1. Europa verändert sich: Nicht nur das Flüchtlingsthema stellt die EU auf die Zerreißprobe, die solidarische Gemeinschaft innerhalb der Mitgliedsstaaten – gerade beim Thema Flüchtlinge und -verteilung ist derzeit nicht besonders optimal. Verteilungskämpfe belasten die Einheit Europas. Zudem befindet sich der ganze Nahe Osten und Afrika im Umbruch. Was kann Europa machen?
Unser Credo muss sein, die Europäische Union zusammenzuhalten. Die Flüchtlingskrise zeigt doch deutlich, dass wir nur gemeinsam in der EU die Probleme lösen können, was allerdings voraussetzt, dass sich die Mitgliedstaaten an die vereinbarten Spielregeln halten müssen und ihre Zusicherungen auch in die Tat umsetzen. Wir müssen konkret die Außengrenzen sichern, denn nur dann läßt sich kontrollieren, wer in die EU einreist. Wir müssen den mit Dublin III überforderten Staaten wie Italien, Griechenland und Bulgarien unter die Arme greifen, damit wieder registriert wird. Wir müssen die Nachbarregionen um die Krisenherde herum finanziell und personell massiv unterstützen, damit die Menschen in Jordanien, im Libanon und in der Türkei in den Flüchtlingscamps sich nicht auch noch auf den Weg nach Europa machen. Und wir müssen die Fluchtursachen angehen und für eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge und Asylbewerber in der EU sorgen. Dies alles erfordert derzeit enorme Kraftanstrengungen, aber vieles ist angelaufen. Es ist richtig, dass wir die Türkei einbinden und finanziell stark unterstützen, um die griechisch-türkische Außengrenze zu sichern, wobei es bei der Frage des Beitritts der Türkei in die EU keinen Rabatt geben darf. Die Einrichtung der sog. Hotspots in Griechenland, Italien und Bulgarien ist ebenso richtig, um wieder zur Registrierung der ankommenden Flüchtlinge zurückzukehren und in ein geordnetes Verfahren zu kommen. Die Probleme zu lösen ist übrigens auch die einzige Möglichkeit, den Populisten und Radikalen in Europa die Grundlage für ihre Hetze zu entziehen. Was für uns nicht akzeptabel ist, ist ein Europa, in dem die nationalen Egoismen dominieren und jedes europäische Land sich nur das nimmt, was dem eigenen Vorteil dient. So kann Europa nicht funktionieren! Solidarität ist keine Einbahnstraße.
2. Die Kriegsgefahr an den Rändern Europas bedroht auch den Frieden in der EU. Müssen wir mit Putin reden?
Wir müssen mit allen reden, die zur Krisenbewältigung beitragen können: mit der Türkei, Saudi Arabien, Iran, USA und eben auch mit Putin. Die Annexion der Krim durch Russland ist und bleibt völkerrechtswidrig. Auch die Einsätze in Syrien dürfen nur dem Zweck dienen, den IS Terror zu bekämpfen. Aber offensichtlich ist auch,dass wir zur Lösung der aktuellen Konflikte Putin brauchen und deshalb mit ihm reden müssen.
3. Welche ist die dringendste Herausforderung, die im Augenblick auf Ihrer Agenda steht?
Die Flüchtlingskrise ist unsere größte Herausforderung. Es ist eine Herkulesaufgabe, die uns auch in der EU Tag für Tag neu fordert. Denn wir sind in Bayern zwar nicht an der Grenze unseres guten Willens, jedoch an der Grenze der logistischen Machbarkeit angelangt. Dies sagen wir unseren Kollegen nahezu täglich. Viele unserer Kollegen teilen übrigens unsere Auffassung, dass wir den Zustrom begrenzen müssen. Wir erleben den Druck schließlich in Bayern hautnah, wenn jeden Tag tausende Menschen im Tross über unsere bayerischen Grenzen kommen. Und wenn Passau, Rottal am Inn und Freilassing zu Brennpunkten werden, weil in Österreich die Flüchtlinge in Bussen und mit Handzetteln über die Weiterreise nach Deutschland ausgestattet bis einen Kilometer vor die deutsche Grenze gebracht werden, dann bin ich an der Grenze meines Verständnisses. Das ist übrigens alles andere als europäische Solidarität! Österreicher, Franzosen, Dänen, und viele osteuropäische Staaten müssen wir immer wieder wir an ihre eigene Geschichte und an ihre Verantwortung erinnern.
Und noch ein Thema beschäftigt mich mit Blick auf Europa sehr, nämlich das britische Referendum. Premierminister Cameron hat angekündigt, bis spätestens Ende 2017 über den Verbleib von UK in der EU ein Referendum herbeizuführen. Die Stimmung in England, von der meine britischen Kollegen berichten, sieht die EU äußerst kritisch. Hier muß noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden, denn eine Europäische Gemeinschaft ohne UK will ich mir nicht vorstellen.
4. Leitkultur 4.0: Wohin steuert Deutschland?
Ich weiß nicht, was Sie unter Leitkultur 4.0 verstehen.Der Begriff Leitkultur umschreibt generell jedoch aus meiner Sicht sehr genau, was gemeint ist. Die Basis unseres Miteinanders ist unser christlich-abendländisch geprägter Wertekanon. Klar ist: Wer hier lebt, hat sich an unsere Gesetze zu halten. Wer straffällig wird, muss nach unserem Strafrecht bestraft werden und seine Strafe absitzen. Und wenn sein Asylgrund weggefallen ist, muss er auch abgeschoben werden. Klar ist auch: Die Menschen, die bei uns Schutz suchen und langfristig hier bleiben, sind willkommen und müssen wir integrieren. Das setzt aber auch die Bereitschaft voraus, dass sie sich integrieren wollen. Als Grundlage hierfür muss unser Wertekanon gelten. Das Grundgesetz ist nicht verhandelbar. Dazu zählt auch die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Es stellt sich somit nicht die Frage, wer sich an wen anpassen muss. Integration geht über das Erlernen der Sprache, über die Ausbildung und die Arbeit. Damit die Integration bei uns in Bayern gelingt, nimmt der Freistaat Bayern viel Geld in die Hand und hat hierfür ein großes Maßnahmenpaket geschnürt. Denn Bayern muss Bayern bleiben.
5. Wie sieht Europa die Bundesrepublik zwischen Einwanderung, Grenzschließung und der Politik der Offenen Tür von Bundeskanzlerin Angela Merkel?
Offen wagen bei uns im Europäischen Parlament nur wenige, die Politik der Bundeskanzlerin zu kritisieren. Ich höre aber immer wieder den klaren Zuspruch zu unserer CSU-Forderung, die Zuwanderung zu begrenzen. Und natürlich wird auf den Gängen immer wieder geäußert, die Willkommenskultur in Deutschland habe ein falsches Signal ausgesendet. Was uns am meisten bedrückt, ist jedoch die mangelnde Solidarität der Mitgliedstaaten. Es ist doch ein Witz, wenn sich Frankreich bereit erklärt, gerade einmal 1000 weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Die Kommission hat ja gute Vorschläge vorgelegt, wie wir die Probleme gemeinsam angehen. Wir im EP haben diese Vorschläge auch unterstützt, nur in den Hauptstädten fehlt es an gemeinsamer Verantwortung. Ein Kollege aus Malta formulierte neulich zutreffend, in jeder Krise zeige die EU ihr wahres Gesicht.
6. Wie wird Bayerns Politik auf der europäischen Politbühne wahrgenommen. Wie werden die deutlichen Akzente, die aus München kommen zum Thema Flüchtlingspolitik, von den Parlamentariern beurteilt?
Wir erfahren viel Zuspruch zu unserer CSU-Forderung, den Zustrom zu begrenzen. Viele Kollegen sagen mir, wir sind auf der Seite der CSU. Und alle Maßnehmen, die die Kommission unter Jean-Claude Juncker vorschlägt, gehen doch in unsere Richtung. Auch die Kommission will sicherstellen, dass wir wieder geordnete Verfahren bekommen, um diejenigen, die unseren Schutz brauchen und ein Recht auf Asyl haben, aufnehmen zu können, Flüchtlinge ohne Bleiberecht dagegen aber wieder in ihre Herkunftsländer zurückzuführen.
7. Wie geht es weiter mit dem Schengen-Abkommen?
Schengen steht hoffentlich nicht zur Debatte. Die Frage lautet, wie es mit dem Dublin-Abkommen weitergeht. Europa ist sich einig, dass wir den Zustrom begrenzen müssen. Deshalb müssen wir nicht nur darüber diskutieren, wie eine faire Verteilung der Flüchtlinge auf alle EU-Mitgliedstaaten aussieht und welche Aufgabe Europa als Gemeinschaft übernehmen soll, sondern wir müssen Kontingente definieren und die Sicherung der EU-Außengrenzen garantieren, um den Schleppern endlich das Handwerk zu legen. Wir dürfen nicht die Schlepper entscheiden lassen, wer zu uns nach Europa kommen darf. Sichere EU-Außengrenzen sind die Voraussetzung für ein funktionierendes Schengen-Abkommen.
8. Deutschland kann nicht Abermillionen Flüchtlinge aufnehmen? Hat Europa dafür eine Lösung?
Die EU-Kommission hat bereits mehrere Vorschläge auf den Tisch gelegt. Im Europäischen Parlament gibt es dafür breite Unterstützung. Die Schwierigkeiten liegen derzeit bei den Mitgliedstaaten, wie sich beim letzten EU-Gipfel Mitte Oktober gezeigt hat. Wir sind aber auf dem richtigen Weg. Forderungen, die wir als CSU schon lange stellen, sollen umgesetzt werden: Erstens ein stärkerer Schutz der EU-Außengrenzen, zweitens die Einstufung aller EU-Beitrittsländer als sichere Herkunftsstaaten, drittens eine schnellere Abschiebepraxis mithilfe neuer Rückführungsabkommen, viertens große Anstrengungen zur Stabilisierung der Krisenregionen im Nahen Osten und Afrika und schließlich fünftens eine permanente Quote für eine faire Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Mitgliedstaaten mit eventuell fest definierten Gesamtkontingenten in Europa. Die Flüchtlingskrise zeigt uns, wie sehr wir Europa brauchen, denn ein Verlangsamen des Zustroms von Menschen, die zu uns kommen wollen, lässt sich nur gesamteuropäisch bewältigen.
9. Wie sieht Ihr politischer Alltag ganz konkret aus, für viele Bundesbürger ist die EU weit weg, manchmal kursieren verschrobene Vorstellungen von der Arbeit im EU-Parlament?
Zunächst unterscheidet sich die Parlamentsarbeit im Europaparlament darin, dass wir jede Woche Sitzungswoche haben. In einem Monat bin ich somit drei Wochen in Brüssel und eine Woche in Straßburg. Der Parlamentsbetrieb pro Woche ist jedoch kürzer – nämlich maximal vier Tage lang. Der Freitag ist quasi immer reserviert für den Wahlkreis, der reicht bei mir von Freilassing bis Eichstätt. Häufig gibt es darüber hinaus aber auch zahlreiche Termine am Wochenende, die ich wahrzunehmen habe. Identisch zu den anderen Parlamenten ist, dass die Tage im Europaparlament sehr lang sind. Sie beginnen in der Regel um 8 Uhr mit einem Arbeitsfrühstück und enden spät am Abend. Dazwischen liegen zahllose Sitzungen, Termine, Treffen und Telefonate, bei denen viel diskutiert wird. Das Aktenstudium findet dann oft erst spät abends statt.
10. Was machen Sie, Frau Dr. Niebler, in Ihrer begrenzen Freizeit, wie schaffen Sie Ihre Work Life Balance?
Das ist eine gute Frage. (lacht) Eine wirkliche Balance zwischen Arbeit und Privatleben zu finden, ist als Berufspolitiker – wie auch in einer Vielzahl anderer Berufe – immer ein Drahtseilakt. Klar ist, für mich geht die Familie über alles. Jede freie Minute ist für meine Kinder und meinen Mann reserviert. Und auch die Urlaubstage sind uns heilig, da gibt es keine politischen Termine, kein regelmäßiges permanentes Checken der Mails oder Telefonieren. Letztlich habe ich mit meiner Familie einen guten Sensor, um zu wissen, wann die Balance nicht mehr stimmt. Über die Jahre entwickelt wohl jeder so sein System, zwischen Terminen, Verpflichtungen und Entspannung zu jonglieren. Die Zeit hat mir aber gezeigt, ohne Leidenschaft geht es nicht. Sie treibt einen immer wieder zu neuen Höchstformen an, ansonsten wäre man schnell mit seinen Kräften am Ende.
Fragen Stefan Groß
Das Interview finden Sie im Bayernkurier Heft 6
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