der in Jena unerwünscht sei. Die alten Feindbilder wirkten zum Teil bis in die Köpfe derer, die ein solches Denkmal ursprünglich befürworteten. Und auch der Frust der Gegenwart wurde dem „amerikanischen Kapitalisten“ teilweise zur Last gelegt. An anderer Stelle hieß es verschleiernd: „Die Bürger Jenas sollen entscheiden. Wenn schon ein Denkmal, dann für die Jenaer Bürger, die auf die Straßen gegangen sind und die Wende erzwungen haben.“[5]
Nach jahrelangem „Streit“ steht am Ende ein „konsens- und hauptstadtfähiges Denkmal“[6] ganz einsam, isoliert und unbeachtet am ehemaligen Ort des Schreckens[7] – dort, wo die Stasi auch Herrn Johannsmeier einst „umarmte“ und zur Zusammenarbeit mit dem MfS zu erpressen versuchte. Weil er sich verweigerte, wurde er zum Klassen- und Staatsfeind der DDR.
Der Standort des Denkmals in Jena ist ein „sinnentleerter“Ort geworden. Einerseits, weil der authentische Bezug zum Ort fehlt, das Gebäude der ehemaligen Kreisdienststelle des MfS wurde ohne jeglichen Widerspruch im Februar 2007 abgerissen. Andererseits, weil der Ort kein lebendiger Ort ist, an dem Menschen im Alltag zusammenkommen.[8] Sicher war es richtig, dass Jenas Oberbürgermeister Dr. Albrecht Schröter einen Endpunkt unter die jahrelange „Denkmal-Debatte“ setzten wollte und die konkrete Umsetzung konsequent anstrebte. Die Diskussion ventilierte seit fast neun Jahren im öffentlichen Raum. Der Eindruck war und ist geblieben, dass sich Oberbürgermeister Schröter und die den Denkmalentwurf befördernde Jury, bestehend aus angesehenen Historikern und Vertretern der Stadt, sowie die ausführenden Künstler Sibylle Mania und Martin Neubert keineswegs der politischen Dimension der Daten- und Faktensammlung, die nun auf dem Denkmal zusammengestellt wurde, voll bewußt gewesen sind. Gorbatschow bzw. dessen Perestroika vor dem Hintergrund der Widmung auf dem Denkmal zu benennen, erscheint nach wie vor mehr als gewagt und ist historisch auch falsch.[9]Zwar waren die Reformen in der Sowjetunion eine wichtige Voraussetzung für die revolutionären Ereignisse in den Jahren zwischen 1988 und 1990 in ganz Osteuropa. Die „Reformen“ Gorbatschows sollten die institutionellen und rechtlichen Grundlagen der Sowjetunion vom „Kopf auf die Füße“ stellen sowie einen Prozess der ökonomischen Neuorientierung einläuten und schrittweise eine sozialistische Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft vorantreiben vor dem Hintergrund der enormen wirtschaftlichen Belastungen durch das Wettrüsten. Ein Auseinanderbrechen bzw. ein Ende der UdSSR (Union der sozialistischen Sowjetrepubliken)aberwar nicht das Ziel Gorbatschows und der anderen Reformer. Insofern trat Gorbatschow niemals gegen die kommunistische Diktatur aufrecht für Demokratie und Menschenrechte ein. Und seine Menschenwürde wurde auch nie in diesem Sinne verletzt. Die notwendige bzw. erzwungene Aufgabe der Breschnew-Doktrin durch Herrn Gorbatschow im Jahr 1988[10] forcierte und ermöglichte es den kommunistisch regierten osteuropäischen Staaten, politisch selbständiger zu agieren. Diese „neuen politischen Freiheiten“ führten in den Jahren 1989/90 zu „Reformen“ oder zu Revolutionen in ganz Osteuropa. Sie beendeten in ihrer Gesamtheit den Kalten Krieg und ermöglichten schließlich die deutsche Wiedervereinigung, an deren formellen Ergebnissen Michail Gorbatschow maßgeblich beteiligt war.[11]
Die Namen von Herrn Johannsmeier, dem Initiator des Denkmals, und anderen politisch Verfolgten sucht man dagegen vergebens auf dem Denkmal. Wieso eigentlich? Und ist das nicht der eigentliche Skandal, der seitdem totgeschwiegen wird? Das Denkmal steht, nun haltet endlich die Klappe! Die politisch Verantwortlichen der Stadt, die Jury und die ausführenden Künstler waren und sind jedenfalls von sich, dem demokratischen Prozess und dem Ergebnis überzeugt. So kann man sich irren! Wenn schon ein „Konsens“-Denkmal, dann hätte der zur Verfügung stehende Platz doch besser für die wirklich politisch Verfolgten genutzt werden sollen. Mit der Benennung von Gorbatschow auf dem Denkmal wird dieser quasi zum Verfolgten seiner eigenen Diktatur erklärt. Das ist doch absurd. Die Hinweise und Bedenken der Geschichtswerkstatt hierzu wurden weder auf- noch angenommen. Die „demokratische Selbstherrlichkeit“ der Entscheider ging hier mächtig daneben. Und keiner regt sich „mehr“ auf. Das Thema ist weggestellt, abgelegt und vergessen. Kommendes Jahr am 17. Juni stehen wir wieder vor dem Denkmal und erzählen uns Märchen vom aufrechten Gang.
Resümee
Zum Klassenfeind erklärt und vertrieben aus dem „sozialistischen Paradies“, bestimmte Herr Johannsmeier den technischen Fortschritt auf der „Gegenseite“ wesentlich mit und trug so freiwillig oder nicht freiwillig zum Untergang des Kommunismus bei. Er war ein Klassenkämpfer wider Willen. Nicht wider Willen machte er mit seinen Fähigkeiten als Konstruktionsingenieur in den USA ein finanzielles Vermögen, weil er ein hohes technisches Vermögen in sich trägt. Ein Vermögen, dem die Kommunisten zutiefst misstrauten, das nur unter den Bedingungen des „bösen“ Kapitalismus abrufbar war. Was wäre wohl aus seiner alten Heimat, was aus Jena geworden, wenn die klügsten Köpfe ihr hätten treu bleiben können? Blühende Landschaften?
Die „Abenteuer des Herrn Johannsmeier“ stehen für sich selbst und für eine ganze Generation Ostdeutscher, die den Zweiten Weltkrieg als Kind erlebten und deren jeweilige Wege, aufgezwungen von den Folgen des Krieges, erneut in einen diktatorischen Abgrund führten. Und Herr Johannsmeier, er macht sich so seine Gedanken. Die Welt um ihn dreht sich weiter, und er fragt sich, was soll ich mit dieser Erinnerung anfangen? Eines weiß Johannsmeier aber: Er hat sein Leben nicht für eine Utopie, für ein Dogma geopfert, die außer „Narren, Idioten und Verbrechern“ keiner haben wollte.[12] Wer sein Leben nicht vergeuden wollte, musste also handeln, vielleicht so wie Johannsmeier.
Die Geschichte von Herrn Johannsmeier hat mit dem Denkmal in Jena mehr zu tun, als dass er der „Geld“-Geber sein wollte. Ohne seine Biographie und sein Engagement wäre wohl kein solcher Diskussionsprozess über die SED-Diktatur in Gang gekommen. Allein das ist schon zu würdigen. Biographie und Denkmaldebatte waren und sind ein Bindeglied zwischen privater Erinnerung und öffentlichem Erinnerungsdiskurs sowie ein Brennspiegel für den Zeitgeist der Gesellschaft in Jena. Der Geschichtswerkstatt ging es dabei stets um die Glaubwürdigkeit solcher Debatten und um das Aufdecken demokratischer Scheinheiligkeiten im lokalen Raum. Wir alle müssen uns fragen, ob wir die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft ehren und würdigen oder ihr Leiden als ein Leiden „zweiter Klasse“ relativieren wollen. „Ja, nicht alle der vielen Gefangenen wurden umgebracht, aber gepeinigt, entwürdigt und harmlose Menschen zu Verbrechern erklärt.“[13]
Karl Heinz Johannsmeier wurde 1929 geboren. Bis 1951 war er alsFeinmechaniker und nach seinem Studium als Fertigungsingenieur beim VEB Carl Zeiss Jena beschäftigt. 1955 wurde er zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt wegen „Boykott der Deutschen Demokratischen Republik“ und „Verletzung des Gesetzes zum Schutze des innerdeutschen Handels“und musste bis 1958 im Zuchthaus in Waldheim und in Torgau einsitzen. Nach seiner vorzeitigen Haftentlassung 1958 flüchtete in den Westen. Zwei Jahre später, im Jahr 1960, wanderte er in die USA aus. 1998 erschien sein Buch „Neun Leben sind nicht genug. Mein Weg vom Stasi-Häftling zum Erfolgsunternehmer in Silicon Valley“, in dem er u. a. von seinen drei Jahren Zuchthaus in Waldheim und Torgau berichtet und von seinem beispiellosen Aufstieg zum Multimillionär in den Vereinigten Staaten von Amerika.
[1] Karl-Heinz Johannsmeier: Neun Leben sind nicht genug. Mein Weg vom Stasi-Häftling zum Erfolgsunternehmer in Silicon Valley, München 1998. Zuletzt erschien am 1. Dezember 2010 im Seifert Verlag Wien der Roman: Shalibi, bei Tag und bei Nacht.
[2] Zitat im Schreiben an den Verfasser vom 22.11.2010.
[3] Telefonat am 18. Juni 2010 mit dem Autor.
[4] Pro und Contra Denkmal, Johannsmeier auf www.jenanews.de (Stand 11.10.2010).
[5] Ebenda.
[6] Vgl. Pietzsch, Henning: Aufruf an die Stadt Jena. Plädoyer für ein Denkmal, in: „Gerbergasse 18“, Heft 1/2008, Nr. 48, S. 40; Ders.: Der 17. Juni 1953 und das Gedenken an die politisch Verfolgten in der SBZ und DDR in Jena, in: „Gerbergasse 18“, Heft II/2010, Nr. 57, S. 38 f.
[7] Ehemalige Gerbergasse 18, Kreisdienststelle des MfS, im Februar 2007 von der Stadt Jena ohne Widerspruch der Bürger abgerissen. Der authentische Ort des Verbrechens wurde beseitigt, nichts erinnert mehr an die Schreckensherrschaft. Das am 17. Juni 2010 eingeweihte Denkmal soll erinnern helfen und den Ort markieren.
[8] Vgl. dazu die Fotos im Internet auf www.geschichtswerkstatt-jena.de.
[9] Widmung: „All denen, deren Menschenwürde verletzt wurde. All den Verfolgten, die gegen kommunistische Diktatur aufrecht für Demokratie und Menschenrechte einstanden, 1945 – 1989“.
[10] Als Breschnew-Doktrin bezeichnet man eine Doktrin des sowjetischen Staats- und Parteichefs Leonid Breschnew, die am 12. November 1968 auf dem 5. Parteitag der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei verkündet wurde. Die Doktrin ging von der „beschränkten Souveränität“ der sozialistischen Staaten aus und leitete daraus das Recht ab, einzugreifen, wenn in einem dieser Staaten der Sozialismus bedroht würde. Dabei lautete die Hauptthese: „Die Souveränität der einzelnen Staaten findet ihre Grenze an den Interessen der sozialistischen Gemeinschaft.“ Im Zuge der Reformpolitik unter Michail Gorbatschow wurde diese Doktrin 1988 offiziell aufgehoben.
[11] Vgl. Altrichter, Helmut: Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009.
[12] Wunderbare Metaphern und deutliche Worte über das Versagen der selbsterklärten Kommunisten finden sich bei Christoph Hein und seinem 1989 in Dresden uraufgeführten Theaterstück „Die Ritter der Tafelrunde“. Vgl. dazu die Ausführungen von Joachim-Rüdiger Groth: Die Literatur und der Untergang der DDR. Beispiele aus vierzig Jahren, Hg. Konrad-Adenauer-Stiftung St. Augustin/Bonn 2010, S. 88 ff.
[13] Zitat Karl Heinz Johannsmeier
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