Die für Ostdeutschland so typischen Spätverkaufsläden – „Spätis“ – sind ein Treffpunkt für Nachtschwärmer und Menschen, die der Anonymität der Großstadt entfliehen möchten. Von Benedikt Vallendar.
DDR-Nostalgie
Sie stammen aus DDR-Zeiten, und es gibt sie zwischen Rostock, Berlin und dem Erzgebirge – Spätverkaufsläden, „Spätis“, wo der Kunde ab neun Uhr abends einkaufen kann, Getränke, Snacks und manchmal auch richtig gesunde Lebensmittel. Vor dem Fall der Mauer konnten Werktätige dort Besorgungen machen, wenn sie spät abends oder morgens früh von der Schicht im volkseigenen Betrieb kamen und der Konsum oder HO-Laden noch geschlossen hatte. Auf wundersame Weise hat sich dieses Relikt sozialistischer Einkaufskultur auch in der Marktwirtschaft bewährt, vor allem in Berlin, wo es fast zweitausend von ihnen gibt.
„Sie werden meist von Familien türkischer oder asiatischer Herkunft betrieben und gelten als Bestandteil der Berliner Kiezkultur“, heißt es im Online-Lexikon Wikipedia. Einer, der in seiner Wahlheimat Dresden regelmäßig dort einkaufen geht, ist der Lehrer Roy Müller. Spanisch, Englisch und Musik unterrichtet der 43-Jährige an einem Beruflichen Gymnasium in der Oberlausitz und ist daher „viel auf Achse“, wie er sagt.
Besonders wenn er abends spät von Konferenzen, Elterngesprächen oder Fortbildungen nach Hause kommt, ist Müller froh, wenn es um die Ecke noch etwas zu kaufen gibt. Doch nicht nur das. „Manchmal trifft man im Spätverkauf auch Freunde, Nachbarn und gute Bekannte“, sagt Müller. Menschen, die tagsüber hektisch unterwegs sind und nach Einbruch der Dunkelheit, Zeit für Gespräche oder einen kurzen Plausch haben.
Treffpunkt im Kiez
Dass Spätis längst mehr sind, als bloße Einkaufsläden, bestätigen auch soziologische Untersuchungen. In Berlin haben die „Spätverkaufsstellen“ die Eckkneipe und den Stammtisch abgelöst. Man trifft sich, trinkt, quatscht – und wenn es drauf ankommt, hilft man sich gegenseitig. Jeder Späti ist ein Unikum. Einer von ihnen gehört Hassan aus Berlin-Neukölln. Ein Freitagabend. Hassan winkt hinterm Tresen. „Hey, hallo.“ Der Kunde passt kaum durch den Türrahmen. „Hey. Könnte ich einen Tee haben?“ „Was willst du haben?“ „Tee. Ich bin ein bisschen angeschlagen.“ – „Ey Alter, schäm dich Alter. Kerl wie Baum will Tee haben. Gehst du bei Mama, Mann.“ Hassan lacht laut und reicht eine Tüte Kräutertee rüber.
In der Ecke stehen zwei Freunde aus der WG im zweiten Stock. „Das ist einer der besten Spätis hier in der Gegend, immer freundlich, immer nett, immer offen, ja, toller Späti. Wenn du deine Stammkneipe hast, würdest du in deine Stammkneipe gehen, ich habe meinen Stammspäti, und trotzdem hast du hier auch die Gespräche wie in der Kneipe“, sagt Hassen.
Ortswechsel. Im Szenekiez von Berlin-Schöneberg. Ein prächtiger Altbau, Erdgeschoss. Von außen wirkt der Laden unscheinbar: wenig Leuchtreklame, ein zur Hälfte von Zetteln zugeklebtes Schaufenster. Noch nicht mal einen Namen hat der Späti. Die offizielle Bezeichnung ‚KB Kiosk’ klingt so nüchtern, dass Tamer und Max, die beiden Betreiber, ein Namensschild gar nicht erst in Auftrag gaben.
Innen entfaltet der Späti dagegen einen skurrilen Charme. Die Wand hinter dem Verkaufstresen ist in kräftigem rot gestrichen, der Stuck darüber in Gold. Von der Decke hängt ein achtarmiger Kronleuchter, auf den Regalen kleine Lampen im Retro-Style.
An den Wänden Nachdrucke von Bildern berühmter Maler: Dalí, Kandinsky, van Gogh. Und ein Mannschaftsfoto von Hertha BSC. Hat sich alles über die Zeit angesammelt, sagt Max, einer der beiden Betreiber. „Wir hatten sogar ‚ne Ausstellung hier drin von Studenten. Das war auch ganz lustig. Das machen wir auch wieder, haben wir wieder Lust zu. Es kamen Studenten her von der Kunsthochschule, haben uns angesprochen, ob sie hier nicht ein paar Bilder aufhängen können. Und wir dachten: warum nicht? Super, und es war auch echt ‚ne schöne Resonanz, weil die Leute rein kamen, und die erwarten so was im Späti natürlich nicht.“
Bier lieber hier, in ihrem Stammspäti, obwohl es teurer ist als im Supermarkt
Max holt Bier aus dem Kühlschrank und reicht es über den Tresen. Seit den siebziger Jahren gibt es den Laden, sagt er. Ein echter Späti wurde er 2006, als der Senat das Berliner Ladenöffnungsgesetz reformierte. Seitdem ist er rund um die Uhr geöffnet. 24 Stunden. In den Anfangsjahren gab es noch Telefonkabinen. Dort steht jetzt ein riesiger Kühlschrank. Der Verkauf von Getränken macht einen Großteil des Geschäfts aus. Gerade im Sommer. Aber da ist noch etwas, was den Späti so beliebt macht im Kiez. Etwas, was es nicht für Geld zu kaufen gibt: Zuwendung, jemanden zum Reden.
„Viele kommen wirklich rein, und wenn es die persönliche Ebene hat wie hier zum Beispiel, dann merke ich wirklich, dass die Leute sich darüber freuen. Die kommen ohne Lächeln rein und gehen mit einem Lächeln raus.“ Viele bleiben deshalb, werden Stammkunden. Kommen regelmäßig vorbei und kaufen ihr Bier lieber hier, in ihrem Stammspäti, obwohl es teurer ist als im Supermarkt. Dafür aber günstiger als in der Kneipe.
Musik hören, Bier trinken, Geselligkeit
So auch Nico, der im Kiez groß geworden ist. Er hat sich mit ein paar Freunden verabredet. Gleich wollen sie etwas miteinander unternehmen, vorher stehen sie eine Weile vor ihrem Späti herum: Musik hören, Bier trinken, Geselligkeit. „Der ‚place to be’, sage ich mal, für mich. Ich kenne die Leute hier eben echt schon lange und auch persönlich alle, und das ist eben ‚ne Freundschaft, die daraus entstanden ist so.“ Die Themen sind lustig, unterhaltsam, existentiell. Mal öffentlich, mal privat. Es geht ums große Ganze, aber auch um kleine Krisen. Oberste Devise: Smalltalk statt einsam aufs Smartphone zu starren. Spätibetreiber Max ärgert sich aber auch. Zum Beispiel über Nachbarn, die Ferienwohnungen vermieten und wie selbstverständlich ihre Wohnungsschlüssel im Späti deponieren.
Weil der ja rund um die Uhr geöffnet hat. Ist das der Preis dafür, dass Berliner Spätis so beliebt sind? Mag sein, sagt Max, und fügt hinzu, dass es schließlich überall Menschen gebe, die eine ganz besondere Auffassung von Hilfsbereitschaft hätten.