Die Freiheit der Kunst

Nicht lange noch, und alle Kunst ist so langweilig und domestiziert wie die deutschen Leitmedien. Das Essener Folkwang-Museum hat jetzt eine Ausstellung mit Polaroid-Fotoarbeiten des bekannten Malers Balthasar Klossowski, genannt Balthus, abgesagt. Der Grund sind sehr reale Befürchtungen um juristische Querelen. Denn der Entscheidung ging eine heftige Debatte worum? – natürlich um Pädophilie in der Kunst voraus. Ein hochaktuelles Thema: Pädophilie bei den 68ern, Pädophilie bei den Grünen, Pädophilie im Internet, pädophile Freier und pädophile Väter. Schon richtig, dass der Schutz von Kindern vor Missbrauch konsequent vorangetrieben werden muss. Aber wie ist das bei der Kunst? Die Zeiten der Freiheit scheinen auch hier, wie in so vielen Bereichen, vorbei zu sein, zumindest weht ein moralinsaurer Wind. Die Moralapostel der Korrektheit führen ihren Krieg nun auch auf diesem Gebiet. Die Kunst hat ihre Skandale früher gewonnen, als die Skandalisierten noch altmodisch genannt werden durften. Heute begreifen sich die, die bestimmen wollen, was erlaubt ist, als durch und durch fortschrittlich. Und heute gewinnen sie.
Noch anno 1989 stand im mittlerweile politisch überkorrekten „Spiegel“ folgender Bericht über den Verkauf der Kunstsammlung des Filmregisseurs Billy Wilder zu lesen: „Der Mädchenakt hängt in Billy Wilders Schlafzimmer: Fast lebensgroß ist die Nackte, etwa Zwölfjährige, die vor ihrem Bett steht. Das Bild von 1957 (Titel: »Die Toilette«), das eine spröde Erotik ausstrahlt, hat der französisch-polnische Maler Balthus gemalt, auf dessen Bildern »pubertierende Mädchen in ihren bürgerlichen Interieurs ungeduldig auf die Gewaltsamkeit eines sexuellen Aktes warten« – so der Kunsthistoriker Giulio C. Argan.
Eines Tages, so erzählt Wilder, sei Vladimir Nabokov bei ihm auf Besuch gewesen. Der russische Autor habe all die Picassos, Schieles, Miros in Wilders Wohnung nur eines flüchtigen Blicks gewürdigt, sei dann fasziniert vor der Nackten stehengeblieben, habe Wilders Hand ergriffen, geschüttelt und »Balthus« gemurmelt.
Da das Bild nur auf der Rückseite signiert ist, war Wilder verblüfft, bis ihm „Lolita« eingefallen sei. Über Balthus verständigten sich die beiden fast wortlos: Wilders erster Film, »The Major and the Minor« von 1942, zwölf Jahre vor »Lolita«, handelt von einer (scheinbar) Zwölfjährigen, in die sich ein Major verliebt – ein geschickt gegen die Zensur als Komödie maskierter Lolita-Film.“
Kaum auszudenken, was ein Kunstliebhaber wie Wilder heute an Unterstellungen und Verdächtigungen zu gewärtigen hätte. Und Nabokov? Sein berühmter Roman über einen verzweifelt eine Minderjährige liebenden Literaturwissenschaftler wurde zwar nach seinem Erscheinen heftig attackiert, doch ist es überhaupt nicht mehr statthaft, sich über die angeblich so biederen und verklemmten 50er Jahre zu mokieren. Heute werden diese angeblich dunklen Zeiten der Prüderie locker übertroffen.
Ein David Hamilton könnte seine Filme weichgezeichneter Elfen und Nymphchen nicht mehr machen, und jemand wie Balthus säße heute wohl im Gefängnis. Sicher, es wird argumentiert, seine gemalten Bilder hätten eine künstlerische Distanz, die eine Ausstellung gerade noch erlauben würden. Doch die Polaroids von jungen Mädchen, die er offensichtlich als Vorlagen für seine Bilder verwendet hat, seien klar pädophil inspiriert. Was soll man da zu Degas sagen, der seine kleinen Ballettratten fotografierte, bevor er sie in bronzene Posen goß, die jedem Voyeur das Herz aufgehen lassen.
Die Brisanz einer Ausstellung von Jungmädchen-Aufnahmen in einem Museum dürfte heutzutage von einem (jedem jederzeit möglichen) Besuch jeder beliebigen Kinderporno-Webseite weit übertroffen werden. Die Absage der Ausstellung ist so verlogen wie der Protest dagegen. Der russischen Regierung wird in Deutschland vorgeworfen, mit dem Verbot, vor Kindern von Homosexualität positiv zu sprechen, eine absurde Befürchtung vor der Möglichkeit sexueller Beeinflussung von Kindern zu haben. Was ist denn das Verhalten der Diskutanten im Falle der Balthus-Ausstellung anderes? Sie sind keinen Deut besser. Befürchten sie wirklich, dass die latente Pädophilie der Fotos sich auf die Besucher überträgt?
Was hat der Maler getan ausser Fantasien verbildlicht, die ohne Zweifel nicht nur er hat, sondern die menschlich sind, seien sie gut oder schlecht? Kunst muss nicht moralisch sein. Und schliesslich lebt nicht jeder seine Fantasien aus. Balthus, zweimal verheiratet, starb 2001 in einem gesegneten Alter. Selbst wenn er pädophil gewesen wäre, wovon jedoch nicht das Geringste bekannt ist, würde das an der Qualität seiner Kunst nichts ändern, die übrigens keine sexuellen Akte zeigt. Es sind die Betrachter, die pädophile Haltungen und Handlungen in die Bilder hineinlesen.
Es ist das uralte Spiel, wie man Kunst missversteht. Wer den Künstler mit seinem Werk eins zu eins setzt, hat das Wesen der künstlerischen Fantasie nicht verstanden: Wer glaubt, Romanautoren hätten alles erlebt, was sie beschreiben, täuscht sich und wer Regisseure von Gewaltfilmen für gewalttätig hält, irrt sich gewaltig. Die Kunst setzt Gedanken in Gang, und es sind die Leser, Zuschauer, Betrachter, wir alle also, deren Gedanken und Gefühle in Gang gesetzt werden. Der Künstler mag spielen mit unseren Gedanken, aber noch sind es wir, die verantwortlich sind für das, was wir bei der Betrachtung von Fotos denken. Aber auch wenn wir Gewaltfilme mögen, billigen wir noch lange nicht reale Gewalt.
Übrigens: Was heisst schon pädophil? Wie immer sollte auch hier differenziert werden. Jeder Lehrer muss in gewisser (also nicht sexueller) Weise pädophil sein, um seine Arbeit gut ausüben zu können. Es handelt sich geradezu um eine Grundvoraussetzung seiner Tätigkeit. Die Schwierigkeit und Kunst ist dabei, die notwendigen Grenzen einzuhalten. Das gelingt in aller Regel extrem gut. Mögen die modernen Tugendwächter denken, was sie wollen – vor allem sie selbst scheinen ein Riesenproblem mit ihrer Sexualität zu haben.

Über Adorján F. Kovács 37 Artikel
Prof. Dr. mult. Adorján Ferenc Kovács, geboren 1958, hat Medizin, Zahnmedizin und Philosophie in Ulm und Frankfurt am Main studiert. Er hat sich zur regionalen Chemotherapie bei Kopf-Hals-Tumoren für das Fach Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie habilitiert. Seit 2008 ist er für eine Reihe von Zeitschriften publizistisch tätig. Zuletzt erschien das Buch „Deutsche Befindlichkeiten: Eine Umkreisung. Artikel und Essays“.

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