„Prokrustes nötigte die vorüber-ziehenden Wanderer, sich auf ein Bett niederzulegen und war einer zu lang für das Bett, dann schlug er ihm die herausragenden Körperteile ab; denen aber, die kleiner waren, zog er die Füße in die Länge, weshalb er den Namen Prokrustes erhielt.“
(Diodoros, IV, 59)
Das Thema „Asyl“ nimmt nicht nur in den Medien einen großen Platz ein, sondern auch in den Köpfen der Menschen, wo dieses zumeist negativ konnotiert ist. Die Gesellschaft im Allgemeinen scheint AsylantInnen als Bedrohung der sozialen Ordnung und Sicherheit wahrzunehmen. Wie soll also mit „den“ AsylantInnen umgegangen werden? Welcher Umgang soll gepflegt, welche Regeln aufgestellt werden und zu welchen Maßnahmen ist der Staat gegenüber den Fremden verpflichtet? Welche Bedrohungen gibt es und wie können diese reduziert oder eliminiert werden? In welchem Verhältnis stehen Asyl und Gastfreundschaft? Diese Fragen nehmen auch die Philosophie in Verantwortung.
Während viele andere Minderheiten große mediale Aufmerksamkeit bekommen und ihre Lebenssituation für die Öffentlichkeit sichtbar istbzw. sichtbar gemacht wird, bleibt das Thema „Asyl“ zumeist im Dunklen. Marcus Omofuma, Arigona Zogaj, die Komani-Zwillinge, also besonders harten Asylfälle, die es auch in die Öffentlichkeit geschafft haben, sind in Erinnerung geblieben. In der EU stehen Verschärfungen der Asylbestimmungen auf der Tagesordnung. Christian Kayed, ein Tiroler, der seine Dissertation über Gastfreundschaft verfasst hat, stellt treffend fest, dass Autoren wie Aristoteles und Immanuel Kant wohl das Thema streifen, aber dass erst die gegenwärtigen Herausforderungen durch Migration und multikulturelle GesellschaftenGastfreundschaft in den Mittelpunkt philosophischen Denkens bringen wie etwa bei Jacques Derrida. Dabei muss zuerst geklärt werden, was denn unter dem Begriff „Asyl“ zu verstehen ist?Unter dem Begriff „Asyl“ wird allgemein ein Zufluchtsort als Schutz vor Gefahren verstanden. Im Speziellen handelt es sich um die temporäre Aufnahme Verfolgter. Fremde gelten schon in der Antike als potentiell Heil oder Unheil bringend, können als Feinde abgewehrt oder als Gäste aufgenommen werden, werden kontrolliert und isoliert und sind mit mehr oder weniger Rechten ausgestattet. Je nach Epoche sind sie sogar rechtlos. Sie werden als wirtschaftlicher Gewinn oder als Bedrohung gesehen und wer nicht zahlen kann, ist dem Charakter des Gastgebers ausgeliefert. Schließlich können Gäste auch gefährlich sein, stehlen, morden oder Krankheiten einschleppen, die gesamte soziale Ordnung bedrohen.
„Sich ängstigen oder lächeln, das ist die Wahl, vor der wir stehen, wenn uns das Fremde überfällt; wofür wir uns entscheiden, hängt davon ab, wie vertraut wir mit unseren eigenen Phantomen sind.“
(Julia Kristeva, „Fremde sind wir uns selbst“)
Hat ein Asylant Rechte und Pflichten? Was darf der Staat von seinen Gästen erwarten? „Gleichzeitig gilt, bildlich gesprochen, dass Gäste das Gästebett nicht umbauen, beschädigen oder zerstören, dass auch sie Gastgeber und Gastgeberinnen am Leben lassen und zumeist diese selbst aufnehmen, so dies einmal nötig sein sollte. Gäste wissen in der Praxis gewöhnlich stillschweigend um bestimmte Regeln oder halten sich bewusst daran: Sie verhalten sich den jeweiligen Sitten gemäß, berücksichtigen die jeweilige Intimsphäre, nützen Gastfreundschaft nicht aus, erwidern zumeist Gaben und Leistungen mit Gegengaben und Gegenleistungen“, so Kayed.
Welche Rechte? Was sind die Pflichten des Gastgebers? „Gastfreundschaft erfüllt drei Bedingungen, die zum Leben nötig sind: Gäste bleiben grundsätzlich am Leben (werden nicht getötet); ihnen wird materiell beim Überleben geholfen (mit Nahrung, Unterkunft und Schutz); und Gastfreundschaft stiftet und erhält ein soziales Band und trägt zum Zusammenleben bei (indem Gäste zumeist umgekehrt auch ihren Gastgeberinnen und Gastgebern und allen anderen Gastfreundschaft gewähren werden). Leben ermöglichen heißt hier also mehr, als Menschen nur am Leben lassen, es heißt auch: sie nähren, stärken, stützen, begleiten, ihnen Kenntnisse vermitteln und Freude bereiten“, so Kayed. Der Alltag in den Asylheimen schaut anders aus: widrige Lebensbedingungen, kaum Chancen auf Arbeit und Ausbildung, eventuell ein geringes Taschengeld, Langeweile, Gewalt, Drogen, Trostlosigkeit, keine intellektuelle Stimulation, kaum Privatsphäre und ein Leben ohne fixen Plan und Sicherheiten. Da stellt sich natürlich die Frage, wie denn das ideale Asylheim ausschaut? Oder ist das Verlangen danach schon utopisch?
Es scheint noch viel utopischer zu sein, das Asyl als Chance auf ein besseres Leben zu konzipieren.
Stellen wir uns vor, Asyl würde es Fremden ermöglichen, frei zu entscheiden, ob sie Gäste sein wollen oder nicht; sie würden vor Lebensgefahren wie Verdursten und Verhungern, Erfrieren und Verfolgung bewahrt, ihnen würde kein Schaden zugefügt; Gastgeber und Gastgeberinnen gäben ihnen dasjenige, das sie bräuchten, was auch immer es im Einzelfall sein mag: Nahrung, Unterkunft, Schutz, Gehör, Gespräch oder einfach nur Zeit. Reine Utopie oder doch ein Schritt zu mehr globaler Menschlichkeit?
Die Legende von Prokrustes besagt, dass dieser Wandernde gezwungen hat, Gäste zu sein, und mit Gewalt zu anderen gemacht hat, als sie sind, und sie getötet hat. Abgesehen davon, dass dies offensichtlich ein schwerer Verstoß gegen das vom höchsten Gott Zeus gehütete Gebot der Gastfreundschaft ist, zeigt diese Episode, dass Wandernde, dass Fremde bedroht sind, nicht sie selbst, nicht fremd, nicht anders sein zu können, so meint Christian Kayed.
Die Pflicht jedes den Menschenrechten verpflichteten Staates sollte sein, diese Bedrohung zu reduzieren und das Fremde zu schützen. Es bleibt zu hoffen, dass die europäischen Staaten diese Pflicht auf sich nehmen werden und sich das Asyl einmal als reale Chance auf ein besseres Leben erweist. Ein besseres Leben, von dem alle profitieren: der Gastgeber und der Gast. Und wer weiß, vielleicht müssen auch wir einmal Gäste sein?!
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